Hamburg. Die Vorzeige-Start-ups schaffen den Sprung ins Plenum nicht. Wer nun ins Parlament einzieht und warum ein früherer Rebell Kritik übt.
Sie sind der Traum eines jeden Investors: die innovativen Hamburger Vorzeige-Start-ups 1komma5° und Traceless überstehen mühelos Finanzierungsrunden und überzeugen wegen ihrer auf die Zukunft ausgerichteten Geschäftsmodelle. Den Sprung ins Plenum der Hamburger Handelskammer haben sie aber verpasst.
Anne Lamp, Gründerin des Unternehmens Traceless, das Materialien aus Bioabfall als Plastikersatz herstellt, und Micha Grüber, einer der Gründer des schnell wachsenden Energie-Unternehmens 1komma5°, hatten sich um einen Sitz im Kammerparlament beworben. Doch nach der Auszählung der Stimmen stellt sich jetzt heraus: Beide scheiterten knapp in ihrer Wahlgruppe Industrie, Energie, Umwelt. Anstelle von Lamp wurden sogar zwei ehemalige Kammerrebellen ins Plenum gewählt.
Hamburger Wirtschaft: Traceless und 1komma5° scheitern bei Wahl zur Handelskammer
Es ist nicht die einzige Überraschung, die die diesjährigen Kammerwahlen bereithalten: Die Stimmauszählung ergab auch, dass Roland Harings dem neuen Plenum der Hamburger Wirtschaftsvertretung angehören wird. Dabei hat der Aufsichtsrat des Kupferkonzerns Aurubis gerade erst beschlossen, dass der Vorstandsvorsitzende und zwei weitere Vorstände ihre Posten vorzeitig zur Verfügung stellen müssen. Vor allem wegen lange Zeit unentdeckten Diebstählen von Edelmetallen im großen Stil ist für Harings Ende September 2024 Schluss bei Aurubis.
Harings nimmt sein Mandat in der Wirtschaftsvertretung am Adolphsplatz an, ließ er dem Abendblatt am Dienstag ausrichten. Eigentlich müsste er mit seinem Ausscheiden bei Aurubis im Herbst auch seinen Posten in der Handelskammer räumen, es sei denn, der Manager mit Schweizer Wurzeln gründet in der Zwischenzeit ein eigenes Unternehmen in der Hansestadt oder tritt als vertretungsberechtigter Manager in eine andere Hamburger Firma ein.
St. Pauli-Präsident Göttlich zieht in Handelskammer ein
Erstmals dabei ist auch der Präsident des FC St. Pauli, Oke Göttlich – nicht in seiner Eigenschaft als Fußballmanager, sondern weil er auch Prokurist der Musikagentur und des Platten-Labels Neubau Music Recordings GmbH ist. „Ich halte es grundsätzlich und gerade auch in diesen Zeiten für wichtig, dass man sich ehrenamtlich in demokratischen Gremien engagiert“, hatte Göttlich dem Abendblatt im Vorfeld seiner Kandidatur gesagt.
Göttlich ersetzt auch einen anderen ehemaligen St. Pauli-Vertreter: Ex-Trainer Holger Stanislawski, der inzwischen Geschäftsführer eines Rewe-Supermarktes ist und nach vier Jahren Kammerzugehörigkeit nicht noch einmal fürs Plenum der Handelskammer kandidiert hat.
Handelskammer-Präses Norbert Aust wird wiedergewählt
Wenn sich das neue Plenum Anfang April konstituiert, werden eine ganze Reihe neue Gesichter dabei sein: Carolin Stüdemann von Viva con Agua de Sankt Pauli e. V. hat die Wahl ebenso gewonnen wie der Gründer von Fritz-Kola, Mirco Wolf Wiegert, Stephan Schnabel, Chef der Helm AG, und der Betriebsvorstand der HHLA, Jens Hansen.
Wiedergewählt wurden Handelskammer-Präses Norbert Aust, seine Stellvertreterin, die Unternehmensberaterin Astrid Nissen-Schmidt, und die Präsidiumsmitglieder Martina Warning (Inhaberin einer Werbeagentur) und der Vorstand der Sparda-Bank Niels-Helge Pirck.
