Hamburg. 19-Jähriger wegen versuchten Mordes vor Gericht. Opfer macht im Prozess bewegende Aussage. Warum der Beamte mit dem Leben davonkam.
- Polizist über Autofahrer: „Einfach gesagt: Es war ihm egal, ob ich sterbe oder nicht.“
- Anklage gegen 19-Jährigen vor dem Landgericht lautet auf versuchten Mord.
- Polizist sagt, er habe nach dem Unfall „teilweise meinen Lebensmut verloren“.
Er hörte das Aufheulen des Motors. Er weiß noch, wie der Wagen immer weiter auf ihn zufuhr. Wenn Polizist Aryan J. sich an jene Situation vor anderthalb Jahren erinnert, als er von einem Auto erfasst und dann zu Boden geschleudert wurde, denkt der 28-Jährige vor allem an den Blick des Mannes am Steuer. „Einfach gesagt: Es war ihm egal, ob ich sterbe oder nicht“, sagt der Polizeibeamte als Zeuge im Prozess vor dem Landgericht Hamburg.
Der Fahrer und er hätten sich auf den letzten Metern, bevor er von dem Fahrzeug erfasst wurde, gegenseitig in die Augen gesehen. „Er hatte einen gleichgültigen Blick, dass da ein Mensch steht.“ Und er selber, so der Polizist, habe gedacht: „Ich sterbe.“ Er habe damals „mit dem Leben abgeschlossen“.
Prozess Hamburg: „Ich hatte schon mit dem Leben abgeschlossen“, sagt der Polizist
14 Monate liegt jener Abend zurück, als Polizist Aryan J. nach einem Verkehrsunfall auf der Max-Brauer-Allee in Hamburg-Altona gemeinsam mit Kollegen den Verkehr regeln sollte. Die Erinnerungen an die Geschehnisse haben sich in das Gedächtnis des Beamten eingebrannt.
Er erzählt, dass ein schwarzer Wagen „immer schneller wurde und immer näher kam“. Gleichwohl habe er noch angenommen, dass der Fahrer im letzten Moment bremsen werde. Doch als er den Blick des Mannes am Steuer wahrgenommen habe, habe er Zweifel bekommen und sei überzeugt gewesen, dass der Mann in ihm „nur noch ein Hindernis“ sieht. In einem Reflex sprang Aryan J. hoch und auf die Motorhaube. Hat ihm diese Reaktion das Leben gerettet?
Prozess Hamburg: Polizist erzählt, er dachte damals: „Ich sterbe“
Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Autofahrer Mehmet B. (Name geändert) damals billigend in Kauf genommen hat, dass der Polizist sterben könnte. Mit seinem riskanten Fahrmanöver habe der damals 18-Jährige verhindern wollen, dass auffliegt, dass er keinen Führerschein hatte, so die Anklage.
Ferner muss sich der Hamburger wegen gefährlicher Körperverletzung, gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, Fahrens ohne Fahrerlaubnis sowie weiterer Delikte vor Gericht verantworten. Nachdem er einen Joint geraucht hat, soll sich der junge Mann ans Steuer eines Carsharing-Wagens gesetzt, das Auto auf Tempo 66 bis 76 km/h beschleunigt und dann einen Polizisten umgefahren haben. Zuvor habe er die Anhalte-Zeichen ignoriert, die die den Verkehr regelnden Beamten gegeben hatten.
Polizist umgefahren: „Ich habe mich wie ein Hindernis für ihn gefühlt“
Polizist Aryan J. hat damals laut seiner Schilderung klare Signale gegeben, dass der Autofahrer anhalten müsse. Er war in Polizeiuniform, mit deutlich sichtbaren Streifen an der Kleidung, die Licht reflektieren, dazu eindeutige Armbewegungen, lautes Rufen: Er habe sich definitiv bemerkbar gemacht, sagt der 28-Jährige.
