Hamburg. Das Abendblatt hat eine Dienstgruppe der Polizei ein Jahr lang begleitet. Zum Auftakt geht es um einen besonders belastenden Einsatz.
Was macht der Job eines Polizisten oder einer Polizistin mit dem Menschen in Uniform? Wie gehen sie um mit dem Leid, das sie in belastenden Einsätzen erleben? Wie dem Einsatz in der Friedrichshainstraße, wo ein Mann im Dezember 2022 seine Freundin im Drogenwahn ersticht – bei der eigenen Verlobungsfeier.
Ein gutes Jahr lang hat das Abendblatt eine Polizeieinheit begleitet – und zwar die Dienstgruppe A am Polizeikommissariat 38 (PK38) in Rahlstedt, Hamburgs nach Einwohnern größtem Stadtteil. Auf die Nachnamen der Polizisten und Polizistinnen verzichten wir hier. Teil 1.
Polizeiserie Hamburg-Rahlstedt: Kokain bei der Verlobungsfeier
Filip M. könnte ein Fall für medizinische Lehrbücher sein. An ihm lässt sich exemplarisch erzählen, was regelmäßiger Drogenkonsum schon als Heranwachsender anrichtet. Körperlich wie seelisch. Filip M., der eigentlich anders heißt, ist ein kranker Mann mit einer schweren psychischen Störung – vermutlich ausgelöst durch frühen und dann weiter ausufernden Drogenkonsum. Filip M. ist ein Mann, der mit 28 im Wahn einen geliebten Menschen ersticht und sich hinterher an so gut wie nichts mehr erinnern kann oder will. Er dürfte ein extremer Fall sein; ein Einzelfall, bei dem Drogen einen Menschen in den Wahn trieben, ist er nicht.
Rückblende. Einen ungemütlichen Tag haben sich Filip M. und seine Petra (Name geändert) für ihre Verlobungsfeier in der kleinen Wohnung an der Friedrichshainstraße ausgesucht. Es ist der 14. Dezember 2022. Kennengelernt haben sich die beiden im Krankenhaus in Wandsbek – wo sie wegen paranoider Schizophrenie stationär behandelt wurden. Eingeladen zur kleinen Feier sind lediglich zwei Freunde – ebenfalls psychisch krank, ebenfalls drogenabhängig. Man kennt sich aus gemeinsamen Therapiezeiten. Statt Kaffee und Kuchen wird Cannabis gereicht. Und Kokain.
Schizophrenie, vermutlich ausgelöst durch Drogenkonsum als Kind
Seit einem Streit im Internet fühle er sich von Hells Angels verfolgt, erzählt Filip M. ein halbes Jahr nach der „Verlobungsfeier“ vor Gericht. Zwei Jahre lang empfand er das so. Mal bildete er sich ein, die Rocker stünden vor der Tür, mal hörte er Stimmen, die ihn vor den Männern in den schwarzen Kutten warnten. Eine paranoide Schizophrenie nennen das Experten, vermutlich ausgelöst durch Drogenkonsum in jungen Jahren.
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Als das Koks bei der kleinen Verlobungsfeier zur Neige geht und er mit dem Freund Nachschub besorgen will, packt Filip M. wieder einmal der Verfolgungswahn. An der Bushaltestelle schaut ihn ein Mann an – und lächelt. Das genügt. Filip M. sieht wieder einmal Hells Angels, wo keine sind, und zurück in der Wohnung trifft er auf eine Verlobte, die ihn in die Falle der Rocker gelockt hat. Das jedenfalls glaubt M. in seinem Wahn. Er verbarrikadiert die Wohnungstür. Zieht den Schlüssel ab – niemand soll hereinkommen oder herauskönnen. Seine Verlobte und die gemeinsame Freundin sitzen in der Falle.
Weil er sich weiterhin verfolgt fühlt, zwingt Filip M. die Bekannte, Hilfe bei der Polizei anzufordern. Schließlich hört er auf die Stimmen, die ihm sagen: Wehr dich, nimm die Messer. Gleich mit zwei Küchenmessern bewaffnet, sticht Filip M. auf seine Freundin ein. Mehr als 100 Stiche und Schnitte zählt die Gerichtsmedizin später. Filip M. zwingt die Besucherin zuzusehen. Mit dem Blut der sterbenden Frau muss deren Freundin das Wort HILFE an die Wand schreiben – mit dem Finger. Bei der Polizei überschlagen sich jetzt die Ereignisse. Nach dem Anruf aus der Wohnung melden sich auch Nachbarn und berichten am Telefon von Schreien. Sie vermuten häusliche Gewalt.
Tötungsdelikt in Hamburg-Rahlstedt: Der Anblick ist entsetzlich
Oberkommissar Tommy (44) und vier jüngere Kolleginnen treffen als Erste am Tatort ein, wenig später werden es acht Streifenwagenbesatzungen sein. Tommy versucht die Wohnungstür einzutreten, scheitert aber trotz seiner Kraft. Im Streifenwagen haben sie ein Hebel- und Brechwerkzeug, ein „Halligan-Tool“. Damit hackt er auf den Bereich rund ums Türschloss ein, während drinnen eine Frau weiter um Hilfe schreit. Allmählich gibt das Schloss nach. Mit einem Regal und dem Staubsauger hatte Filip M. die Tür noch von innen zusätzlich blockiert. Jetzt ist der Weg frei. Und der Anblick ist entsetzlich.
