Hamburg. Tim Rehberg ist hochbegabt – und Autist. Die Schule musste er abbrechen, das Studium auch. Heute arbeitet er als IT-Berater.
Bitte nicht die Hand geben. Er mag das nicht, gar keinen Berührungen. Auch keinen langen Augenkontakt, das macht ihn nervös. Und wenn er nervös ist, kann er nicht mehr arbeiten. Manchmal reicht schon ein flackerndes Licht über dem Arbeitsplatz, ein aufdringlicher Geruch oder ein lautes Geräusch von der Straße, um ihn aus dem Konzept zu bringen. Deswegen trägt er bei der Arbeit meist einen Kopfhörer. Das sind die Regeln. Wer mit Tim Rehberg (32) arbeiten will, muss sie befolgen. Sonst funktioniert es nicht. Sonst funktioniert er nicht. Tim Rehberg ist Autist.
Er hat eine „angeborene, tiefgreifende Entwicklungsstörung“. Laut Definition. Tim Rehberg selbst sagt, dass er einfach anders ist. Nicht krank oder gestört, wie es oft heißt. Sondern anders. Speziell. Besonders. Zumindest in den Augen der meisten Menschen, der Gesellschaft. Er selbst findet das nicht. „Normal ist doch nur ein gesellschaftliches Konstrukt – wenn man mal ein bisschen an der Fassade kratzt, ist jeder irgendwie ungewöhnlich – und anders“, sagt Tim Rehberg. Er trägt T-Shirt, Hose und Piratenkopftuch, alles schwarz. Das Kopftuch ist sein Markenzeichen, er trägt es immer, fällt auf damit. Doch das stört ihn nicht.
Er ist es gewohnt, aufzufallen. Anders zu sein. „Autismus ist kein Systemfehler, sondern ein anderes Betriebssystem.“ So steht es auf einem Plakat, das bei seinem Arbeitgeber Auticon im Eingang hängt. Groß und unübersehbar. Es ist mehr als eine Firmenphilosophie, mehr als eine Verkaufsfloskel. Es ist Überzeugung. Denn Auticon wurde von einem Mann gegründet, dessen Sohn selbst das Asperger-Syndrom hat, eine Variante des Autismus. Als sich Dirk Müller-Remus (62) vor zehn Jahren mit der Diagnose und deren Folgen beschäftigte und eine Selbsthilfegruppe besuchte, war er geschockt über die schlechten Berufsaussichten der Betroffenen. Menschen im besten Alter, hoch qualifiziert, mit Uni-Abschlüssen oder sogar Doktor-Titeln – die fast alle von Sozialhilfe lebten. Abgeschrieben von der Arbeitswelt und der Gesellschaft, gestrandet in der Ausweglosigkeit.
Autisten müssen Fehler nicht suchen
In Deutschland leben etwa 500.000 diagnostizierte Autisten. Laut Statistik sind mehr als 80 Prozent aller Autisten arbeitslos. Müller-Remus, der selbst Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Wirtschaftsinformatik studiert hatte, wollte und konnte diese Zahl nicht akzeptieren. Nicht begreifen, dass Menschen mit Autismus immer nur auf ihre Schwächen reduziert werden und niemand die herausragenden Fähigkeiten sieht wie das ausgeprägte logische Denkvermögen, die überdurchschnittliche Konzentrationsfähigkeit, Detailgenauigkeit. Autisten müssen einen Fehler nicht suchen, sie finden ihn, sagt man.
Aus diesem Grund entschloss sich Müller-Remus zur Gründung einer Firma für Autisten mit besonderen Fähigkeiten. Nicht als klassisches Sozialunternehmen. Sondern als kommerzielles Unternehmen, das auf dem freien Markt und im Wettbewerb bestehen kann. Nicht durch Begünstigungen, sondern durch sehr gute Arbeit. Acht Jahre ist das her. Heute gehört jedes dritte DAX-Unternehmen zu den Kunden des IT-Beratungsunternehmens. Heute ist Auticon der weltweit größte Arbeitgeber für Autisten. Tim Rehberg ist einer von ihnen. Und doch einer wie kein anderer.