Als das Auto immer näher kam, er und der Fahrer sich gegenseitig in die Augen geschaut hätten und er den „gleichgültigen Blick“ des Mannes am Steuer wahrgenommen habe, habe er geahnt, dass der Fahrer nicht anhalten werde. „Ich habe mich wie ein Hindernis für ihn gefühlt.“
Angeklagter wegen versuchten Mordes vor dem Landgericht
So erinnert der Zeuge die Augenblicke, als er vom Wagen erfasst wurde: Er sprang im letzten Moment hoch, schützte mit der Hand seinen Kopf, landete auf der Motorhaube, wurde „wie ein Sack runtergeschleudert“ und fiel dann auf die Straße. „Aufstehen konnte ich nicht.“ Passanten hätten ihm aufgeholfen und ihn von der Fahrbahn weggeschafft. Er sei sich „zu hundert Prozent sicher“, dass der Autofahrer ihn gesehen habe, „weil wir uns in die Augen geguckt haben“, betont der Polizist.
Der Beamte trug von der Kollision einen Armbruch davon, diverse Knochenprellungen und Hämatome. Mehrere Monate habe es gedauert, bis diese Verletzungen verheilt waren. Dass er durch die Kollision mit dem Auto nicht noch schlimmere Verletzungen erlitten hatte, hat Aryan J. seiner Einschätzung nach seinen überdurchschnittlich guten Reflexen zu verdanken, die er sich unter anderem durch jahrelang intensiv betriebenen Kampfsport angeeignet habe. „Das Training hat mir wohl geholfen, dass ich so hoch springen konnte.“
Polizist: „Ich hatte teilweise meinen Lebensmut verloren“
Auch wenn der Körper wieder weitgehend hergestellt ist: Die psychischen Folgen beeinträchtigen den 28-Jährigen bis heute. Aryan J. erzählt von Albträumen, einer posttraumatischen Belastungsstörung, an der er noch immer leide. Zu manchen Zeiten ging der Polizist zweimal wöchentlich zu einem Psychotherapeuten, bis heute ist er einmal die Woche in Therapie.
Er habe zeitweise unter schweren Depressionen gelitten, erzählt der Zeuge weiter. „Ich hatte teilweise meinen Lebensmut verloren.“ Bis heute könne er seinen Beruf noch nicht wieder ausüben, sei auch dem Alltag noch nicht wieder gewachsen. „Ich habe mich fast nicht mehr auf die Straße getraut.“
Prozess Hamburg: Angeklagter ohne Führerschein im Carsharing-Auto
Während der Zeuge aussagt, hält der Angeklagte Mehmet B. seinen Kopf gesenkt, scheint den Blick auf den Mann, den er damals anfuhr und verletzte, konsequent zu scheuen. Als die Aussage des Polizisten abgeschlossen ist, richtet der Angeklagte jedoch das Wort an den Beamten. „Ich möchte mich entschuldigen. Ich wünschte, das wäre nicht passiert“, sagt der heute 19-Jährige.
Der Angeklagte hatte am ersten Verhandlungstag über seinen Verteidiger angegeben, er habe den Polizisten erst im letzten Moment wahrgenommen und ihn nicht umfahren wollen. Er habe jedoch „Panik“ gehabt, dass auffliegen könnte, dass er nicht im Besitz eines gültigen Führerscheins ist. Eine Woche später hätte er seine Fahrprüfung haben sollen.
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Obwohl er keinen Führerschein hatte, hatte er sich ein Carsharing-Auto verschaffen können. Dies sei ihm über den Messengerdienst Telegram gelungen, bei dem andere Leute ihre Accounts bei Mietwagenanbietern zur Verfügung stellen, wenn eine entsprechende Bezahlung erfolgt. Außerdem habe er einige Stunden, bevor er sich ans Steuer setzte, Cannabis konsumiert, hatte der Angeklagte eingeräumt. Seinerzeit war er zunächst vom Tatort geflüchtet, hatte sich dann aber einige Stunden später der Polizei gestellt. Der Prozess wird fortgesetzt.