Hamburg. Am 2. November endet eine Ära: Dann übergibt Hamburgs Polizeipräsident die Amtsgeschäfte an seinen Nachfolger. Ein Blick zurück.
Die wirklich spektakulären Verbrechen hat er begleitet: In seine Zeit als Hamburger Polizist fiel die Jagd nach Karstadt-Erpresser „Dagobert“, nach „Herbert, dem Säger“, der die Bahn erpresste, oder die Fahndung nach den Entführern von Jan Philipp Reemtsma. Er arbeitete als Azubi bei der Schutzpolizei, Fahnder an der Davidwache, Einsatzführer beim Mobilen Einsatzkommando, er war als Sprecher das Gesicht der Hamburger Polizei, leitete deren Akademie und schließlich – die vergangenen knapp zehn Jahre – war er als Polizeipräsident Chef von 8000 Frauen und Männern.
Jetzt sagt Ralf Martin Meyer auf eigenen Wunsch mit 63 Jahren Tschüs. Am Donnerstag ist die Staffelübergabe an seinen Nachfolger Falk Schnabel. Im Abendblatt blickt Meyer zurück auf 44 Jahre bei der Hamburger Polizei.
Polizei Hamburg: Präsident Ralf Martin Meyer geht in Rente
Das sagt Ralf Martin Meyer über ...
... wie er zum Job des Polizeipräsidenten gekommen ist
Irgendwann rief Michael Neumann an und bat um ein Gespräch. Es sollte um die Akademie gehen. Ich hatte damals die Polizeiakademie neu aufgebaut und leitete sie inzwischen. Beim direkten Gespräch ging es dann allerdings nicht um meinen damaligen Job, stattdessen bot der Senator mir die Nachfolge des damaligen Polizeipräsidenten Wolfgang Kopitzsch an. In meiner ersten Reaktion habe ich erst einmal abgesagt. Er blieb aber hartnäckig. Nach zwei Wochen des Nachdenkens und vielen Gesprächen mit meiner Frau habe ich im Urlaub auf Rügen schließlich telefonisch zugesagt. Noch auf der Heimfahrt war die Neuigkeit, dass ich Polizeipräsident werde, bereits im Radio zu hören.
… die Schulzeit und die Entscheidung, zur Polizei zu gehen
Um ehrlich zu sein: Ich war kein besonders guter Schüler. Ich war nicht gerade fleißig und gehörte zu diesen Abiturienten mit einer Drei vor dem Komma. Nach dem Abi habe ich ein halbes Jahr gejobbt, um ein bisschen Geld zu verdienen. Mit Freunden bin ich danach vom Land ins große Hamburg gezogen. Für uns war die Ausbildung bei der Polizei die Chance, die Bundeswehr zu umgehen. Und das bei einem recht guten Ausbildungsgehalt. Die erste Zeit war dann aber wie beim „Bund“: Wir waren kaserniert, wohnten zu viert auf einem Zimmer, robbten oder marschierten mit dem Kompass durchs Gelände. Ich fand aber sehr schnell Spaß an der Aufgabe, an den vielen Möglichkeiten und an der Teamarbeit. Auch die körperliche Herausforderung hat mir Spaß gemacht.
… den Werdegang
Die ersten zehn Jahre nach der Ausbildung war ich im mittleren Dienst, wechselte nach dem Studium in den gehobenen. Ich war zielstrebig, hatte aber keinen Karriereplan. Ich habe mich nie um einen Job beworben, das hat sich immer irgendwie ergeben. Eigentlich war das nicht nur ein einziges Berufsleben: Durch diese vielen und vollkommen unterschiedlichen Aufgaben und Facetten war da viel mehr drin. Rückblickend betrachtet, habe ich bei der Polizei Hamburg eine unheimliche Abwechslung und viel Spannendes erlebt.
… seinen Rufnamen „Spiegel“ beim MEK
Das scheint bislang ja ein Geheimnis gewesen zu sein. Zu Beginn meiner Zeit beim MEK habe ich aus Versehen einen Spiegel zerschlagen, als ich eine Tür zur Toilette öffnete und mit lockerem Schwung dynamisch den Lichtschalter drücken wollte. Wo ich einen Schalter vermutete, war allerdings ein Spiegel. Und im nächsten Moment fiel der mit Getöse von der Wand. Das führte im MEK zu dem Namen „Spiegel“. Der Lichtschalter hatte sich übrigens außerhalb der Toilette befunden.