Denn jeder Autist ist verschieden. Experten sprechen daher auch von einem Autismus-Spektrum. Heike Gramkow spricht von Einzigartigkeit. Sie ist die Leiterin von Auticon Nord, Chefin von 50 Mitarbeitern in Hamburg, Berlin, Bremen und Braunschweig. 42 davon sind Autisten. Letzte Woche hat sie drei neue eingestellt, jeden Tag bekommt sie fast zehn Bewerbungen. Mit Lebenslauf, Zeugnissen und Autismus-Diagnose. Das ist eine der Voraussetzungen: Dass der Autismus medizinisch diagnostiziert wurde. Wie eine Krankheit.
Nach acht Wochen 1,5 Millionen Euro eingespart
Auch wenn bei Auticon niemand von Krankheit oder Störung spricht. „Ich habe für mich entschieden, dass das nicht wichtig ist“, sagt Tim Rehberg. „Die Diagnose ändert nichts an dem Menschen, an mir.“ Tim Rehberg sitzt im Muggelraum von Auticon. Er wird so genannt, weil es hier muggelig sein soll, gemütlich. Dunkelgraue Auslegeware, gedämmtes Licht, Sitzsäcke mit grauem Stoffbezug. Hierhin ziehen sich die Mitarbeiter zurück, wenn ihnen alles zu viel ist, sie eine Auszeit brauchen.
Tim Rehberg war lange nicht hier. Er arbeitet gerade bei einer externen Firma, die ihn von Auticon angefordert hat. Die IT-Berater von Auticon entwickeln und überprüfen Computerprogramme, suchen Fehler in Systemen, erstellen Analysen oder checken bestehende Verträge. Neulich hatten sie diesen Fall, da hat ein Mitarbeiter von Auticon alle laufenden Verträge eines Unternehmens überprüft – und am Ende von acht Wochen 1,5 Millionen Euro eingespart.
Tim Rehberg ist seit Februar bei einem Kunden im Einsatz. Insgesamt zwei Jahre wird er dort bleiben. Die Mindestdauer für ein Projekt außer Haus sind drei Monate. Die meisten dauern zwölf Monate und länger. Autisten sind Gewohnheitsmenschen. Tim Rehberg hat sich auf die neue Umgebung eingestellt, seinen neuen Arbeitsplatz, den neuen Arbeitsweg. Mit der U-Bahn. Beim letzten Mal hat er bei einer Firma in der Nähe seiner Wohnung gearbeitet, in Fuhlsbüttel, da konnte er zu Fuß hingehen. „Das war besser“, sagt er und meint. Schneller. Einfacher. Angenehmer.
U-Bahn-Fahren ist eine Herausforderung
U-Bahn-Fahren ist eine Herausforderung. Es gibt Autisten, die das gar nicht können. Die die Reizüberflutung von Stimmen, Gerüchen und Farben nicht verarbeiten können. Tim Rehberg kann das. Sogar alleine. Das hat er gelernt. Darauf ist er stolz. Irgendwann vor ein paar Jahren, als er einen neuen Schwerbehindertenausweis bekommen hat, wurde er gefragt, ob er alleine Bus und Bahn fahren kann. Er wusste, was die Frage bedeutet. Was die Antwort bedeutet. Dass der Grad der Behinderung dann herabgesetzt wird. Dass er weniger Vergünstigungen erhält. Er hat es trotzdem gemacht, ehrlich geantwortet. Mit Ja. Ja, er kann alleine Bus und Bahn fahren.
15 Minuten hat die Befragung gedauert. Dann wurde sein GdB, sein Grad der Behinderung, auf 50 Prozent gestuft. Früher waren es mal 80 Prozent. Früher. Damit meint er, als das Asperger-Syndrom bei ihm diagnostiziert wurde. Er spricht meist von Asperger, selten von Autismus. Es ist eine leichtere Form. Manchmal denken die Leute, dass er normal ist. Wenn sie nur kurz mit ihm sprechen, ihn in seinem normalen Umfeld erleben. Wenn es ihm gut geht. Er hört das gerne. Heike Gramkow nicht. Sie alarmiert das, diese Fehleinschätzung, die zu Sorglosigkeit, zu Leichtsinnigkeit führt. „Dann passiert es, dass die Leute die Regeln vergessen...“, sagt Heike Gramkow. Dann senden sie non-verbale Signale, machen Witze oder klopfen ihm freundschaftlich auf die Schulter. Es sind Signale, die Tim Rehberg nicht deuten kann. Witze, die er nicht versteht. Berührungen, die ihm unangenehm sind, stören. Es sind Dinge, die ihn krank machen können.
