Das WM-Aus passt zur Lage im Land: Wir bekommen unsere Stärken nicht mehr auf den Platz, wirken satt und selbstzufrieden. Ein Essay.

„Das kommt davon, wenn man sich nicht auf Fußball konzentriert.“ Ein berühmter Sportjournalist aus Katar mit über 400.000 Followern bei Twitter brachte es nach der entscheidenden 1:2-Pleite gegen Japan auf den Punkt. In den Tagen zuvor gab es hierzulande kaum ein anderes Thema als das Tragen der „One Love“-Binde.

Zweifellos ist der Kampf um die Rechte der LGBTQ-Bewegung richtig und wichtig, die völlige Fixierung in Medien, Politik und Fußballverband aber auf diese eine Frage lässt nicht nur Fans ratlos zurück. Worum ging es noch in Katar?

Zur Erinnerung: Um Fußball. Wer erst einen Bückling macht, um Gas zu bekommen, sollte sich nicht ein halbes Jahr später als Oberlehrer aufspielen. Weltmeister im Besserwissen sind die Deutschen inzwischen, Weltmeister im Fußball werden sie nicht mehr.

Holland konzentriert sich bei der WM auf Fußball

Auch Holland diskutierte über die bunte Binde, bis Trainer Louis van Gaal die Debatte mit einem Machtwort beendete: „Ich werde nicht länger über politische Themen sprechen“, sagte er vor dem Eröffnungsspiel gegen Senegal. „Ich habe auch all meinen Spielern gesagt, das zu unterlassen, einen Punkt zu setzen und sich auf das Turnier zu konzentrieren.“ Er wolle Weltmeister werden. Im Fußball wohlgemerkt.

„Für mich ist die Nationalmannschaft immer ein bisschen Spiegelbild der Gesellschaft“, sagte Teammanager Oliver Bierhoff 2018. Dieser Satz hat nichts von seiner Gültigkeit verloren. Die Geschichte des Landes und ihres wichtigen Aushängeschildes sind eng miteinander verwoben: 1954 wurde der Triumph der Nationalmannschaft getragen vom Wunsch, wieder ein Teil der Völkergemeinschaft zu werden – nach dem Wunder von Bern „war man wieder wer“.

Eine Elf als Spiegel des Landes

20 Jahre später präsentierten sich ein Land und eine Mannschaft im Aufbruch, wollte mehr Demokratie und Neues wagen – und wurde Weltmeister. Die Sieger der magischen Nacht von Rom 1990 hatten den Rückenwind von Mauerfall und Wiedervereinigung. 2014 wiederum stürmte eine multikulturelle Mannschaft bis zum Titel und vertrat ein Land, das in sich ruhte. Damals standen Team und Land im Zenit ihres Erfolges, seitdem ging es erst langsam, nun beschleunigt bergab.

So spiegelt die Art und Weise des 1:2 gegen den krassen Außenseiter Japan mit all seinen Begleitgeräuschen die aktuelle Lage. Es dauerte nicht lange, bis sich Selbsthass und Häme im Netz verbreiteten. „Vom Regenbogen in die Traufe“, hieß es da. Und: „Das Land der aufgehenden Sonne besiegt das Land der ausgehenden Lichter.“

Da halfen auch kein 1:1 gegen Spanien und kein 4:2 gegen Costa-Rica mehr. Nun titeln die Medien unisono „Das Ende einer großen Fußball-Nation“ („Bild“) bis „Böses Ende einer großen Fußballnation“ (FAZ).

Nur: Das liegt nicht nur an der Mannschaft, sondern auch der Atmosphäre im Land. Da war sie wieder, die Weltuntergangsstimmung, die wir Deutschen so perfekt beherrschen. Statt fröhlicher „Schland-Euphorie“ herrschte schon vor der WM eine tiefe Novemberdepression, statt Vorfreude permanente Mäkelei, statt Unterstützung demonstratives Desinteresse.