… über den Zustand der Hamburger Polizei
Hamburg hat eine sehr moderne und gut funktionierende Polizei, eine, die sich in allen Bereichen gut weiterentwickelt hat: bei der Ausrüstung, beim Thema Einstellung und Werte, bei der Führungsarbeit. Die oberste Polizeiführungsrunde ist heute neu und breit aufgestellt. Sie kann Probleme besser und schneller lösen – kooperativ, multiperspektivisch und vertrauensvoll.
Polizei Hamburg: Betrugsdelikte im Internet binden zu viel Arbeitskraft
Was aber auch stimmt: Die Polizei ist zurzeit unheimlich gefordert. Auch deshalb müssen wir die Kraft haben, Aufgaben und Prozesse kritisch zu betrachten bzw. auch Aufgaben zu streichen. Damit tun wir uns häufig schwer. Ansätze gibt es im LKA, das sich dazu in einem Prozess mit der Staatsanwaltschaft befindet. Das alleine reicht aber nicht. Es braucht meines Erachtens auch Gesetzesänderungen auf Bundesebene. Die Vorschläge wie die zur Entkriminalisierung der Verkehrsunfallflucht reichen da nicht aus. Massendelikte wie der Betrug im Internet binden zu viel Arbeitskraft, ohne dass das zu Anklagen vor Gericht führt. Hier wäre Potenzial, wenn man bei sehr geringen Schäden den Strafverfolgungszwang der Polizei aufweichen würde. Da mit dem Digital Service Act vom 1. Januar 2024 an noch eine sehr große Menge von Fällen der Hasskriminalität dazukommen wird, braucht es mehr Effektivität, indem wir unsere Ermittlungskapazität auf die Delikte konzentrieren, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch angeklagt werden.
… unerledigte Aufgaben
Ich hätte gerne noch ein bisschen mehr Netzwerkarbeit in bestimmten Communities gemacht, um dort mehr Nachwuchskräfte für die Polizei zu finden. Mit der Black Community haben wir einen Anfang gemacht, den wir noch ausbauen müssen. Die Einrichtung von Sicherheitskonferenzen wie in Harburg könnte man aktuell auch für weitere Bereiche prüfen. Das wäre dann ja vielleicht etwas für die Zukunft.
… den Amoklauf bei den Zeugen Jehovas
Einerseits bekomme ich viele positive Rückmeldungen von Bürgern – und auch von den Opfern, die überlebt haben –, wie schnell wir mit unseren Einsatzkräften am Tatort waren und intervenieren konnten. Dadurch haben wir noch Schlimmeres verhindert. Unsere Spezialkräfte der USE sind bereits wenige Minuten nach der Alarmierung ins Gebäude eingedrungen, wodurch der Amokläufer von der Tötung zahlreicher weiterer Menschen abgehalten worden ist. Das war ein Erfolg der Hamburger Polizei.
Amoklauf Hamburg: Polizeichef Meyer bereut, Informationen nicht hinterfragt zu haben
Es gab aber auch Dinge, die nicht gut waren und noch untersucht werden. Was mich betrifft, bin ich in die zweite Pressekonferenz damals mit einer falschen Information zur Frage des „Googelns zum Buch des Attentäters“ gegangen. Das war mein Fehler, rückwirkend betrachtet, würde ich derartige Informationen von Dritten stärker hinterfragen.
… G20 und den Verbleib auf dem Posten des Polizeipräsidenten
Verantwortung ist für mich nichts, was nur auf dem Papier steht. Sie ist ein Teil meiner Führungsaufgabe. Wenn ich also hätte gehen müssen, dann wäre es so gewesen. Ich bin schließlich politischer Beamter und jederzeit kündbar gewesen. Aber es war auch eine gemeinsame Verantwortung gegenüber dem Parlament respektive dem Sonderausschuss und gegenüber allen Bürgerinnen und Bürgern unserer Stadt. Ich habe in meiner Funktion in vielen damaligen Gesprächen auch eine Menge Zuspruch erfahren.
Für den Krawall bleiben jedenfalls die aus ganz Europa angereisten Gewalttäter verantwortlich und die, die diese nach Hamburg eingeladen haben und ohne deren Zutun die Planung für die Krawalle in der Elbchaussee nicht funktioniert hätten. Dass die Sicherheitskräfte an dieser Stelle düpiert wurden, schmerzt mich noch immer. Ich hätte nicht gedacht, dass eine so große Aktion wie die am Morgen des 7.7. 2017 an der Elbchaussee nicht vorher aufplatzen würde.
