Hamburg. Hoffnung auf die Fußball-Europameisterschaft: Vieles erinnert gerade an 2006. Überwinden wir auch jetzt Pessimismus und Miesepetrigkeit?
Es ist jetzt 18 Jahre her – und doch wieder aktuell. Ende Mai, kurz vor der Eröffnung der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland, luden die Stadt Hamburg und der Fensterhersteller Velux auf das damals noch graue Dach des Feldstraßenbunkers. An dieser exponierten Stelle sollten sich die internationalen Journalisten während des Turniers in einem Pressezentrum auf 39 Metern Höhe einen Überblick verschaffen über Stadt, Land und das Fan-Fest auf dem Heiligengeistfeld. Die Mischung aus Bar, Beach-Club und Büro wurde später ein Riesenerfolg.
An diesem Maitag bei der Vorstellung aber erwarteten alle ein Desaster. Es stürmte, novembergrau lag der Himmel über Hamburg, es regnete Hunde und Katzen. Und die anwesenden Medienvertreter rätselten, was das größere Fiasko wird: die Fußball-Weltmeisterschaft im misslaunig-verregneten-ausländerfeindlichen Deutschland oder ein Veranstaltungsort ausgerechnet auf einem Nazi-Hochbunker. Selbst Bürgermeister Ole von Beust, ein notorischer Optimist, wirkte an diesem Tag wenig überzeugt.
Fußball-Weltmeisterschaft 2006: Vor dem Sommermärchen herrschte tiefste Depression
Bevor das Sommermärchen am 9. Juni mit fünf Wochen Sonne und einem 4:2 gegen Costa Rica begann, herrschte Weltuntergangsstimmung im Land. 4,5 Millionen Menschen waren damals ohne Arbeit, die Arbeitslosenquote lag bei 12 Prozent. Ein Jahr zuvor hatte das Land der heruntergezogenen Mundwinkel eine neue Kanzlerin gewählt, die viel weitgehendere Reformen versprochen hatte als die, die Gerhard Schröder gewagt hatte.
Zusätzlich zur miesen Stimmung im Land warnten die Linken vor der Ausländerfeindlichkeit der Deutschen. Ex-Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye schwadronierte von „No-go-Areas“ für dunkelhäutige WM-Gäste, die natürlich alle im Osten lagen. „Es gibt kleine und mittlere Städte in Brandenburg und anderswo, wo ich keinem, der eine andere Hautfarbe hat, raten würde, hinzugehen. Er würde sie möglicherweise lebend nicht mehr verlassen“, sagte er.
Vor dem Fußball-Turnier in Deutschland Pessimismus, danach Euphorie
Die eigenen Landsleute waren schon damals die Einzigen, die man nach Lust und Laune stigmatisieren durfte. Viele stimmten mit ein: Der Fraktionschef der Grünen im Europaparlament, Daniel Cohn-Bendit, unterstützte Heye und erzählte, auch Mecklenburg-Vorpommern sei gefährlich. Auch Omid Nouripour gab Heye ausdrücklich recht.
„Die Welt zu Gast bei Freunden?“ Das konnte doch nichts werden.
Was folgte, war der schönste und entspannteste Sommer der vergangenen Jahrzehnte. Die Deutschen entdeckten eine Gastfreundschaft, eine Lockerheit und eine Fröhlichkeit an sich, die sie sich nie zugetraut hatten. Plötzlich konnten wir uns mal gern haben.
Die deutsche Nationalmannschaft spielte ganz anders, als man sie bis dato kannte
Einen beträchtlichen Anteil daran hatte die deutsche Fußballmannschaft, die nicht nur die alten Tugenden, sondern modernem Offensivfußball beherrschte und mit Gerald Asamoah, Miro Klose, Lukas Podolski oder David Odonkor auch ein sympathisches multikulturelles Gesicht zeigte. Zugleich bewiesen die Fans, dass man fröhlich patriotisch sein kann, ohne dem nationalistischen Irrsinn zu verfallen. Ein ganzes Land strafte den Miesepetern in Politik und Medien Lügen.
Einen Sommer lang spürten viele, dass wir nicht nur besser sind, als manche sagen, sondern auch sympathischer, als wir selbst glaubten. „Auch wenn Deutschland nicht im Finale stand, hat es schon gewonnen, denn es hat die beste WM aller Zeiten ausgerichtet und die Nation in dieser Anstrengung vereint“, sagte damals Uno-Generalsekretär Kofi Annan. Sogar in Zahlen und Daten lässt sich das Fußball-Fest feiern: Volkswirte berechneten einen Gesamtimpuls auf die Wirtschaft von bis zu zehn Milliarden Euro, das Bruttoinlandsprodukt wuchs um 0,3 Prozentpunkte.
Deutschland benötigt einen Impuls in Europameisterschaft und Emotionen
Einen solchen Impuls – ob in Euro oder Emotionen – kann die Bundesrepublik auch heute gut gebrauchen. Müde, verzagt und ausgelaugt präsentiert sich die Nation, das Negative steht im Fokus, das Positive wird übersehen. Das Einzige, was noch auffällt: Hinter jede Ecke steht, in jedem „Pony“ singt ein Nazi. Deutschland, eine einzige No-go-Area.
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In 13 Tagen beginnt die EM. Höchste Zeit, das schiefe Selbstbild geradezurücken, Europa so gastfreundlich wie fröhlich zu empfangen - und begeisternden Fußball zu spielen. Wenn das alles klappt, muss man das Turnier auch nicht gewinnen. Das wäre ein viel größerer Sieg.