Hamburg. Eine Kommissarin hört das Opfer schreien, kommt zunächst aber nicht an den Täter heran. Eine Frau wird gerettet. Dann kommen die Fragen.
Eine Frau wird mit 100 Messerstichen und -schnitten getötet, während ihre Freundin zusehen muss. Die Polizisten an der Wohnungstür hören die Frauen schreien – aber sie können zunächst nichts für die beiden Opfer tun. Als es ihnen endlich gelingt, die blockierte Tür aufzubrechen, kommt für die Freundin des Messerstechers jede Hilfe zu spät.
Aber es gelingt den Beamten, den Täter festzunehmen. Sie retten eine der beiden Frauen – aber ein Mensch stirbt trotz verzweifelter Reanimationsversuche.
Was macht das mit der jungen Polizeimeisterin? Wie geht der erfahrene Oberkommissar damit um? Vier Polizisten, die den tödlichen Einsatz in der Rahlstedter Friedrichshainstraße verarbeiten mussten, haben mit dem Abendblatt über die Tage im Dezember 2022 und was darauf folgte gesprochen. Wir nennen sie beim Vornamen.
Hamburger Polizistin beschreibt Gefühlslage nach Tötungsdelikt
„Der Einsatz war hochemotional und sehr aufwühlend, weil wir nicht wussten, was hinter der Tür passiert. Man hört die Schreie, will eingreifen und helfen – und kommt erst einmal nicht rein“, beschreibt die Polizeikommissarin Eva dem Abendblatt rückblickend die belastende Situation. „Und dann kommst du endlich rein, und da liegt ein Mensch in seinem Blut. Du versuchst noch, die Frau am Leben zu halten.“
Nach dem Einsatz sei es ihr zunächst überhaupt nicht gut gegangen. „Als ich hörte, dass das Opfer im Krankenhaus gestorben ist, habe ich mich als Erstes gefragt, ob ich wirklich alles gegeben habe. Ob nicht mehr zu machen war“, sagt die Polizistin. Es dauert eine Weile, bis die Selbstzweifel schwinden und sie ihre Fragen mit Ja beantworten kann. Ja, sie haben alles gegeben. Sie haben die zweite Frau gerettet, sie haben den Täter festgenommen, haben Beweise gesichert. Und für das schwerst verletzte Opfer hatten sie nicht mehr machen können.
Psychische Belastung für Polizistin wie Wunde, die verheilen muss
Bei Eva waren es die Kollegen, die ihr geholfen haben, das Erlebte „gut zu verarbeiten. Das Wichtigste war, dass die Kollegen wie Tommy, die am Einsatz beteiligt waren, hinterher direkt für mich da waren. Ich war auch danach nicht allein damit, hatte viel Unterstützung bei der Aufarbeitung.“
Zu dieser Verarbeitung gehörte für die 36-Jährige, den Fall auf sich wirken zu lassen, mit den Bildern im Kopf umzugehen. Sie habe es geschafft, eine „gewisse Distanz zu den Bildern“ hinzubekommen. Eva vergleicht das mit einer körperlichen Wunde, die umso besser und schneller verheile, desto besser die Versorgung gleich zu Beginn war.
Der nächste Einsatz ist wieder blutig
Für Eva folgte nach einem freien Wochenende an einem der folgenden Dienste gleich der nächste blutige Einsatz, wenn auch lange nicht in der Dimension der Friedrichshainstraße. Sofort drängen sich die Erinnerungen an den Messerangriff nach vorne, sind gleich wieder präsent.
„Diese erneute Konfrontation mit den Folgen einer Gewalttat hat mir bei der Aufarbeitung des alten Einsatzes dann sogar geholfen. So habe ich wahrgenommen, dass der Einsatz, bei dem die Frau getötet wurde, viel mit mir macht. Aber ich habe das akzeptiert und dadurch letztendlich gut damit umgehen zu können.“ Man könne mit der Zeit lernen, extreme Einsätze zu verarbeiten, sagt die Kommissarin. „Aber es ist schon krass, was man da erlebt.“
Inzwischen, mit Distanz zum Erlebten, kann Kommissarin Eva dem Einsatz Positives abgewinnen. „Unser Handeln hat massiven Einfluss.“ Am Beispiel der überlebenden Frau und an der Festnahme des Täters sehe man, was man als Polizistin tatsächlich bewirken könne. „Nach solchen Einsätzen weiß man auch, ob der Job zu einem passt oder nicht. Und ich weiß eindeutig: Das ist der richtige Job.“
Der Fall aus Tommys Sicht
Bis morgens sitzt der Oberkommissar nach dem Einsatz mit den zwei jungen Kolleginnen von der eigenen Wache zusammen. Spricht mit ihnen, hört ihnen zu, gibt Tipps. Einige Tage später fährt er bei den beiden Kolleginnen vom Nachbarrevier vorbei, die beim Einsatz dabei waren, um zu hören, wie es ihnen geht.