Bei einer vergleichbaren Situation wie den abendlichen Krawallen im Schanzenviertel würden wir heute schneller vorgehen. Da haben wir dazugelernt und unsere Fähigkeiten erweitert.
Polizei Hamburg: Scheidender Chef Meyer über G20 als Niederlage
Ich sehe G20 insgesamt aber nicht als Niederlage der Polizei. Nach dem Gipfel gab es eine lange Phase von erfolgreichen Ermittlungen. Die Soko „Schwarzer Block“ hat richtig gute Arbeit geleistet und noch lange nach dem Gipfel viele, viele Taten aufgeklärt. Die Verunsicherung der Szene hat lange nachgewirkt. Und nicht zu vergessen: der G20-Gipfel selbst konnte dank des aufopferungsvollen Einsatzes der Polizei, trotz der erheblichen Versuche, den Gipfel zu stören, ohne direkte Störungen durchgeführt werden.
… die eine große Niederlage
Diesen einen einzigen Punkt sehe ich nicht. Beim G20-Gipfel gab es sicher Tiefschläge – in der Elbchaussee und der Schanze. Das bleibt neben dem Amoklauf sicher am stärksten negativ in meiner Erinnerung.
… politische Rückendeckung in Hamburg
Der Senator und ich standen immer in einem guten Dialog, es blieb nichts unausgesprochen. Auch aus dem Senat habe ich viel Unterstützung, Vertrauen und Zutrauen erlebt. Das habe ich auch vonseiten des jeweiligen Bürgermeisters so empfunden.
… den größten Erfolg in der Zeit als Polizeipräsident
Als größten Erfolg bewerte ich, den Kollegen des Funkstreifendienstes die notwendige Wertschätzung vermittelt zu haben. Zu zeigen, dass sie und ihre Arbeit wichtig sind, dass es uns da oben sehr wohl interessiert, wie es ihnen geht und was sie bewegt. Dazu gehörten eine neu geschaffene und mitbestimmte Dienstzeitregelung und erhöhte Erschwerniszulagen für Schichtdienstleistende sowie eine verbesserte Ausstattung. Außerdem war mir auch wichtig, häufig vor Ort präsent zu sein und mich um verletzte Kollegen und Kolleginnen zu kümmern, sie anzurufen oder im Krankenhaus zu besuchen.
Ralf Martin Meyer: hab mich immer gefragt, wie man diesen Tanker bewegt bekommt
Als Erfolg sehe ich auch, den Dialog mit den 150 Dienststellenleiterinnen und -leitern so weiterentwickelt zu haben, dass viel Raum zur Gestaltung und zu wertorientierten Diskursen blieb. Wir sind in der Führung insgesamt vielfältiger geworden, wozu auch mehr Frauen in Spitzenämtern gehören.
Ehrlicherweise habe ich mich zu Beginn immer wieder gefragt: Wie bekommt man diesen Tanker bewegt? Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Es brauchte seine Zeit, aber es hat sich einiges getan. Mir als Führungskraft war immer wichtig, anderen Führungskräften genug Raum zu geben, Vertrauen zu vermitteln, machen zu lassen und andere zu beteiligen.
… die Akzeptanz bei den Kollegen als Polizeipräsident
Es hat ganz sicher geholfen, aus dem Apparat zu kommen. Ich hatte bei meinem Amtsantritt das Gefühl, dass sich viele Kollegen nach Führung sehnten. Mein Nachfolger ist zwar kein gelernter Polizist, kennt aber das Geschäft als zweifacher Polizeipräsident. Außerdem ist er klug genug, einschätzen zu können, worauf es ankommt. Er ist hoch engagiert und weiß, was ihn erwartet – das ist schon die halbe Miete.
Polizei Hamburg: Präsident Meyer hatte nicht mit zehnjähriger Amtszeit gerechnet
… die Dienstdauer von zehn Jahren als Polizeipräsident
Ich habe nicht mit zehn Jahren gerechnet. Und es war eine Aufgabe, in die ich erst einmal hineinwachsen musste. Geholfen hat mir vermutlich meine sachliche, normale Art und die Augenhöhe zu jeder und jedem. Uwe Seeler hat mal gesagt: Wenn du normal bleibst, hast du am wenigsten Probleme. Der Satz ist ein Klassiker und „Uns Uwe“ für mich immer ein Vorbild.
