Hamburg. Täter verbarrikadierte sich in einer Wohnung. Immer wieder stach der 28-Jährige auf seine Freundin ein. Eine Bekannte musste zusehen.
Es ist vermutlich das, was man eine klassische „Drogenbiografie“ nennt. Der erste Joint mit elf oder zwölf, „wegen der schwierigen familiären Verhältnisse“, so sagt es der Mann vor Gericht. Zum regelmäßigen Cannabis kommt später, so ab 16, Kokain hinzu. Und Amphetamin. Zuletzt sah der Rhythmus so aus: wochentags Cannabis, am Wochenende gern die anderen Drogen. Es sei denn, Filip M. (alle Namen geändert), in Hamburg geboren, 28 Jahre jung, war mal gerade wieder in Therapie oder zur Entgiftung – in Ochsenzoll oder Wandsbek. Oder in Behandlung wegen einer schweren Schizophrenie.
Stimmen hat er auch an jenem 14. Dezember 2022 gehört, verfolgt hat er sich gefühlt, von seiner Freundin verraten, von der Polizei im Stich gelassen. Darunter waren auch jene Stimmen, die ihm sagten: Wehr dich, nimm‘ die Messer. Und mit zweien aus der Küche hat Filip M. dann eingestochen auf seine Freundin. Mehr als 100 Stiche und Schnitte hat die Gerichtsmedizin gezählt. Zusehen, wie die kniende Frau Stich für Stich getötet wurde, musste eine gemeinsame Freundin der beiden. Jetzt muss sich Filip M. vor der Großen Strafkammer vor dem Landgericht verantworten.
Prozess Schleswig-Holstein: 28-Jähriger soll im Wahn Freundin getötet haben
Totschlag wirft die Staatsanwaltschaft dem 28-Jährigen vor. Als er seine Lebensgefährtin tötete, könnte er schuldunfähig gewesen sein, heißt es in der Anklage. Am Ende des an diesem Dienstag gestarteten Sicherungsverfahrens dürfte ein Unterbringungsbeschluss in einer psychiatrischen Einrichtung stehen: Bei einem Sicherungsverfahren geht die Staatsanwaltschaft davon aus, dass der Beschuldigte psychisch krank ist und bei der Tat schuldunfähig war.
Vermutlich ist Filip M. mit seiner schweren psychischen Störung ein wirklich extremer Fall. Ein schwer kranker Mann, der im Wahn einen nach eigenen Worten geliebten Menschen ersticht, und sich hinterher an so gut wie nichts mehr erinnern mag. Filip M. dürfte ein extremer Fall sein, aber ein Einzelfall, bei dem Drogen einen Menschen in den Wahn trieben, ist er ganz sicher nicht.
Sein Mandant sei nicht „Herr seiner Sinne“ gewesen, sagt der Anwalt
„Der Anteil der Neuerkrankungen an Schizophrenie, die auf eine Cannabiskonsumstörung zurückgeführt werden können, ist in den letzten fünf Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen“. Das sagt der Hamburger Suchtforscher Rainer Thomasius. Der Ärztliche Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Uniklinikum Eppendorf warnt seit Jahren vor den Gefahren von Cannabis, vor der öffentlichen Verharmlosung und geplanten Legalisierung.
Für den Vater der getöteten 34-jährigen, der als Nebenkläger den Prozess verfolgt, sind die Details jenes 14. Dezember kaum zu ertragen. Sein Mandant, damals „nicht Herr seiner Sinne“, werde preisgeben, woran er sich erinnere, kündigt Filip M.s Anwalt an.
Opfer habe nicht verdient zu sterben
M., bunt gemustertes Hemd, kurz geschorene Haare, liest vom Zettel ab, was ihn umtreibt. Petra sei hübsch gewesen und klug und liebenswert. Sie habe nicht verdient zu sterben, sagt M., als suche er nach einer Lossprechung. „Ich habe einen schizophrenen Schub bekommen mit wahnhaften Gedanken. Aber was ich getan habe, ist nicht zu entschuldigen. Trotzdem bitte ich bei allen Betroffenen um Vergebung“, fleht er beinahe. Er leide unter der Tat.
