Hamburg. Prozess nach Tragödie: Im Fall eines tödlichen Abbiegeunfall in der HafenCity fällt ein Urteil, das Laien überrascht. Wie die Familie leidet
- Nach tödlichem Abbiegeunfall in der HafenCity: Lkw-Fahrer schrie und weinte
- Radfahrerin bei tödlichem Unfall in der HafenCity so dicht am Lkw, dass Abbiege-Assistent nicht auslöste.
- Bei vorschriftsmäßiger Geschwindigkeit hätte Unfall in der HafenCity verhindert werden können.
Auf dem Foto lächelt sie. Das warmherzige Lächeln einer jungen Mutter. Doch diese glücklichen Zeiten sind für immer vorbei. Sabine R. (alle Namen geändert) ist tot. Sie kam um, als die 34-Jährige auf ihrem Rad ihren kleinen Sohn von der Kita in der HafenCity abholen wollte und von einem Lkw erfasst wurde. „Ich bin die Mama“, sagt die Mutter der verstorbenen Hamburgerin schluchzend, während sie das Foto ihrer Tochter in den Händen hält.
Auch weitere Angehörige haben ein Bild von Sabine R. dabei. Sie wolle, sagt die Mutter, dem Andenken ihrer Tochter „ein Gesicht geben“. So sitzen die Eltern und weitere Familienmitglieder im Zuschauerraum im Prozess vor dem Amtsgericht, wo sich ein Lkw-Fahrer für den Tod von Sabine R. verantworten muss. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten fahrlässige Tötung vor.
Prozess Hamburg: Mutter eines dreijährigen Jungen stirbt noch am Unfallort
Es war der 30. Januar vergangenen Jahres, als ein Geschehen seinen Lauf nahm, das die Richterin am Ende dieses Prozesses als „Tragödie“ bezeichnen wird. Eine Baustelle verengt zu dieser Zeit die Fahrbahn der Überseeallee in der HafenCity. Der Fahrer eines Lkw will rechts in die Osakaallee einbiegen, gerät dabei mit einem Teil seines Sattelzuges auf den Radfahrstreifen, auf dem zu dieser Zeit Sabine R. unterwegs ist. Das 18 Tonnen schwere Fahrzeug erfasst die 34-Jährige und überrollt sie. Die Mutter eines damals drei Jahre alten Jungen verstirbt sofort.
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten, einem 58 Jahre alten Mann, vor, nicht die beim Abbiegen geforderte Schrittgeschwindigkeit eingehalten, sondern mit etwa 18 km/h unterwegs gewesen zu sein. Der Lkw hatte vorher an einer roten Ampel gehalten, war dann bei Grün losgefahren. Da die Radfahrerin vor der Kollision einige Sekunden im Außenspiegel zu sehen gewesen sei, hätte der Unfall bei vorschriftsmäßiger Geschwindigkeit vermieden werden können, so die Anklage.
Fakt ist: Der Lkw hatte einen Abbiegeassistenten. Warum Andreas D. die Radfahrerin, die eine gelbe Warnweste trug, trotzdem nicht bemerkte? Es kam offenbar zu einer Verkettung unglücklicher Umstände, bei denen unter anderem klar wurde, dass auch ein Abbiegeassistent nur dann Sicherheit für alle Beteiligten bietet, wenn beim Einbau dieser Technik keine Fehler gemacht werden.
Tödlicher Abbiegeunfall in HafenCity: „Was da passiert ist, wünsche ich keinem“
„Was da passiert ist, wünsche ich keinem“, sagt der Angeklagte über das Verkehrsunglück. „Ich fahre seit 34 Jahren Lkw; mir ist so was noch nie passiert.“ Mittlerweile habe er den Beruf gewechselt, arbeite jetzt als Maschinenführer auf einem Betriebsgelände und fahre unter anderem Radlader. „Es tut mir unendlich leid“, sagt er über den Tod der Radfahrerin. „Ich habe sie nicht gesehen. Es ging nur rechts, alles andere war gesperrt“, erinnert sich der Angeklagte an die damalige Verkehrsführung. Und er müsse bei seinem Lkw beim Anfahren ein gewisses Maß an Gas geben, „um überhaupt loszufahren“.