… die Einstellung der Hamburger gegenüber der Polizei in diesen 40 Jahren
Die Situation hat sich verändert und die Zusammensetzung der Bevölkerung auch. Früher kam man in eine Kneipe und bat um Ruhe, hat dabei auch mal die Stimme erheben müssen. Aber dann war Ruhe, und keiner hat die Maßnahmen der Polizei gleich infrage und sich in den Weg gestellt. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass wir zu fünft Streife gehen mussten, was heute auf St. Pauli nicht unüblich ist. Heute müssen sich Rettungskräfte häufiger mit Menschen körperlich auseinandersetzen, werden schnell angepöbelt. Alkohol und Drogen spielen dabei eine problematische Rolle, irgendwie scheint manchen Menschen der anerzogene Respekt zu fehlen. Das hat sich wirklich geändert und macht allen Rettern, selbst Ärzten, die Arbeit heute viel schwerer.
„St. Pauli war ein Dorf, man hat fast jeden gekannt“ – das habe sich gänzlich geändert
… St. Pauli
St. Pauli war zu meiner Zeit beim MEK eine relativ übersichtliche Rotlichtmeile. Wir wussten genau, wo man sich aufhalten musste, wenn man bestimmte Leute suchte. St. Pauli war ein Dorf, man hat fast jeden gekannt. Heute ist das ein großes Amüsierviertel mit ein bisschen Rotlicht. Das Bild ist ein gänzlich anderes geworden: eine Partyhochburg mit Menschenmassen, die stark alkoholisiert und feierwütig sind.
… den Abschied bei der Hamburger Polizei
Das sind zwei an sich widersprüchliche Gefühle: Ich gehe einerseits mit Wehmut und weiß, dass ich die Kolleginnen und Kollegen vermissen werde. Andererseits ist es auch ein positives Gefühl zu wissen, dass ich diese herausfordernde Aufgabe ganz ordentlich abgeschlossen habe. Außerdem freue ich mich auf das Neue, was da nun kommt.
… den Abschied zum jetzigen Zeitpunkt und nicht erst in ein oder zwei Jahren
Stellen Sie sich den Lauf des Lebens auf einem Metermaß vor, dann bleibt nicht mehr viel: Alles hat seine Zeit. Jetzt ist die Familie dran. Ich gehe diesen Schritt gemeinsam mit meiner Frau, die nun ebenfalls aufhört zu arbeiten.
Polizeichef Meyer will jetzt mehr für seine Familie da sein
… die Familie
Meine Frau musste am meisten zurückstecken. Zwar hat sie sich damit arrangiert, aber ich habe wirklich sehr, sehr viel gearbeitet. Auch deswegen ist es jetzt gut, einen neuen Abschnitt zu beginnen. Ich hatte – auch damals im Schichtdienst, als die Kinder klein waren – nicht immer die Zeit, für die Familie da zu sein, weshalb es jetzt an der Zeit ist, mich mehr einzubringen, etwas zurückzugeben und Zeit für Familie und gerade auch für die Enkelkinder zu haben.
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Ich glaube schon, dass meine Frau ein wenig stolz ist auf das, was ich erreicht habe. Früher habe ich selbst mit Ehrfurcht nicht nur zum Präsidenten aufgesehen. Mit dem Blick von heute würde ich sagen, man kann sich in diese Aufgabe hineinarbeiten. Ja, wahrscheinlich braucht man auch ein gewisses Talent. Heute weiß ich aber: Es sind Menschen, die sich das mit Fleiß und Intelligenz erarbeitet haben – keine Halbgötter.
Besonders glücklich war ich darüber, dass zur Verabschiedung die ganze Familie hier in Hamburg war, ein Sohn ist mit seiner Frau extra aus Chile angereist. Dorthin werden wir im Winter fliegen. Wir werden jetzt auch bald zum zweiten Mal Großeltern, darauf freuen wir uns sehr.
… einen Job als Berater bzw. als Privatier
Konkrete Pläne habe ich (noch) nicht. Jetzt kommt erst einmal eine Phase der Ruhe für einige Monate. Und danach wird es etwas Neues geben, das selbstbestimmte Erfüllung bringt.
… Hobbys
Ich bleibe sportbegeistert, spiele Tennis und verfolge die Fußball-Bundesligen. Aber bevor ich ein Polizeipräsidium aus Streichhölzern nachbaue (lacht), lerne ich vielleicht doch ein Instrument. Und Spanisch will ich auch noch lernen.