Seit einem Streit im Internet fühlte sich Filip M. von Hells Angels verfolgt. Das ging zwei Jahre immer wieder so. M. dachte, sie stünden bei ihm vor der Tür, dachte, er hörte Stimmen, die ihn vor den Rockern warnten, fühlte sich bedroht. Besser wurde es erst im AK Wandsbek. Hier lernte er auch Petra kennen, wie er war sie mit einer paranoiden Schizophrenie in stationärer Behandlung, erzählt der 28-Jährige gefasst und ruhig vor Gericht.
„Wir hatten schöne Zeiten“ – bis ihn die Psychose wieder einholte
Er habe Petra geliebt, sagt Filip M. „Wir hatten schöne Zeiten zusammen.“ Es gab die schönen Zeiten, bis ihn die Psychose mal wieder einholte. Und dann fühlte sich der blasse Mann, der aktuell in der Untersuchungshaftanstalt medizinisch behandelt wird, wieder verfolgt und bedroht. Dann stellte er das Handy aus, damit niemand den Standort orten konnte. Dann wollte er die Rufnummer aus Sicherheitsgründen wechseln. Dann zog er zwischenzeitlich mit der Freundin in die Wohnung des verstorbenen Vaters in Winsen.
Dort kam es im vergangenen Mai schon einmal zu einem größeren Polizeieinsatz. Von Fremden verfolgt, verbarrikadierte sich Filip M. bewaffnet mit einem Messer in einer Winsener Klinik, bis das SEK den Spuk beendete und sich Filip M. der Spezialeinheit ergab. Es folgte: mal wieder ein Aufenthalt in einer Spezialeinrichtung.
Vielleicht meint er es nicht so, aber wenn Filip M. vor Gericht aussagt, klingt es, als trügen die anderen immer zumindest eine Mitschuld. Sie, also Petra, habe sich in ihn verliebt, während er ihr sogar noch zugeredet habe, bei ihrem langjährigen Freund zu bleiben. Er habe sie nach ihrer überstandener Sucht nicht in seinen „Drogensumpf“ ziehen wollen. Sie sei schließlich bei ihm eingezogen. Sie habe dann auch wieder angefangen, medizinisches Cannabis zu konsumieren, nachdem sie symptomfrei war und gut auf Medikamente eingestellt. Sie habe ihm auch den Heiratsantrag gemacht.
Prozess Schleswig-Holstein: Koks und Cannabis bei der Verlobungsfeier
Wenn man so will, war es die Verlobungsfeier, die in einem Blutbad mündete. Freunde – ebenfalls psychisch krank und drogenabhängig – waren an jenem 14. Dezember zu Besuch in der Rahlstedter Wohnung. Man kannte sich aus gemeinsamen Therapiezeiten. Gefeiert wurde statt mit Kaffee und Kuchen mit Cannabis und Kokain. Und als das Koks zur Neige ging und er mit dem Freund Nachschub besorgen wollte, packte Filip M. wieder einmal der Wahn. An der Bushaltestelle schaute ihm ein Mann ins Gesicht – und lächelte. Das genügte.
Filip M. sah Hells Angels, wo keine waren, und zurück in die Wohnung geeilt eine Freundin, die ihn in die Falle der Rocker gelockt hatte. In den Zimmern an der Friedrichshainstraße verbarrikadierte M. mit Möbeln die Wohnungstür. Er zog den Schlüssel ab – niemand sollte reinkommen oder rauskönnen. Die beiden Frauen saßen in der Wohnung fest.
