Hamburg. Überall fehlen Fachkräfte, aber in Hamburg gibt es 87.000 Arbeitslose. Warum? Abendblatt-Report: Aus dem Leben eines Arbeitsvermittlers.
Donnerstag, 7.43 Uhr, vor der Arbeitsagentur in Hamburg-Bergedorfhat sich bereits eine Schlange gebildet: Zwei Männer in Arbeitshosen führen sie an, sie unterhalten sich in einer Sprache, die nicht Deutsch ist. Ein anderer Mann, etwa um die 30, steht hinter ihnen, gekleidet in einen eleganten, dunklen Mantel. Seine Haare sind ordentlich zurückgekämmt, in der Hand hält er einen vollen Aktenordner. Weiter hinten in der Schlange wartet eine Frau mittleren Alters. Müde sieht sie aus – und scheint ihre erwachsene Tochter zu begleiten. Um Punkt 7.45 Uhr macht der Pförtner auf.
Arbeitsagentur Hamburg: „Wir sind nicht dafür da, Menschen ihren Traumjob anzubieten“
Zwei Türen weiter sitzt Ralf Herrmann seit sechs Uhr früh in seinem Büro. Der 58-Jährige ist Arbeitsvermittler: Er will für die Menschen, die morgens vor der Agentur für Arbeit Schlange stehen und täglich im Wartebereich der Eingangshalle Platz nehmen, die passende Arbeit finden. Zuletzt waren laut der Agentur 6329 Menschen in Bergedorf arbeitslos gemeldet. Das sind 8,6 Prozent der Einwohner des Hamburger Bezirks. Die Arbeitslosenquote in gesamt Hamburg fällt mit acht Prozent etwas niedriger aus: Im März 2024 waren 87.356 Menschen in der Hansestadt ohne Job.
Herrmanns erster Kunde an diesem Tag ist nicht erschienen. „Kunde“, so nennt die Arbeitsagentur die Menschen, die zu ihr kommen. Der zweite Kunde sitzt dafür überpünktlich auf einem Stuhl im Gang. „Guten Morgen, Herr Kubinski*“, sagt Ralf Herrmann, lächelt freundlich und streckt ihm seine Faust zum Gruß entgegen. Ein Relikt aus der Corona-Zeit, das lässig, fast kumpelhaft wirkt.
Der Vorzeige-Kunde: Nach zwei Wochen Arbeitslosigkeit im neuen Job
Aleksander Kubinski ist so etwas wie ein Vorzeige-Fall: Zwei Wochen war der gelernte Lagerist arbeitslos, Anfang März hat er dann einen Teilzeitjob bei einer Autovermietung angenommen. Mit der Überführung von Neuwagen will sich der 23-Jährige künftig selbstständig machen. Er trägt eine schwarze Daunenjacke und helle Jeans, die Füße stecken in schwarz-weißen Sneakern und wippen regelmäßig hin und her – als könnte er es kaum abwarten, endlich loszulegen. Er habe schon einen Business-Plan geschrieben und schaue nach Coaching-Programmen für Selbstständige.
„Ich finde es toll, dass Sie einen Plan für sich haben“, sagt der Arbeitsvermittler und lächelt. Ralf Herrmann ist ein Mensch, der mit den Augen lächeln kann. Einer, dem man abkauft, dass er sich wirklich für andere mitfreut. Viel Arbeit hat der Arbeitsvermittler nicht mit Herrn Kubinski. „Ich mache dann einmal die Abmeldung aus der Arbeitslosigkeit für Sie online fertig, das hatten Sie noch nicht gemacht.“
Arbeitsvermittler sollen Hamburger Kunden nicht nur vermitteln, sondern auch beraten
Seit fast zehn Jahren ist Ralf Herrmann Arbeitsvermittler bei der Bundesagentur für Arbeit. Er ist Quereinsteiger, hat Germanistik und Philosophie studiert und anschließend in verschiedenen Projekten der Handelskammer gearbeitet, meist mit dem Schwerpunkt auf Arbeitsmarkt und Migration. Seine Aufgabe ist es, Arbeitslosen und Arbeitsuchenden Jobs zu vermitteln und sie zu beraten.
