Altona/Ottensen. Aus Einkaufszentrum wird Schule: Warum es keine Klassenräume gibt und Schüler im Stehen, Sitzen oder sogar Liegen lernen dürfen.

  • Schule soll 2027 an den Start gehen
  • Warum es keine Klassenzimmer und Pausen gibt
  • Verzicht auf Arbeitsblätter und Hefte

Diese Schule in Hamburg soll einzigartig in Deutschland werden. Ein Einkaufszentrum wird zu einer modernen Schule umgebaut. So einmalig wie die Umnutzung des ehemaligen Vivo in Altona ist auch das Konzept der Stadtteilschule Ottensen. Denn in der neuen Schule, die 2027 an den Start gehen soll, gibt es keine typischen Klassenzimmer.

Stattdessen stehen den Schülerinnen und Schülern offene Lernkompartiments von mehreren Hundert Quadratmetern zur Verfügung. Diese sind in fünf verschiedene Bereiche unterteilt, die offen ineinander übergehen und unterschiedlich ausgestattet sind. Das Motto: Von der Flurschule zur Lernlandschaft.

Die Schülerinnen und Schüler entschieden selbst, wann, wie und wo sie lernen möchten: in Gruppenarbeit oder alleine, mit Unterstützung eines Lehrenden oder eigenverantwortlich, im Stehen, Sitzen oder sogar Liegen. Festgelegte Pausen gibt es nicht. Sogar Schlafen ist erlaubt.

Neue Schule in Hamburg erlaubt sogar das Schlafen im Unterricht

„Wenn jemand konzentriert arbeitet, soll er nicht unterbrochen und zu einer Pause ,gedrängt‘ werden. Auf der anderen Seite sollen Kinder und Jugendliche, die erschöpft oder unkonzentriert sind, selbst entscheiden können, ob sie sich austoben oder ausruhen möchten. Sie haben sogar die Möglichkeit, kurz zu schlafen, damit sie danach wieder frisch sind und lernen können. Dies Bedürfnis zu erkennen, ist auch ein Lernprozess“, sagt Britta Heils, die Schulleiterin der Stadtteilschule Ottensen. Ihre Devise: Pausen sollen den Lernprozess nicht störend unterbrechen, sollen nicht künstlich gesetzt werden, sondern sich an den Lernmöglichkeiten der einzelnen Kinder und Jugendlichen orientieren.

Heils ist seit mehr als acht Jahren Leiterin der Schule Bahrenfelder Straße und arbeitet seit fast 30 Jahren in der Bildung in unterschiedlichen Bereichen. „Aus diesem Erfahrungsschatz ist ein pädagogisches Konzept entstanden, das vermutlich einzigartig ist“, sagt Britta Heils. Was ihr besonders wichtig ist: „Ziel ist es, allen Schülern und Schülerinnen den individuell besten Weg in einem gesellschaftlichen Miteinander zu einem gelungenen Bildungsabschluss zu ermöglichen.“

Die Leiterin der neuen Stadtteilschule Ottensen: Britta Heils.
Die Leiterin der neuen Stadtteilschule Ottensen: Britta Heils. © privat | Privat

Hamburg: Die neue Stadtteilschule Ottensen wird deutschlandweit einmalig

In der neuen Stadtteilschule, die von Britta Heils und ihrem Team liebevoll „Otti“ genannt wird, steht das Voneinanderlernen im Vordergrund, das gegenseitige Unterstützen, Beobachten, Erproben und Nacheifern. Die Rolle des Lehrenden wird neu definiert.

„Wir verstehen Lehrende als eine Art Lernbegleitung, die die Schüler und Schülerinnen beim ,Wachsen´ unterstützen und ihnen vertrauen, die die Lernwege im Blick haben und begleiten. Sie haben nicht die Aufgabe, alles zu wissen und erklären zu müssen. Sie befinden sich ebenfalls in einem immerwährenden Lernprozess.“, so die Schulleiterin.

An der Otti soll es keinen vorgeschriebenen Lernweg geben, vielmehr sei eine Vielzahl von Herangehensweisen erwünscht, die durch unterschiedliche Materialien, Methoden, Menschen, Zeiten und Orte unterstützt werden soll. „Gelernt wird im eigenen Takt und ohne Barrieren. Lernen braucht Beratung und Begleitung, Zeit und individuelle Arrangements“, so die Devise an der Stadtteilschule Ottensen, die den Schülerinnen und Schülern dafür verschiedene Lernräume mit unterschiedlichen Schwerpunkten und verschiedenen Möglichkeiten der Lernbegleitung zur Verfügung stellen wird.

Schüler lernen im Stehen, Sitzen und Liegen

Diese Lernbereiche sind unter anderem vorgesehen: ein großer Raum fürs Plenum, zum Ankommen, zur Kommunikation, für Präsentationen in der Großgruppe. Ein Bereich für ruhiges Arbeiten in Sesseln, an Sitz- und Stehtischen. Ein Ort für die Arbeit in miteinander kommunizierenden Kleingruppen zum Beispiel in Fremdsprachen, ein Arbeitsbereich der Handlungsorientierung für die Naturwissenschaften. Und ein Bereich zur Entspannung, außerdem Flächen für gezielte Bewegung. 