„Wichtig ist, intensiv für junge Kolleginnen und Kollegen da zu sein, die so etwas das erste Mal erleben“, sagt der 44-Jährige. Er versucht den Kolleginnen klarzumachen, dass sie nicht eine Frau verloren, sondern eine gerettet hätten. „Mir war ganz wichtig zu vermitteln, dass wir alles gegeben haben, was ging in diesem Moment.“
Tommy ist einer der „Schill-Polizisten“. Einer der Berliner Polizisten, die Hamburgs Innensenator Ronald Barnabas Schill 2002 von der Spree an die Alster lockte, bevor Bürgermeister Ole von Beust den Rechtsausleger („Richter Gnadenlos“) nach nicht einmal zwei Jahren wieder aus dem Senat warf.
23 Jahre ist er jetzt insgesamt Polizist. Er spricht von „diversen Einsätzen“, die ähnlich dramatisch gewesen seien wie der im Dezember 2022. Er habe gelernt, mit dem Erlebten umzugehen. „Die Bilder bleiben im Kopf. Die Frage ist nur: Berühren dich die Bilder, oder gehören sie in die Vergangenheit? Und: Was lernt man daraus?“
Noch vor 20 Jahren wäre die Nachsorge nach solchen Einsätzen vermutlich anders gehandhabt worden, weniger sensibel, weniger den jungen Kollegen zugewandt, gröber. „Die professionelle Nachsorge von heute und die Hilfsangebote gleich im Anschluss an die Einsätze helfen, spätere Traumata zu verhindern und das Erlebte schnell abzuarbeiten“, sagt Tommy.
Der Fall aus Colins Sicht
Im Einsatz funktionieren die insgesamt vier jungen Kolleginnen – zwei vom PK38, zwei vom Nachbarrevier – gut. Eine versucht die sterbende Frau zu reanimieren, nimmt hinterher die Aussage der Überlebenden auf und kümmert sich um die psychisch schwer belastete Frau. Als sie das Opfer in die Obhut einer Verwandten übergeben kann, bricht die junge Polizistin zusammen. Eine der beiden Polizeipraktikantinnen muss hemmungslos weinen. „Es ist wirklich bewegend, was die jungen Kolleginnen und Kollegen wegstecken müssen“, sagt Einsatzleiter Colin. Er alarmiert die Betreuer der PSNV-E.
Das ist die Psychosoziale Notfallversorgung für Einsatzkräfte. Erfahrene Polizisten arbeiten hier, Psychologen, Seelsorger, psychosoziale Fachkräfte. Das Team hilft Polizisten, mit akuten Stress- und Belastungssituationen fertigzuwerden.
„In der Betreuung der Kolleginnen und Kollegen nach belastenden Einsätzen sind wir als Polizei deutlich besser geworden. Inzwischen ist eine ganz hohe Sensibilität vorhanden. Anders geht es aber auch nicht bei den gefühlt häufiger auftretenden Messerangriffen“, sagt der Leiter des Einsatzes an der Friedrichshainstraße.
Der Fall aus Lauras Sicht
Die Bilder vom Tatort haben noch „nachgearbeitet“ bei ihr, sie habe Zeit gebraucht, sie loszuwerden, sagt die 26 Jahre alte Polizeimeisterin Laura. Das habe dann aber gut geklappt. „Aber wenn ich, wie vor Gericht, wieder über den Einsatz spreche, sind die Bilder gleich wieder da“, sagt sie.
Sie seien nach dem Einsatz „toll“ unterstützt worden. Durch die Leute vom eigenen PK und durch die alarmierten Peers – speziell geschulten und erfahrenen Kolleginnen und Kollegen von anderen Dienststellen. Die Peers sind so etwas wie eine psychische Erste-Hilfe-Einheit.
Laura nahm das Angebot an, den Einsatz so aufzuarbeiten. „Und mein Partner war auch immer für mich da. Also: Ich habe den Einsatz gut verarbeitet.“
Was sie wie Eva, Colin und Tommy tröstet, ist, wenigstens eine Person gerettet zu haben. „Wir wissen natürlich nicht sicher, ob der Täter auch aus dem Fenster gesprungen wäre, wenn wir uns keinen Zutritt zur Wohnung verschafft hätten. Aber so ist er vor uns geflohen, und eine Person hat überlebt. Natürlich ist das ein gutes Gefühl. Und für die andere Person haben wir alles gegeben, was wir konnten. Nur kamen wir leider für sie zu spät.“