Herrmann trägt einen fliederfarbenen Pullover, hellblaue Jeans und beige Halbschuhe in Wildleder-Optik. Wenn er mit seinen Kundinnen und Kunden spricht, beugt er sich auf seinem Tisch etwas vor. Und auch sprachlich ist er wertschätzend und zugewandt: „Wie kann ich Sie unterstützen?“, ist die erste Frage, die Herrmann so oder so ähnlich seinen Kundinnen und Kunden stellt.
Arbeitsamt Hamburg: Arbeitsuchend ist nicht gleich arbeitslos
Friederike Henke* antwortet, sie sei in den letzten Zügen ihrer Doktorarbeit. Bis Ende Juni hat sie einen Job als wissenschaftliche Mitarbeiterin, dann läuft ihr Vertrag aus. Sie hat sich deshalb arbeitsuchend gemeldet. Einen Einstieg in die Biotech-Branche außerhalb der Wissenschaft kann sie sich gut vorstellen.
Herrmann klärt Henke über Fristen auf: Sie hat sich fristgerecht drei Monate vor Auslauf des Arbeitsvertrags Ende Juni arbeitsuchend gemeldet. Wichtig ist aber auch, dass sie sich rechtzeitig zum 1. Juli arbeitslos meldet, um nahtlos Arbeitslosengeld zu bekommen. „Ich vermute, dass wir Ihnen fachlich nicht viel weiterhelfen können“, sagt Herrmann. Ein Bewerbungscoaching und ein Kurs in Datenanalyse oder Projektmanagement könnten interessant für sie sein, sollte sie arbeitslos werden. Aber Herrmann hält Henke für eine unproblematische Kundin. „Wahrscheinlich wird sie gar nicht arbeitslos, sondern findet schnell einen Job“, sagt er nach dem Termin.
Es gibt „marktnahe“ und „nicht-marktnahe“ Kunden
Nicht immer ist es für Herrmann so leicht wie in diesem Fall. Es gebe „marktnahe“ und „nicht-marktnahe“ Kunden: Manche Menschen lassen sich leichter auf dem Arbeitsmarkt vermitteln als andere. Dazu zählen meist Menschen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung oder einem Studium wie Kubinski und Henke. Anders sieht es bei Kundinnen und Kunden aus, die kaum Schulbildung oder keine Ausbildungsabschlüsse haben.
„Als Ungelernter ist man der Erste, der in einem Unternehmen gehen muss“, sagt Herrmann. Diese Menschen hangeln sich von Helferjob zu Helferjob – und melden sich immer wieder bei dem Arbeitsvermittler, sobald ihnen gekündigt wird.
Ungelernten Jobs zu vermitteln ist eine Herausforderung
Der nächste Kunde ist so ein Fall: Marko Behrens* ist 30 Jahre alt, hat keinen Schulabschluss und zuletzt mehrere Jahre als Lagerhelfer in einer großen Supermarktkette gearbeitet. Seit Oktober 2023 ist er wieder arbeitslos, nicht zum ersten Mal.
Um Lebensläufe wie diese zu vermeiden, zahlt die Arbeitsagentur zum Teil auch Fort- und Weiterbildungen – oder Einzelmaßnahmen, die Kundinnen und Kunden für Arbeitgeber attraktiver machen sollen. Mit einem Gabelstaplerschein ist man als Ungelernter in der Lagerlogistik etwa besser aufgestellt als ohne.
Wann die Arbeitsagentur Weiterbildungen zahlt – und wann nicht
Wer keine Ausbildung hat, kann sich bei der Arbeitsagentur auch um sogenannte „berufsanschlussfähige Teilqualifikationen“ bemühen: Das sind einzelne Weiterbildungsbausteine, die unter Umständen als beruflicher Abschluss anerkannt werden können.
Die Arbeitsagentur übernimmt die Kosten für Leistungen wie diese, wenn mehrere Voraussetzungen erfüllt sind: Erstens müssen sie nachweislich notwendig sein. „Wir sind nicht in erster Linie dafür da, Menschen ihren Traumjob anzubieten“, sagt Herrmann. Man orientiere sich da immer am realen Arbeitsmarkt. Im Idealfall decken sich Traumjob und Jobbedarfe natürlich. Aber das ist nicht immer so. „Als Erzieherin werden sie händeringend gesucht“, sagt Herrmann. Dass diese eine Umschulung bezahlt bekommt, ist nur selten notwendig.