Zeitsprung. Beim Prozess im Sommer sehen Eva (36), Laura (26) und Colin (48), der den Einsatz im Dezember geleitet hatte, den Messermann das erste Mal wieder. Die Schwurgerichtskammer hat die beiden Frauen der Rahlstedter Streifenwagenbesatzung und ihren Chef als Zeugen geladen. Tommy hat Urlaub, seine Aussage wird vertagt.
Rahlstedter Polizisten sagen vor Landgericht Hamburg aus
Mit klarer, fester Stimme erzählt Eva, die Kommissarin, wie sie Schreie einer Frau bis auf die Straße hörten. Als wolle er die erschütternden Aussagen nicht an sich heranlassen, verbirgt Filip M. sein Gesicht hinter gefalteten Händen. Wenn er das nicht tut, starrt der blasse Mann ins Leere. „Tommy versuchte die Tür aufzutreten und scheiterte damit“, erinnert sich Eva. Als der Kollege die Tür endlich mit dem Spezialwerkzeug aufgebrochen hat, stürmt ihnen eine weinende Frau entgegen. „Die Wohnung war verwüstet, die Wände blutverschmiert. Auf dem Boden im Wohnzimmer lag in einer großen Blutlache eine sehr schwer verletzte Frau“, sagt Eva. Die Sachlichkeit der Polizistin scheint so gar nicht zu ihren brutalen Erinnerungen zu passen.
Dann ist Laura als Zeugin an der Reihe, sagt aus, wie sie nach dem Puls des Opfers gesucht habe. Die jungen Polizistinnen versuchen, das sterbende Opfer mit einer Herzdruckmassage zu retten. Vor Gericht beschreibt die Polizeimeisterin die schweren Verletzungen in Hals und Gesicht und Oberkörper. „Auf der Person lag ein Messer, zunächst war unklar, ob es in der Frau steckte“, sagt Laura. Ihr Chef, Dienstgruppenleiter Jan Stahmer, hat sie zum Prozess begleitet, sitzt fünf Meter hinter Laura im Besucherbereich des Gerichts. Moralische Unterstützung für die Jüngste der Polizeizeugen an diesem Tag.
Täter wirkte wie im Wahn, schien keine Schmerzen zu empfinden
Colin, der an dem Tag den Einsatz leitete, erinnert sich vor Gericht an den fliehenden Täter, der vom Balkon der Wohnung sprang und dann auf ein Einfamilienhaus kletterte. „Er schrie und tobte. Lief auf dem Dach hin und her, ließ sich kaum beruhigen und sprang schließlich runter“, sagt der Hauptkommissar aus. Verletzt an Fuß oder Wade, so genau kann Colin das zunächst nicht erkennen, wehrt sich Filip M. wie von Sinnen. Erst zu zweit gelingt es ihnen, den Mann zu fixieren.
„Er wirkte wie im Wahn, schien keine Schmerzen zu empfinden. Mal schrie er, man solle ihn erschießen, dann schrie er um Hilfe, weil die Polizei ihn foltere und töte. Und unentwegt versuchte er, sich aus der Fixierung zu lösen“, erinnert sich der Hauptkommissar vor Gericht. Schließlich bringen Rettungskräfte den verletzten Mann in die Klinik. Nur für dessen Verlobte gibt es keine Hilfe mehr.
Der erste Joint mit elf oder zwölf
Er habe Petra geliebt, sagte Filip M. als Angeklagter vor dem Landgericht. „Wir hatten schöne Zeiten zusammen.“ Vielleicht gab es diese schönen Zeiten. Ganz sicher gab es auch die schlechten, wenn die Psychose ihn wieder einholte. Dann fühlte sich der 28-Jährige wieder verfolgt und bedroht. Dann stellte er das Handy aus, damit niemand seinen Standort orten konnte. Oder er wechselte die Wohnung, zog in das Zuhause seines verstorbenen Vaters in Winsen.
Spätestens zu dem Zeitpunkt, im Mai 2022, hätte man gewarnt sein können, nachdem es in Winsen zu einem größeren Polizeieinsatz gekommen war. Von imaginären Fremden verfolgt, hatte sich Filip M. in einer Winsener Klinik verbarrikadiert, bis das SEK den Spuk beendete und sich der mit einem Messer bewaffnete Mann der Spezialeinheit ergab. Was folgte, war der nächste Klinikaufenthalt.
Den ersten Joint hatte er mit elf oder zwölf geraucht, „wegen der schwierigen familiären Verhältnisse“, so Filip M. vor Gericht. Zum regelmäßigen Cannabis kam ab 16 Kokain dazu. Und Amphetamin. Zuletzt konsumierte er wochentags Cannabis, am Wochenende die härteren Drogen. Ausnahmen gab es nur, wenn Filip P. in Ochsenzoll oder Wandsbek untergebracht wurde, zur Therapie oder zur Entgiftung. Oder wenn er in Behandlung war wegen seiner schweren Schizophrenie.
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Schon wenige Tage nach den Aussagen der drei Polizisten – sie waren am Eröffnungstag des Prozesses geladen – fällt das Urteil. Von einem „schlimmen Tatgeschehen“ und einer „Tragödie“ ist die Rede. Richterin Jessica Koerner spricht von einem Totschlag, begangen im Zustand der Schuldunfähigkeit, für den Filip M. nicht verantwortlich gemacht werden könne. Und so wird der 28-Jährige auf unbestimmte Zeit in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht.
Die Begründung der Kammer: Filip M. stelle auch weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit dar.