Hamburg. „Egoismus“: Verband der Stadtteilschulen kritisiert Zwangswechsel scharf. Auch Sitzenbleiben soll in Hamburg wieder eingeführt werden.
Die Initiative „G9 Hamburg – mehr Zeit zum Lernen“, die vom 10. September an Unterschriften für die Wiedereinführung der neunjährigen Gymnasialzeit in Hamburg sammeln will, bekommt scharfen Gegenwind. Der Verband für Stadtteilschulen/GGG weist darauf hin, dass die Initiatoren in einem überarbeiteten Gesetzesentwurf auch wieder das Sitzenbleiben wieder leichter ermöglichen wollen. Und auch die Abschulung von Schülerinnen und Schülern vom Gymnasium auf die Stadtteilschule solle nicht nur wie bisher nach der sechsten Klasse, sondern am Ende jedes Schuljahrs bis zur zehnten Klasse möglich sein. Ein bei Eltern und Experten höchst umstrittenes Thema.
„Spätestens mit diesem verschärften Vorstoß“ zeige die Initiative „ihr wahres Gesicht“, heißt es von der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule (GGG), die heute die Stadtteilschulen vertritt. Sie sieht darin einen Angriff auf eben diese Stadtteilschulen in Hamburg. GGG interpretiert die Zielrichtung der Initiative „G9-Jetzt-HH“ so: „Die eigenen Kinder sollen unter allen Umständen ein Gymnasium besuchen. Die Stadtteilschule kommt erst nach mehrfachen Fehlversuchen auf dem Gymnasium in Betracht; aber das dann bitte jederzeit.“
„G9 Hamburg – mehr Zeit zum Lernen“ sammelt Unterschriften in Hamburg
Hintergrund: Die Volksinitiative „G9 Hamburg – mehr Zeit zum Lernen“, getragen von einer Gruppe Hamburger Eltern, will erreichen, dass alle Gymnasien in der Hansestadt wieder nach neun Jahren statt nach acht zum Abitur führen. Gute Bildung brauche Zeit, durch die Verdichtung bei G8 leide die Qualität des Unterrichts, auch hätten Schülerinnen und Schüler weniger Zeit für Hobbys, Interessen und ihre Persönlichkeitsentwicklung. Andere Bundesländer hätten die Schulzeitverkürzung an Gymnasien mittlerweile zurückgenommen – nicht so Hamburg. Der Vorstoß der Initiative sorgte bereits in der Vergangenheit für Streit.
Das Volksbegehren startet am 10. September. Dann werden in der ganzen Stadt Sammlerinnen und Sammler mit Unterschriftenlisten unterwegs sein. Benötigt werden für einen Erfolg rund 66.000 Stimmen binnen drei Wochen. Ziel ist ein bindender Volksentscheid, der am Tag der Wahl zur Bürgerschaft am 2. März 2025 oder zum Deutschen Bundestag im September 2025 stattfinden könnte.
„Heißes Eisen“: Zwangswechsler vom Gymnasium auf Stadtteilschule
Doch neben der grundlegenden Frage, ob Kinder acht oder neun Jahre ein Gymnasium besuchen, hat die Initiative zwei „heiße Eisen“ in ihren überarbeiteten Gesetzentwurf eingebaut: So soll das Sitzenbleiben wieder leichter ermöglicht werden. Hamburg hatte die Klassenwiederholungen aus pädagogischen Gründen 2011 zugunsten von besserer Förderung leistungsschwacher Schüler („Fördern statt Wiederholen“) abgeschafft und die Regelung nur während der Corona-Zeit angesichts der besonderen Belastungen vorübergehend aufgeweicht.
Zudem wird eine Durchlässigkeit zwischen Gymnasien und Stadtteilschulen auch von der siebten bis zur zehnten Klasse gefordert. Dahinter verbirgt sich die Abschulung von Kindern, die die ganze Mittelstufe über bei schwachen Leistungen auf die Stadtteilschule wechseln können sollen. Aus Sicht von GGG wird dadurch „die bisher schon unsägliche Praxis vieler Gymnasien, nach Jahrgang 6 jährlich Hunderte von Schüler*innen abzuschulen, statt sie zu fördern, deutlich erweitert. Diese Abschulungen von den Gymnasien sind und bleiben aus pädagogischen und lernpsychologischen Gründen ein Makel im Schulsystem. Sie beschädigen nachweislich die Lernbiografie eines Menschen, beschämen die betroffenen Kinder und bürden den Lerngruppen der Stadtteilschulen eine weitere Integrationsaufgabe auf.“ Der Verband der Stadtteilschulen, die GGG, hoffe, „dass das Vorhaben der Initiative mit ihrem vom puren Egoismus geleiteten Volksbegehren keinen fruchtbaren Boden findet“.
Initiative: „Nicht Portemonnaie soll entscheiden, wer sich Gymnasium leisten kann“
Die Volksinitiative „G9 Hamburg – mehr Zeit zum Lernen“ sieht das Ganze naturgemäß völlig anders. Sie kritisiert, dass bisher Kinder, die in der hochverdichteten Mittelstufe Schwierigkeiten entwickeln, bis einschließlich Klasse 10 durch das System gezogen würden. Auch sei der zusätzliche Förderunterricht, den diese Schülerinnen und Schüler erhalten, angesichts von ohnehin 34 Wochenstunden eine zu große Belastung. „Viele Eltern, die es sich leisten können, versuchen privat Nachhilfe zu organisieren. Das wird von uns deutlich kritisiert, denn nicht das Portemonnaie sollte entscheiden, wer sich das Gymnasium leisten kann“, heißt es von der Initiative.
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Die Schulbehörde wendet sich gegen die Wiedereinführung von G9. Senatorin Ksenija Bekeris (SPD) sieht „absolut keine Notwendigkeit“, am „erfolgreichen Zwei-Säulen-Modell zu rütteln“. Hamburg habe bereits ein gut funktionierendes Schulsystem mit zwei weiterführenden Schulformen, an denen sowohl G8 (an Gymnasien) als auch G9 (an Stadtteilschulen) möglich ist. „Schülerinnen und Schüler sowie Eltern nutzen diese Wahlmöglichkeit, etwa 50 Prozent entscheiden sich für die Stadtteilschule, die andere Hälfte für das Gymnasium“, so Bekeris. Auch verweist sie auf den in Hamburg vereinbarten Schulstrukturfrieden, „der den Schulen Zeit gibt, sich auf die Verbesserung von Bildung und Unterricht zu konzentrieren“.