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Zudem war es damals wohl auch für Fahrer weniger breiter Autos nicht ganz einfach, ihre Wagen durch diesen Teil der Stadt zu lenken. Bilder und Videos, die damals von dem Straßenabschnitt gefertigt wurden, zeigen, dass eine Baustelle die Fahrbahn einengte und darüber hinaus eine der mobilen Begrenzungen sogar noch weiter auf die Straße ragt als andere. Auch mehrere Zeugen betonen am Dienstag im Prozess, die Straßenführung sei durch eine Baustelle damals sehr eingeengt gewesen.
Gefahr: Radfahrerin hatte auf dem Radschutzstreifen maximal einen halben Meter Platz
Eine Polizeibeamtin erklärt, der Radschutzstreifen habe seinerzeit auch von rechts abbiegenden Fahrzeugen befahren werden dürfen. Und die Radfahrerin habe „maximal einen halben Meter“ Platz auf dem Radfahrstreifen gehabt. Zudem habe ein Pfeil suggeriert, dass man an dieser Baustelle als Radfahrer auch geradeaus habe fahren dürfen, obwohl dies gar nicht erlaubt war. Drei Tage nach dem tödlichen Unfall wurde diese irreführende Markierung durch einen weiteren Hinweis aufgehoben.
„Plötzlich war sie da“, erinnert sich ein anderer Lkw-Fahrer, der nur ein paar Fahrzeuge hinter dem Sattelzug an der Ampel gestanden hatte, an die Radfahrerin. „Sie kam aus dem Nichts.“ Ein anderer Zeuge sagt, die 34-Jährige habe sich eng an dem Lkw vorbei Richtung Ampel bewegt, sei wohl in Eile gewesen.
Einer erzählt von „Earpods“, also Inohr-Kopfhörern, die nach dem Unglück auf der Straße gelegen hätten und die wohl der Radfahrerin zuzuordnen gewesen seien. War sie also abgelenkt? Und eine Zeugin, die ganz in der Nähe arbeitet, sagt: „Ich beobachte jeden Tag, dass Autofahrer auf den Radweg fahren, weil es einfach zu eng ist. Ich wundere mich, dass nicht mehr passiert.“
Tödlicher Unfall in der HafenCity: Vater sagt kleinem Sohn, seine Mutter sei jetzt „bei den Sternen“
Für das Opfer und seine Angehörigen jedoch war es das Schlimmste überhaupt, was geschehen konnte: eine junge Mutter, die nie wieder zu Mann und Kind zurückkommt. Nach dem Unglück hatte es in der Nähe der Unfallstelle eine Mahnwache gegeben, bei der sich einige Teilnehmer samt Fahrrädern auf die Straße gelegt hatten. Der Pastor der Hauptkirche St. Katharinen, Frank Engelbrecht, hatte am Unfallort eine Ansprache gehalten und unter anderem über die Verstorbene erzählt: „Ihr Mann hat dem Sohn gesagt: Sie ist bei den Sternen.“
Und auch für den Lkw-Fahrer war dieser Verkehrsunfall ein furchtbares Unglück. Zeugen erinnern sich, wie der 58-Jährige nach dem Unfall aus seinem Führerhaus des Sattelzuges kletterte, weinte und schrie. „Nein, nein, nein!“, habe der Hamburger immer wieder gerufen, erzählt eine Beobachterin. Ein anderer Mann sagt: „Für mich wirkte es, als sei sein Leben zusammengebrochen, weil er ein Leben genommen hat.“
Radfahrerin stirbt bei Unfall in HafenCity: Sie war so dicht am Lkw, dass Abbiege-Assistent nicht auslöste
Eine Sachverständige erläutert, dass der Unfall für den Lkw-Fahrer wohl vermeidbar gewesen wäre. Allerdings kämen in diesem konkreten Fall weitere Umstände hinzu, die zu bedenken seien. Radfahrer dürften zwar, wie Sabine R. es getan hat, grundsätzlich rechts an Autos vorbeifahren. Allerdings müsse dabei ein Mindestabstand von einem Meter eingehalten werden. „Das war hier nicht gegeben.“ Die 34-Jährige habe sich so dicht am Lkw vorbei bewegt, dass das Assistenzsystem des Sattelzuges nicht ausgelöst habe.