Maßnahmen wie Fort- oder Weiterbildungen sollen zweitens die Chance erhöhen, dass Kundinnen und Kunden dem Arbeitsmarkt „nachhaltig“ zur Verfügung stehen. Diese Nachhaltigkeit bei der Berufsplanung betont Herrmann immer wieder: „Wir wollen den Menschen nicht möglichst schnell den nächsten Hilfsjob vermitteln, sondern ihnen eine langfristige berufliche Perspektive ermöglichen.“
Arbeitsagentur Hamburg: Wie motiviert Kunden sind, ist entscheidend
Bildung sei der Schlüssel dafür – und Qualifikationen, die den gesuchten Jobprofilen entsprechen. „Wichtig ist aber auch die Motivation des Kunden oder der Kundin, solche Maßnahmen erfolgreich abzuschließen“, sagt Herrmann.
Marko Behrens erscheint nicht zu seinem Termin. Herrmann ruft an und spricht ihm auf die Mailbox: Innerhalb eines Werktags soll er sich zurückmelden. Gibt es einen wichtigen Grund für sein Fernbleiben – Krankheit oder ein Bewerbungsgespräch etwa –, machen sie einen neuen Termin aus. Liegt kein Grund vor, wird eine Sperrzeit geprüft. Dann würde für eine Woche lang auch kein Arbeitslosengeld fließen. „Das kommt aber sehr, sehr selten vor“, sagt Herrmann.
Arbeitsvermittler war selbst arbeitslos: „Das ist nicht leicht“
Denn den Mythos der unzuverlässigen oder faulen Arbeitslosen findet der Arbeitsvermittler unhaltbar. „Ich habe hier selten Menschen, die nicht arbeiten wollen“, sagt der 58-Jährige. Herrmann war selbst einmal für ein halbes Jahr arbeitslos und erinnert sich noch gut an das Gefühl, zur Arbeitsagentur zu gehen. „Für viele ist das mit Angst oder Scham verbunden“, sagt Herrmann. „Es kann unangenehm sein, sich wie ein Bittsteller zu fühlen.“ Solche Gefühle will Herrmann bei seinen Kundinnen und Kunden unbedingt vermeiden.
Zuletzt seien sein Kollegium und er vermehrt für psychische Erkrankungen sensibilisiert worden, die sich auch auf Schul- und Ausbildung sowie den Karriereweg auswirken können. „Danach habe ich eine Kundin mit einem klassischen ADHS-Lebenslauf vorsichtig gefragt, ob sie schon einmal eine Diagnostik in Betracht gezogen hat“, sagt Herrmann.
„ADHS-Lebenslauf“, damit meint der Arbeitsvermittler: Lücken in der Biografie, abgebrochene Ausbildungen oder Studiengänge und viele kurzfristige Jobs. „Die Kundin war erleichtert und berichtete, dass sie tatsächlich deshalb schon einen Termin bei einem Facharzt hatte.“
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Nicht nur psychische Erkrankungen oder mangelnde berufliche Qualifikationen können die Arbeitsvermittlung erschweren, sondern auch nicht-anerkannte Abschlüsse aus dem Ausland oder unzureichende Sprachkenntnisse. Dann hat die Vermittlung in Sprachkurse oberste Priorität.
Mangelnde Bildung, psychische Erkrankungen und Sprachprobleme erschweren Arbeitsvermittlung
Auch Danso Asamoah* – der letzte Kunde für heute – spricht nicht ganz flüssig Deutsch. Seit 2004 wohnt der Ghanaer in Deutschland, hat unter anderem als Küchenhelfer und im Lager gearbeitet. Den letzten Job hat er verloren, ist seit Ende 2023 arbeitslos gemeldet. Herrmann hat ihm eine sechsmonatige Umschulung zum Berufskraftfahrer bewilligt, mit einem integrierten Sprachkurs.
Bereits am nächsten Werktag startet der Kurs, heute muss Asamoah die letzten Unterlagen abholen. Er freue sich, dass es endlich losgehe, sagt er. Aber eigentlich hat das schon das unaufhörliche strahlende Grinsen in seinem Gesicht verraten. Es sind Momente wie diese, die Ralf Herrmann überzeugen: „Ich kann den Menschen mit meinem Job wirklich helfen.“
*Die Namen der Kundinnen und Kunden wurden geändert.