Hamburg. Entscheidung rückt näher: Unterschriftensammlung beginnt. Was dafür- und dagegenspricht – und wie Initiative vor zehn Jahren damit scheiterte.
Die Sammlerinnen und Sammler hatten alles gegeben, der Enthusiasmus war groß – ebenso wie die Hoffnung, die Hamburger Schulstruktur per Volksentscheid zu kippen. Die Initiative „G9-Jetzt-HH“ wollte den Kindern an den Gymnasien wieder mehr Zeit zum Lernen geben und die Schulzeitverkürzung auf acht Jahre wieder zurückdrehen. Fast die ganze Stadt diskutierte damals Vor- und Nachteile des längeren Lernens und ob es richtig sei, Schülerinnen und Schülern mehr Raum zu geben für Freizeit, Hobbys, das Erlernen eines Instruments, Sport – insgesamt die Entwicklung ihrer Persönlichkeit ohne zu viel Schulstress.
Doch als die Sammelfrist um Mitternacht vom 8. auf den 9. Oktober 2014 endete, war schnell klar: Initiatorin Mareile Kirsch war an ihrem Ziel, per Volksentscheid an allen Hamburger Gymnasien die neunjährige Schulzeit zumindest als Option wieder einzuführen, gescheitert –, und zwar sogar unerwartet deutlich. Statt der damals für ein Volksbegehren notwendigen 63.000 Unterschriften waren in drei Wochen nur rund 43.000 Unterschriften zusammengekommen.
Schule Hamburg: G9 an Hamburgs Gymnasien – eine Entscheidung rückt näher
Fast ganz genau zehn Jahren nach dieser Niederlage kommt es nun zu einem neuen Anlauf unter anderer Fahne. Die Volksinitiative „G9 Hamburg – mehr Zeit zum Lernen“, getragen von einer Gruppe Hamburger Eltern, will erreichen, dass alle Gymnasien in der Hansestadt wieder nach neun Jahren statt nach acht zum Abitur führen. In der ersten Stufe der Volksgesetzgebung hatte sie bis Dezember vergangenen Jahres die erforderlichen 10.000 Unterschriften gesammelt, um die zweite Stufe nehmen zu können.
Das Volksbegehren soll nun am 10. September starten. Dann werden in der ganzen Stadt wieder Sammlerinnen und Sammler mit Unterschriftenlisten unterwegs sein. Damit das Volksbegehren erfolgreich ist, sind die Stimmen von mindestens einem Zwanzigstel der wahlberechtigten Hamburgerinnen und Hamburger erforderlich – angesichts der gewachsenen Einwohnerzahl sind das jetzt knapp 66.000 Stimmen.
Volksbegehren: Schon am 20. August startet Briefwahl
Drei Wochen haben die Initiatoren Zeit, um auf Listen genügend Unterschriften von Hamburgerinnen und Hamburgern ab 16 Jahren zu sammeln. Dokumente zur Briefwahl können bereits ab 20. August abgerufen werden. Die Elterninitiative möchte an den Hamburger Gymnasien zum nächstmöglichen Zeitpunkt wieder das Abitur nach neun Jahren einführen. Ziel sei ein bindender Volksentscheid, der am Tag der Wahl zur Bürgerschaft am 2. März 2025 oder zum Deutschen Bundestag im September 2025 stattfinden könnte, sagte Sammar Rath, eine Sprecherin der Initiative, der Deutschen Presse-Agentur. Für Initiativen ist es wichtig, dass ein Volksentscheid am Tag einer größeren Wahl stattfindet, weil da viele Menschen ohnehin an den Wahlurnen sind.
Beteiligen können sich Hamburgerinnen und Hamburgern ab 16 Jahren. Unterschriftenlisten wird es auf der Website der Initiative unter www.g9-hamburg.de geben. Dokumente zur Briefwahl können aber bereits ab 20. August abgerufen werden. Die Frist der öffentlichen Unterschriftensammlung endet am 30. September.
Acht Jahre zum Abitur – für die meisten Parteien ein politischer Fehler
An dem Thema scheiden sich die Geister in höchstem Maße. Zwar betrachten die meisten Hamburger Parteien die Verkürzung der Schulzeit an Gymnasien von neun auf acht Jahre, aufwachsend vom Schuljahr 2002/03 an, mittlerweile als Fehler – oder sehen zumindest die vielen Nachteile der Reform, die andere Bundesländer mittlerweile dazu gebracht haben, diese zurückzudrehen. Strittig ist aber, ob es wirklich richtig ist, die Schulstruktur nochmals zu ändern, das Hamburger Schulwesen damit erneut auf Jahre hinaus zu belasten und zur Baustelle zu machen. Auch würde eine Rückkehr zu G9 an Gymnasien mutmaßlich die 2010 als zweite Säule eingeführten Stadtteilschulen schwächen, an denen das Abitur in neun Jahren möglich ist.