Dies liege aber auch daran, dass das Sicherheitssystem anders verbaut wurde als vom Hersteller vorgesehen, sodass der Bereich direkt neben dem Fahrzeug „nicht als Gefahrenbereich eingestuft wurde“. Zwar habe Andreas D. trotz nicht einwandfrei funktionierenden Assistenzsystems insgesamt mehrere Sekunden Zeit gehabt, die Radfahrerin neben seinem Fahrzeug zu bemerken. In einigen Augenblicken sei die Frau allerdings nur an der Peripherie eines einzelnen Rück- beziehungsweise Seitenspiegels zu erkennen gewesen. „Es ist die Frage, ob man zur richtigen Zeit in den richtigen Spiegel schaut.“
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Die Staatsanwältin plädiert schließlich auf eine Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu 70 Euro. Es habe ein „nur sehr kurzes Augenblicksversagen“ des Lkw-Fahrers gegeben, sagt sie. Der Verteidiger meint, sein Mandant müsse freigesprochen werden. Das Urteil: Der Angeklagte wird wegen fahrlässiger Tötung schuldig gesprochen und verwarnt, eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu 70 Euro vorbehalten.
Prozess nach Unfall in HafenCity endet: So fällt das Urteil aus
Diese sogenannte „Geldstrafe auf Bewährung“ sei das „mildeste Mittel“, was das Strafrecht als mögliche Sanktion biete, erklärt die Richterin. Fest stehe: „Es gab ein Unrecht.“ Dem Angeklagten sei vorzuwerfen, dass „er in letzter Konsequenz sechs bis acht Sekunden nicht perfekt aufmerksam gewesen ist“. Insgesamt handele es sich um ein „tragisches Geschehen“, bei dem viele Umstände zusammengekommen seien. „Man muss froh sein, dass so etwas nicht öfter vorkommt.“
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Dem Angeklagten sei vorzuwerfen, „dass er mal woanders hingeguckt hat als in den Spiegel“. Der Fall zeige auch, dass die Technik „nicht alle Probleme löst“. Denn hier habe das bei dem Lkw nur drei Monate zuvor eingebaute Abbiegeassistenzsystem, das wohl fehlerhaft installiert worden sei, „sogar befördert, dass eine Tragödie passiert“. Denn die Radfahrerin habe sich genau in dem Bereich neben dem Lkw bewegt, der nicht von dem Assistenzsystem erfasst wurde. Hier habe der Trugschluss bei dem Fahrer entstehen können: Wenn kein optisches oder akustisches Signal auftauche, „ist da nichts“.
Prozess Hamburg: „Da wächst jetzt ein kleiner Junge ohne Mama auf“
Es handele sich um den Tod einer jungen Frau, die eine Familie hinterlässt „und sich nicht anders verhalten hat, als viele andere es machen“, sagt die Richterin weiter. Dieser Fall habe jedoch eine „ganz schreckliche Konsequenz“, nämlich dass ein „sehr geliebter Mensch nicht mehr da ist. Und auch der Angeklagte muss damit leben, dass nichts mehr ist, wie es war.“
Die Richterin hat gerade die Urteilsbegründung beendet, da meldet sich ein Anwalt der Angehörigen, der mit den Hinterbliebenen im Zuschauerraum des Verhandlungssaals gesessen hat, zu Wort. „Die Eltern legen jetzt gleich Rechtsmittel ein“, sagt der Anwalt. Und die Mutter von Sabine R. ergänzt wenige Minuten später auf dem Gerichtsflur, sie könne nicht fassen, dass der Angeklagte nicht zu der Familie Kontakt aufgenommen und sich entschuldigt habe. „Ich bin schockiert, und ich fühle mich nicht gesehen“, sagt die Mutter. Und: „Da wächst jetzt ein kleiner Junge ohne Mama auf!“