Verzweifelt hackten Polizisten auf die Wohnungstür ein – zu spät
In einem Telefonat mit seiner Mutter warnte Filip noch, an dem Tag würden Menschen sterben. Die Mutter, die einen schizophrenen Schub vermutete, alarmierte die Polizei.
Immer und immer sticht M. schließlich auf seine Verlobte ein, während die gemeinsame Freundin das Wort „Hilfe“ mit einem Feuerzeug in den Boden brennen oder mit einem Stift an die Wand schreiben soll. Statt Stift und Feuerzeug ist es schließlich der mit dem Blut der sterbenden Frau getränkte Finger, der HILFE an die Wand schrieb, während die Polizei verzweifelt unter den Schreien der drei Menschen in der Wohnung auf die Tür einhackte, um den beiden Frauen endlich zur Hilfe zu kommen.
Für Petra M. kommt jede Hilfe zu spät, auch wenn zwei junge Polizistinnen noch verzweifelt versuchen, das Leben der jungen Frau zu retten. Doch die Verletzungen sind zu gravierend, die Reanimation scheitert. Die Frau stirbt kurz darauf an einer Atemlähmung im Wandsbeker Krankenhaus. Polizisten vom PK 37 und 38 nehmen Filip schließlich nach einem Sprung aus dem Fenster und gescheiterter Flucht ganz in der Nähe fest. Dass er sich bei dem Sprung einen Fuß und bei der Tat die Hände mit einem Messer verletzt hatte, scheint der vollgedröhnte Mann noch nicht einmal bemerkt haben. Wie von Sinnen wehrte sich Filip M. schwer verletzt gegen die Festnahme.
Freundin, die alles mitansehen musste, leidet noch heute unter der Tat
Und Lea, die Freundin, die sehen musste, wie ein Mensch mit 100 Messerstichen getötet wurde, leidet heute noch unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Sie gilt als instabil und depressiv, ist in Behandlung. Aus Sorge vor einer Re-Traumatisierung erspart ihr das Gericht um die Vorsitzende Richterin Jessica Koerner die Aussage.
Sie führt klar, aber einfühlsam durch die Verhandlung. Macht den Angeklagten auf Widersprüche zu dessen zeitlichen Angaben aufmerksam, fragt nach, wo Filip M. unpräzise wird. Ursprünglich angesetzt auf sechs Verhandlungstage, will Koerner die Beweisaufnahme schon an diesem Freitag schließen.
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Und dann? „Es wäre schön, wenn ich medizinische Hilfe bekäme und in Ochsenzoll eine Therapie machen könnte“, antwortet der Angeklagte. Stimmen höre er aktuell keine mehr, verfolgt fühle er sich auch nicht, dank der Medikamente. Und Drogen wolle er keine mehr mehr konsumieren, schließlich habe „er einen viel zu hohen Preis dafür gezahlt, was er durch die Drogen bekommen“ habe.
Ein Fall wie der von Filip M., der mit elf anfing zu kiffen, dürfte Suchtforscher nur bestätigen in ihrem Kampf gegen die Freigabe der Droge. So warnt beispielsweise Rainer Thomasius vom UKE vor einer Legalisierung. Dieser Schritt würde psychische Störungen und gesundheitliche Probleme vor allem bei Jugendlichen verschärfen, sagte der Wissenschaftler der „Neuen Osnabrücker Zeitung“: „Länder wie die USA, Kanada und Portugal, die Cannabis legalisiert haben, zeigen, dass der Konsum im Zusammenhang mit der Legalisierung um etwa 30 Prozent steigt und die damit verbundenen psychischen Störungen um etwa 25 Prozent höher liegen als in Staaten ohne Legalisierung.“
Der UKE-Experte Rainer Thomasius verweist auf Studien, wonach Kiffen dem jugendlichen Hirn schadet: „Wir haben Belege dafür, dass Cannabis die Hirnentwicklung und Hirnreifung sehr stark in Mitleidenschaft zieht“, sagte er der Zeitung.