Die Elterninitiative „G9-Jetzt-HH“ möchte sukzessiv vorgehen und das Abitur nach neun Jahren an den Hamburger Gymnasien zwar zum nächstmöglichen Zeitpunkt einführen, aber jahrgangsweise hochwachsend. „Wir haben unsere Forderung für eine Übergangslösung angepasst. Wir möchten flexible und individuelle Lösungen für die Kinder zusammen mit den Schulen finden und die Schulen durch eine zu abrupte Umsetzung des G9-Gesetzes nicht überlasten. Das heißt, dass das G9-Gesetz ab Klasse 5 umgesetzt wird und durch langsames Hochwachsen eine Anpassung der Strukturen und Ressourcen ermöglicht“, heißt es von der Initiative.
Initiative: Klassenwiederholung als individuelle Schulzeitverkürzung
Aber auch Jugendliche in höheren Jahrgängen sollten profitieren und ihre Schulzeit durch die nach der Corona-Pandemie wieder abgeschaffte Möglichkeit einer freiwilligen Klassenwiederholung individuell verlängern können. Zudem solle die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen zwischen den Jahrgangsstufen 7 bis 10 erhöht werden.
„Gute Bildung braucht Zeit“, heißt es vonseiten der Initiative. Sie möchte „eine qualitätvolle Lernzeitverlängerung“ erreichen und verweist eben auch darauf, dass die Schulzeitverkürzung auf acht Jahre in den meisten anderen Bundesländern wieder zurückgenommen wurde – nicht aber in Hamburg. Es sei keine Chancengleichheit, wenn Hamburger Gymnasiasten bereits nach zwölf Jahren ihr Abitur schreiben müssten und Gymnasiasten in anderen Bundesländern erst nach 13 Jahren.
Eltern glauben: Durch G8 leidet Qualität des Unterrichts an Hamburgs Schulen
Durch G8 leide die Qualität des Unterrichts, hatten Iris Wenderholm und Gunnar Matschernus von der Initiative dem Abendblatt schon im Januar gesagt. Im Vordergrund stehe wegen des Zeitdrucks die Stoffvermittlung. Weniger Zeit als früher bleibe für das sogenannte kompetenzorientierte Lernen, für das Nachdenken und die Diskussion über viele Themen in Fächern von Deutsch bis Physik, für Persönlichkeitsentwicklung und soziale Reife. „Wir marschieren hier in eine völlig falsche Richtung“, so Gunnar Matschernus.
In Hamburg herrscht seit 2010 ein sogenannter Schulfrieden, den die Fraktionen von SPD, Grünen und der damals noch als Fraktion in der Bürgerschaft vertretenen FDP zuletzt 2019 in einer Rahmenvereinbarung verlängert hatten. Sie sieht vor, dass an der bestehenden Struktur aus Grundschule, Stadtteilschule und Gymnasium bis 2025 nichts verändert wird – unabhängig davon, wer künftig die Regierung stellt.
Was Schulsenatorin Bekeris zur G9-Initiative sagt
Die Initiative nennt das Festhalten an G8 dagegen verantwortungslos – sie sieht darin „ein bequemes Ausruhen auf einem umstrittenen Schulfrieden und auf dem Rücken von 60.000 Hamburger Gymnasiastinnen und Gymnasiasten“.
- „Sind entsetzt“: Streit unter Eltern um G9 spitzt sich zu
- Diese neuen Schulen starten nach den Sommerferien
- 1000 Euro! Warum Einschulung in Hamburg so teuer ist
Die Schulbehörde lehnt die Forderungen der Initiative ab. Senatorin Ksenija Bekeris (SPD) sieht „absolut keine Notwendigkeit“, am „erfolgreichen Zwei-Säulen-Modell zu rütteln“. Hamburg habe bereits ein gut funktionierendes Schulsystem mit zwei weiterführenden Schulformen, an denen sowohl G8 (an Gymnasien) als auch G9 (an Stadtteilschulen) möglich ist. „Schülerinnen und Schüler sowie Eltern nutzen diese Wahlmöglichkeit, etwa 50 Prozent entscheiden sich für die Stadtteilschule, die andere Hälfte für das Gymnasium“, so Bekeris auf Abendblatt-Anfrage. Darüber hinaus gebe es zum neuen Schuljahr insgesamt sechs Stadtteilschulen, die sowohl einen acht- als auch einen neunjährigen Weg bis zum Abitur anbieten.