Anders als beim letzten Mal: Kein Hackerangriff stört die Wahl
Insgesamt standen 116 Kandidatinnen und Kandidaten für die 58 Sitze des Plenums zur Wahl. Anders als bei den Kammerwahlen 2020 gab es auch keine Auseinandersetzung um die Bewerberlisten und keinen Hackerangriff. „Es ist alles glatt abgelaufen“, sagte Wahlleiter Willem van der Schalk. Er wünschte gutes Gelingen bei der verantwortungsvollen Aufgabe, das Gesamtinteresse der Hamburger Wirtschaft zu vertreten „Die Vertreterinnen und Vertreter aus zahlreichen Branchen sowie größeren wie kleineren Unternehmen bringen dafür sehr gute Voraussetzungen mit – und sie gewährleisten die Spiegelbildlichkeit des Plenums zur Hamburger Wirtschaft.“
Auch ihn habe überrascht, dass bekannte Hamburger Newcomer wie Traceless ud 1komma5° keine Vertreter ins Plenum entsenden können, sagte van der Schalk. Es sei aber ohnehin nicht möglich, die Ergebnisse von Kammerwahlen vorherzusehen. Insgesamt sei das Engagement für die Handelskammer aber erfreulicherweise wieder gewachsen.
Hälfte des Plenums ausgewechselt
Kammer-Präses Norbert Aust, der sich zur Wiederwahl für den Spitzenposten stellen will, ergänzte: „Es würde mich sehr freuen, wenn diese Newcomer sich dennoch in der Handelskammer engagieren. Es gibt ja nicht nur das Plenum. Man kann ja auch in Ausschüssen mitwirken.“ Im Übrigen würden im Mai oder im Juni noch weitere Hamburger Unternehmer zum Plenum per Kooptation hinzugewählt. Bis zu neun Stellen könnten dann noch zusätzlich besetzt werden, um die Spiegelbildlichkeit der Kammer zur Hamburger Wirtschaft zu verdeutlichen. Doch noch Chancen für Traceless und 1komma5°? „Das entscheidet das Plenum“, sagte Aust.
Ziemlich genau die Hälfte (51,72 Prozent) der Sitze im neuen Kammerparlament wird von neuen Mitgliedern eingenommen. „Ich glaube, wir haben eine gute Mischung aus bisherigen und neuen Mitgliedern, die sicher hervorragende Arbeit leisten werden“, sagte Aust. Im Gespräch mit dem Abendblatt verwies er auf die Verdienste, des alten Plenums. „Man musste die Institution nach der Periode der Kammerrebellen wieder aufrichten.“ Zudem seien die Zeiten sehr turbulent gewesen. „Wir mussten Antworten auf die Corona-Pandemie finden, den Ukraine-Krieg und zuletzt die Krise im Nahen Osten. Ich finde, das ist dem Plenum sehr gut gelungen.“
Kritik an geringer Wahlbeteiligung
Negativ hat sich allerdings die Wahlbeteiligung bemerkbar gemacht: Diese hat sich gegenüber den Kammerwahlen vor vier Jahren noch einmal fast halbiert. 6,4 Prozent der rund 180,000 wahlberechtigten Hamburger Unternehmer hätten mitgemacht, teilte die Kammer mit. Damals lag die Wahlbeteiligung bei 11,1 Prozent.
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Ein Umstand, der den ehemaligen Kammerrebellen und früheren Vizepräses der Handelskammer, Torsten Teichert, zu einer kritischen Bemerkung veranlasst: „Über 93 Prozent, das sind 168.000 stimmberechtigte Unternehmen, war die Abstimmung zum Plenum vollkommen egal. Wer bei einem solchen Desinteresse der allermeisten noch von einer repräsentativen Vertretung sprechen mag, dem sind die eigenen Pressemitteilungen zu Kopf gestiegen. Ruhe sanft, liebe Handelskammer.“ Teichert hatte sich nicht noch einmal zur Wahl gestellt.