Diesmal profilierte man sich nicht schwarz-rot-gold geschminkt, sondern kündigte wie Rewe dem DFB gleich die Partnerschaft. Man wollte die FIFA und Katar strafen und traf die Mannschaft. Die WM geht trotzdem weiter, nun ohne die Deutschen.

„Der Spiegel“ warnte schon 2018

Schon vor vier Jahren – nach dem peinlichen WM-Aus gegen Südkorea – titelte „Der Spiegel“: „Fußball, Politik, Wirtschaft – es war einmal ein starkes Land.“ Damals stieß die Covergeschichte, die die Krise der Autoindustrie mit dem Ausscheiden in Russland verband, auf beißende Kritik. Heute ahnt man, dass die Kollegen von der Ericusspitze ihrer Zeit nur voraus waren. Hätte man die Zeichen nur etwas früher erkannt.

Ein Beispiel gefällig? Als „Der Spiegel“ vor vier Jahren vermeintlich den Teufel an die Wand malte, war die Zahl der produzierten Autos in der Bundesrepublik erstmals rückläufig – im Jahr 2017 lag die Fertigung in Deutschland bei 5,465 Millionen Fahrzeugen, ein leichter Rückgang um 1,2 Prozent. 2021 waren es nicht einmal mehr 3,1 Millionen Autos – auch wenn ein Teil des Rückgangs auf Lieferkettenprobleme und fehlende Halbleiter zurückzuführen ist, die stolze deutsche Automobilindustrie hat ihre besten Zeiten offenbar hinter sich.

Satt uns selbstzufrieden

Satt und selbstzufrieden hielten sich die Hersteller für Weltmeister und verlachten Tesla. Die Branche verschuldete ihren Abstieg durch den Dieselbetrug und das Verschlafen des Trends zur Elektromobilität selbst. Aber die Politik half eifrig mit, indem sie sich kollektiv an die Spitze der (Umwelt-)Bewegung setzte. Während in Schwellenländern die Menschen vom Rad aufs Auto umsteigen, machen wir es andersherum.

Früher hatten wir Autokanzler, nun haben wir Fahrradsenatoren. Auch wenn der Trend zum Zweirad in den Städten vernünftig ist – die Welt retten wir so kaum. Der Menschheit wäre mehr geholfen, wenn die Deutschen die umweltfreundlichsten Autos bauen würden. Aber schon dieses Ziel passt nicht mehr in die Zeit der Verkehrswende.

Inzwischen erwischt es eine weitere Kernbranche, die bis vor Kurzem als Fels in der Brandung schien: Die Chemie hat im dritten Quartal 2022 ihre Produktion um 14,1 Prozent drosseln müssen – im Gesamtjahr soll das Minus 8,5 Prozent betragen. Grund dafür sind die steigenden Energiepreise. Denn die Chemie- und Pharmaindustrie mit ihren 473.000 Beschäftigten benötigt allein 15 Prozent der deutschen Gasimporte, knapp ein Drittel des Industrieverbrauchs entfällt auf sie.

Es fehlt der Fokus

Durch den Überfall der Russen auf die Ukraine, aber auch durch die schludrige Energiewende sind Strom und Gas heute rund viermal so teuer wie im Vorjahreszeitraum – eine Fertigung lohnt hierzulande oft nicht mehr. Damit brechen wichtige Vorprodukte aus den ohnehin angespannten Lieferketten und schwächen die heimische Wirtschaft weiter. Aber wir fürchten uns mehr vor einer Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke und Fracking in Niedersachsen als vor der drohenden Deindustrialisierung.

Uns fehlt wie der Nationalelf der Fokus. Stur halten wir an den Lösungen von gestern fest und glauben, die Erfolge von einst gelten auf ewig. Wichtiger als die Probleme von heute sind unsere Wünsche für morgen, statt der Tristesse des Augenblicks flüchten wir uns in ein Wolkenkuckucksheim der Träume. Die Inszenierung wird wichtiger als das Ergebnis.