In der Schule hat er zum ersten Mal das Gefühl, anders zu sein
Heike Gramkow kennt das. Sie kennt Kollegen, die nicht mehr arbeiten konnten, weil sie morgens einen anderen Schreibtischstuhl hatten als am Abend zuvor. Als Auticon im vergangenen Jahr umgezogen ist, musste man Räume in unmittelbarer Nähe des alten Gebäudes finden. In der alten Umgebung, bei der alten U-Bahn-Station. Alles andere hätte die meisten Mitarbeiter überfordert. Tim Rehberg ist es gewohnt, umzuziehen. Sich umzustellen. Auf neue Städte, Wohnungen, Häuser, Nachbarn, Schulen. Immer wieder neue Schulen.
Schon als Kind gilt er als hochbegabt und überspringt eine Klasse. Selbst die Lehrer korrigiert er. Es ist das erste Mal in seinem Leben, dass er das Gefühl hat, anders zu sein. So anders, dass es immer wieder Übergriffe gibt. Ein paar Mal wird er auf dem Schulhof niedergeschlagen, verliert das Bewusstsein und kommt irgendwann später blutverschmiert in einem Blumenbeet oder einer Ecke des Schulhofs wieder zu sich. Heute wundert er sich immer noch, wie ein Psychologe schließlich auf die Diagnose Asperger kommt. Einfach so, nach einem 30-minütigen Gespräch mit ihm, mehr nicht. Ohne einen richtigen Test, ohne ihm Fragen zu stellen. Sondern nach einem Streitgespräch über die Frage, ob Licht intelligent ist. Ob sich Licht nach physikalischen Regeln richtet oder selbst entscheidet, was es macht. Tim Rehberg ist damals neun Jahre alt.
Wenn andere Kinder zusammen spielten, spielte er nicht mit, sondern beobachtete sie. Ihre Reaktionen, ihre Interaktion. So lernte er, Gesichtsausdrücke zu deuten und Emotionen zu erkennen. „Meine Intelligenz hat mir geholfen, vieles zu kompensieren“, sagt Tim Rehberg. Sein IQ, sein Intelligenz Quotient, ist schon ein paar Mal getestet worden. Das Ergebnis variiert zwischen 130 und 150. Albert Einstein soll 150 gehabt haben. Ab 130 gilt man als hochbegabt. Auch wenn Tim Rehberg sich selbst nicht so sieht, sich selbst nicht so bezeichnen würde.
Heike Gramkow kennt das. Sie weiß, dass Autisten lieber nichts zu ihren Fähigkeiten sagen, weil sie nicht abwägen können, ob sie alles bei der Einschätzung bedacht haben. Das war bei Tim Rehberg auch so, vor fünf Jahren, als er sich bei Auticon beworben hat. Heute ist er der Beste im Team, ein Alleskönner. Experte für Programmiersprachen. Kann er etwas nicht, arbeitet er sich innerhalb kürzester Zeit ein. In der Schule ist er nicht klar gekommen, bei Auticon schon.
Irgendwann möchte er Kinder haben
Nach der 11. Klasse ist er abgegangen und hat eine Ausbildung zum Fachinformatiker für Anwendungsentwicklung gemacht, danach studiert. Nach zwei Jahren hat er das Studium abgebrochen, keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Bis er von Auticon las. Manchmal hat er das Gefühl, dass der Job eine Entschädigung für die Schulzeit ist. Für die Tortur, die er durchmachen musste. Für das Trauma. Das Wort benutzt er immer wieder. Er kommt gut klar im Moment. Seit ein paar Jahren hat er eine Freundin. Sie ist „neurotypisch“, sagt er und meint: nicht autistisch. Von normal spricht er nicht.
Es gibt Tage, da findet er, dass sie sich ziemlich ähnlich sind. Dass sie viele Macken hat, die man von ihm erwarten würde. Dann fragt er sich, ob sie vielleicht auch autistisch ist – oder er womöglich doch nicht. Aber eigentlich spielt das keine Rolle. Irgendwann in ein paar Jahren würde er gerne Kinder haben. Es heißt, dass erbliche Faktoren als eine der Hauptursachen für Autismus gelten. Die Zeit drängt, Tim Rehberg hat gleich einen Termin, Punkt halb sechs. Er kommt nie zu spät, muss los. Er steht auf, zögert kurz. Dann streckt er die Hand aus, verabschiedet sich. Manchmal kann er das.
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