Auch sie verweist auf den Schulfrieden, „der den Schulen Zeit gibt, sich auf die Verbesserung von Bildung und Unterricht zu konzentrieren. Wenn wir jetzt wieder mit dem großen Umbau der Schulstruktur beginnen und Reformstress an den Schulen auslösen, hat jahrelang niemand mehr die Zeit, das zu tun, was Kindern und Jugendlichen wirklich nützt: den Unterricht und die Schulqualität Schritt für Schritt zu verbessern.“ Sprich: Wird an der Schulstruktur gerüttelt, wird Hamburgs Schulwesen erneut auf Jahre zur Baustelle.
CDU will eigene Vorschläge zur Entlastung der Schüler machen
Und was sagte die größte Oppositionspartei? Dennis Thering, Vorsitzender der CDU-Fraktion, hatte jetzt im Abendblatt-Interview ebenfalls die hohe Belastung der Schülerinnen und Schüler an den Gymnasien beklagt. Es könne nicht sein, dass diese keine Zeit mehr hätten für Freunde, Hobbys und die Familie. „Deshalb können wir nicht einfach so weitermachen wie bisher“, sagte er. Eine Rückkehr zu G9 würde aber auch bedeuten, dass Hamburg ca. 500 neue Lehrer braucht und mehr Raum an den Schulen für den zusätzlichen Jahrgang. „Wenn wir den sogenannten Schulstrukturfrieden über diese Legislaturperiode hinaus verlängern wollen, dann wird das mit der CDU nur gehen, wenn es eine gezielte Entschlackung der Lehrpläne gibt.“ Dazu werde die CDU in Kürze einen Vorschlag machen.
Zur Volksinitiative für eine Rückkehr zu G9 sagte Thering auf Anfrage: „Der Standpunkt der CDU Hamburg dazu ist, dass wir uns an den Schulstrukturfrieden wie zugesagt bis 2025 halten werden. Zum gegebenen Zeitpunkt werden wir beraten, wie wir uns nach Ablauf der aktuell gültigen Schulfriedensvereinbarung verhalten werden.“
Schule Hamburg: Worauf es bei einer erfolgreichen Volksinitiative ankommt
Das Thema entzweit und ist auch unter Eltern umstritten. Die Hamburger Gruppe des bundesweiten Bündnisses „Bildungswende jetzt“ hatte sich schon vor einigen Monaten gegen die G9-Initiative gewendet und einen Brief an Hamburgs Schulsenatorin Ksenija Bekeris (SPD) geschrieben. Die Eltern. Lehrer und Schüler der Gruppe appellierten: „Bitte verhindern Sie G9 an den Gymnasien, damit die Stadtteilschulen nicht dadurch geschwächt werden, dass die Vielfalt dort abnimmt, weil Familien dem sozialen Sog einer vermeintlich homogenen, leistungsstarken und ,sozialverträglichen‘ Lerngruppe nicht mehr standhalten können.“
Wenn die Initiative ab 10. September allerorts Unterschriften sammelt, wird dieser Streit gewissermaßen auf die Straße getragen. Die Erfahrung zeigt, dass für den Erfolg eines Volksbegehrens allerdings nicht nur gute Argumente wichtig sind. Entscheidender ist, welche Schlagkraft eine Initiative hat. Entweder hat sie eine gewaltige Zahl freiwilliger Helfer, die Tag für Tag mit Unterschriftenlisten über Straßen und Märkte ziehen, denn drei Wochen sind nicht eben lang für das Sammeln von 66.000 Unterschriften. Oder eine Initiative verfügt über viel Geld in Form von Spenden für aufwendige Kampagnen und die Anheuerung professioneller Unterschriftensammler (wie einst die Elterngruppe „Wir wollen lernen“, die 2010 die Primarschulreform in Hamburg per Volksentscheid kippte). Dritte Möglichkeit schließlich: Man kann auf die Infrastruktur und das Know-how kampagnenerprobter Institutionen wie Gewerkschaften, Umweltverbänden oder Parteien zurückgreifen.
Das alles war bei der Initiative „G9-Jetzt-HH“ vor zehn Jahren nicht vorhanden. Man darf skeptisch sein, ob das bei der jetzigen Volksinitiative „G9 Hamburg – mehr Zeit zum Lernen“ anders ist.
Mehr über Schule und Bildung in Hamburg lesen Sie hier.