Hamburg. Das Leben in Hamburg ist manchmal anstrengend – auch deshalb, weil Hamburg eine Großstadt ist.

Dieser Tage musste ich wieder an den großen Kurt Tucholsky denken. Zwar lebte der Dichter und Spötter in Berlin und betrachtete die Welt vor 100 Jahren – aber so viel hat sich seitdem offenbar nicht verändert. Manche spielen heute die Kriegsbegeisterung von 1914 nach, und an den Universitäten üben gebildete Barbaren schon wieder 1933, dieses Mal tobt sich der Antisemitismus unter neuen Fahnen aus. Aber reden wir lieber von etwas anderem. Reden wir über das Phänomen Stadt. Reden wir über Hamburg. Tucholsky dichtete einst:

Ja, das möchste

Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,

vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße

mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,

vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn – aber abends zum Kino hast dus nicht weit.

Tucholskys Ideal teilen heute viele, ohne die Ironie zu verstehen

Tucholskys Ideal teilen heute viele. Dummerweise haben sie seine Ironie nicht ganz verstanden. Denn die Zahl der Klagen und Beschwerden nimmt in Hamburg unverdrossen zu. Zwar wollen alle in der Stadt leben, aber nicht die Zumutungen und Ungemütlichkeiten dieses Lebens als Nebenwirkung akzeptieren. Besonders bunt fand ich zuletzt die Einlassungen der Bewohner im Schanzenviertel, denen es zu laut geworden ist.

Nun ahnt ein jeder, dass es leisere Ecken in der Welt gibt als die Nachtjackenviertel einer Metropole. Aber bei allem Verständnis: Kann irgendjemand, der in den vergangenen Jahrzehnten in die Schanze gezogen ist, wirklich verwundert sein über den Lärm von Feierbiestern? Es ist ein Szeneviertel.

Leben in der City heißt eben auch: Kompromisse eingehen

Und die Stadt hat schon manches zur Linderung des Leids der Lärmgeplagten erlassen. In der Susannenstraße darf die Außengastronomie von Sonntag bis Donnerstag nur noch bis 22 Uhr, am Wochenende bis 23 Uhr öffnen. Politiker der Linken denken schon über eine Sperrstunde um 20 Uhr nach. Was zweierlei zeigt: Der demografische Wandel macht auch vor Altlinken nicht halt – und bald fahren die Hamburger vielleicht zum Feiern nach Pinneberg.

Aber das Leben der großstädtischen Zumutungen betrifft bei Weitem nicht nur die Szeneviertel. In der HafenCity kämpfen immer mehr Bauherren mit klagelustigen Anwohnern – diese fordern, jeden Buchstaben des Kleingedruckten penibel einzuhalten, der sie vor Baulärm, Staub und Unbill schützen soll. Das mag man individuell verstehen – aber kann es ernsthaft einen Menschen überraschen, dass die größte innerstädtische Baustelle Europas nicht so leise ist wie ein Sanatorium in den Davoser Alpen?

Überall gern – nur nicht in meinem Hinterhof?

Auch Nachverdichtung klingt in den Ohren vieler Städter inzwischen nicht nach Notwendigkeit, sondern eher wie Nagelpilz und Nesselsucht. Kaum einer möchte, dass Landschaftsschutzgebiete zubetoniert werden. Aber noch weniger möchten, dass das leere Grundstück oder die Grünfläche im Hinterhof bebaut werden. Die Angloamerikaner haben für diese Volksbewegung einen Namen geprägt: Nimbys, für Not In My Backyard – nicht in meinem Hinterhof.

Flüchtlingsunterkünfte etwa halten die meisten Deutschen in der Ferne für eine prima Sache. Nur wenn sie näher rücken oder gar in der Nachbarschaft eröffnen, haben Anwohner immer viele Argumente parat, warum es ausgerechnet an diesem Ort gerade nicht geht. Und wenn zwei neue Unterkünfte für Obdachlose in Niendorf eröffnen sollen, sind die Anwohner schnell auf Zinne und fürchten um ihr „Bullerbü“.

Eine Großstadt darf, kann und will kein „Bullerbü“ sein

Bei allem Verständnis für die Ängste und Sorgen, die es gilt ernst zu nehmen: Eine Großstadt ist niemals Bullerbü; Bullerbü ist ein Flecken irgendwo im småländischen Kosmos der Schriftstellerin Astrid Lindgren. Ein Fantasieort vom Beginn des vergangenen Jahrhunderts, der mit der Realität von heute recht wenig gemein hat.

Aber vielleicht ist auch in Vergessenheit geraten, dass Großstadt eben viel mit Dichte zu tun hat. Man muss Abstriche bei der unverfälschten Natur machen, mitunter Dreck, Staub und Lärm ertragen, dafür aber bekommt man das Leben der Großstadt: In Bullerbü gibt es kein Theater, kein Restaurant, keinen Musik-Club, weder Latte macchiato noch Secondhandshop. Der einzige Handwerker ist ein griesgrämiger Schuster, der nächste Laden einen Tagesmarsch entfernt.

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Also suchen wir Trost bei Tucholsky:

Jedes Glück hat einen kleinen Stich

Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten

Daß einer alles hat: das ist selten.