Auf den Einsatz von Arbeitsblättern und Arbeitsheften soll laut Heils „zugunsten der Handlungsorientierung sowie einer sinnvollen digitalen Umsetzung so weit wie möglich verzichtet werden“. Stattdessen sollen die Kinder und Jugendlichen ihre Lernergebnisse in Präsentationen und in einer digitalen Lernentwicklungsmappe dokumentieren und darauf digitale Rückmeldungen bekommen. Dafür erhalten Lernende und Lehrende optimalerweise an der Schule digitale Endgeräte.

Statt Sportunterricht: Bouldern und Yoga in der Stadtteilschule Ottensen

Eine besondere Bedeutung kommt der Bewegung zu. „In diesem großen Gebäude wird es vielfältige Bewegungsmöglichkeiten geben, die jederzeit praktiziert werden können – zum Beispiel auch auf dem Weg von einem Ort zum anderen“, verspricht Britta Heils. Sport und Bewegung seien nicht nur integraler Bestandteil des Konzepts, sondern auch eine fundamentale Basis.

Da es keine eigene Sporthalle gibt, kann der Sportunterricht nicht durchgehend in der klassischen Form stattfinden, doch das Sportkonzept ermögliche neben den geforderten Inhalten laut Heils eine Vielfalt der Sportarten wie Bouldern, Fitness, Frisbeegolf, Skateboardfahren, Slackline, Street Racket, Tanzen, The Parcours oder Yoga. Zudem kann mit umliegenden Sportstätten ein Netzwerk Sport aufgebaut werden.

Das Staffelgeschoss wird als einziger Bereich zurückgebaut. Die Fläche auf dem Dach wird begrünt und zum Erholungsort für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Auf dem Weg zu einer modernen Schule: Der ehemalige Schulsenator Ties Rabe (von links), Thorsten Altenburg-Hack (Landesschulrat), Mandy Herrmann (Geschäftsführerin Schulbau Hamburg), Britta Heils (Gründungsschulleiterin der Stadtteilschule Ottensen) und Michael Specht (Architekturbüro agn leusmann) bei der Präsentation des Projektes.
Auf dem Weg zu einer modernen Schule: Der ehemalige Schulsenator Ties Rabe (von links), Thorsten Altenburg-Hack (Landesschulrat), Mandy Herrmann (Geschäftsführerin Schulbau Hamburg), Britta Heils (Gründungsschulleiterin der Stadtteilschule Ottensen) und Michael Specht (Architekturbüro agn leusmann) bei der Präsentation des Projektes. © SBH | Schulbau Hamburg | SBH | Schulbau Hamburg

Hamburg: Auf dem Dach entsteht ein Schulhof

Das Vivo wurde um die Jahrtausendwende als ökologisches Einkaufs- und Dienstleistungszentrum konzipiert und erstellt, hatte jedoch von Anfang an mit Leerständen zu kämpfen. Jährlich zahlte die Stadt rund 1,8 Millionen Euro, um die Verluste auszugleichen. 

Angesichts rasant steigender Schülerzahlen in der Region fiel 2019 die Entscheidung, das Gebäude in dem dicht besiedelten Stadtteil für eine zeitgemäße, fünfzügige Stadtteilschule zu nutzen.

Das Besondere: Um Ressourcen und Klima zu schonen, soll von der alten Bausubstanz so viel wie möglich erhalten und gleichzeitig der Bedarf einer Schule optimal berücksichtigt werden. Baubeginn ist 2025.

20.000 Quadratmeter für etwa 1000 Schüler

Auf einer Gesamtnutzfläche von 20.000 Quadratmetern wird Platz für bis zu 1060 Schülerinnen und Schüler sein. Die begrünte Dachlandschaft soll als zusätzlicher Pausen-, Bewegungs- und Erholungsort dienen.

„Dieses deutschlandweit einzigartige Projekt der ressourcenschonenden Umwandlung eines Einkaufszentrums in eine Schule ist vorbildlich und hochinnovativ insbesondere für dicht bebaute Innenstadtquartiere und gleichzeitig eine pädagogisch interessante Aufgabe für den Schulbetrieb“, so Schulsenatorin Ksenija Bekeris (SPD).

Einkaufszentrum wird zur Schule ohne Klassenzimmer

So offen wie das Lernkonzept soll die ganze Schule gestaltet werden – unter Mitwirkung der Lernenden. „Wir sehen unsere Schule auch als eine Art von Begegnungsort für die Menschen im Stadtteil“, sagt Britta Heils. Aus diesem Grund solle die Schule nicht nach Unterrichtsschluss geschlossen, sondern bis in den Abend sowie am Wochenende offen stehen.

Die Schule solle ein Lern- und Lebensort werden, den die Lernenden gerne aufsuchen. Die Tagesstätte „Leben mit Behinderung“ gehört dazu und soll in der Gemeinschaft mitwirken.

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Im Erdgeschoss sind verschiedene Werkstätten (Holz, Metall, Kunst, Stoff, Fahrrad, digital), die Küchen-Werkstatt mitsamt einer Mensa, eine naturwissenschaftliche Lernfläche, eine Schulfirma, ein Co-Working-Space, ein Restaurant und ein Café sowie ein großer Veranstaltungsbereich mit einer Theaterbühne und Übungsboxen für Musizierende geplant.

„Die Zukunft braucht weltoffene, politisch-kompetente und handlungsfähige Menschen, die sich für nachhaltige und soziale Lösungen einsetzen, lokal und global. Dies wollen wir durch das Konzept der Stadtteilschule Ottensen Schule der reflektierten Bildung für nachhaltige Entwicklung umsetzen“, so Britta Heils.