Weltmeister im Belehren

Und weil es im eigenen Land zunehmend schlechter läuft, erklären wir den anderen, wie es zu laufen hat. Die Katarer bekamen in einer sich zur Raserei steigernden Empörungswut zu hören, was sie alles falsch machen. Was sich zum Besseren dort verändert hat, interessiert nicht. Natürlich gibt es Gründe zur Kritik, aber der Ton macht hier die Musik. Weltmeister im Belehren mögen sich zwar gut fühlen, sie werden aber nicht gemocht – und am Ende erreichen sie eher das Gegenteil.

Wer sich in Katar als Innenministerin mit der One-Love-Binde ins Stadion setzt, will nicht die Situation der Schwulen in Katar verbessern, sondern sich selbst inszenieren. Besonders brisant: Es war gerade Nancy Faeser, die Ende Oktober mit ihren Interviewaussagen einen diplomatischen Eklat ausgelöst hatte.

Daraufhin hatte das Außenministerium von Katar den deutschen Botschafter einbestellt. Kurz darauf hat das Emirat mit China ein langfristiges und umfangreiches Gasabkommen unterzeichnet – der „längste“ Vertrag in der Geschichte der LNG-Industrie. Für Deutschland blieben nun nur zwei Millionen Tonnen LNG jährlich übrig, ab 2026.

Mehr Schein als Sein

Eine weitere Parallele zum Fußball: Gut aussehen wird wichtiger als das Ergebnis. Der eigene Erfolg, ja eigene Interessen gelten als Teufelszeug. Inzwischen ist es offizielle deutsche Außenpolitik, Machthaber allüberall zu schurigeln. Ob es den Deutschen zusteht, als Lehrmeister aufzutreten? Ob es hilft, Diplomatie im Schaufenster zu betreiben? Ob es fair ist, die selbst nur mühsam und gerade errungenen Minderheitenrechte jetzt und sofort von allen anderen Kulturen zu verlangen?

Und was ist eigentlich mit unseren Schwächen? Die Bundesrepublik, die gern Mängel bei Wahlen überall auf der Welt anprangert, muss nun in Berlin die gesamte Wahl zum Abgeordnetenhaus wiederholen lassen. Das Drollige daran: Die Berliner werden vermutlich genau die Politiker im Amt bestätigen, die diesem Schlendrian den Weg bereitet haben.

Der neue deutsche Schlendrian

Überhaupt ist der Schlendrian, früher ein Unwort der Deutschen, inzwischen eine feste Größe im Land. Wir können keine Flughäfen mehr bauen, kein Konzerthaus mehr errichten, kein Windrad mehr aufstellen, keinen Tunnel mehr graben, ohne uns um Jahre zu verspäten und alle Kostenansätze zu sprengen. Das deutsche Organisationstalent ist noch seltener geworden als ein deutscher Stürmer auf Spitzenniveau.

Die wachsende Überheblichkeit bei schwindender Kraft passen nicht recht zusammen. Wir sind satt geworden, träge und selbstgerecht. Im Sport kommt man damit nicht über die Vorrunde hinaus. Und in der Politik auch nicht viel weiter.

Dem Land scheinen die einst viel zitierten „deutschen Tugenden“ abhandengekommen zu sein. Im Fußball waren sie einst das Geheimnis des Erfolges: Früher spielten die Deutschen oftmals nicht besonders schön, aber fast immer erfolgreich.

Die Fußballtugenden verloren

„Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen immer die Deutschen“, wusste einst der englische Fußballstar Gary Lineker. Die Gegner fürchteten den unbändigen Willen, gewinnen zu wollen, den Einsatz, die Fähigkeit nie aufzugeben, die Kampfkraft, das Selbstvertrauen, die Disziplin. Wer derlei heute fordern würde, setzte sich schnell einem Shitstorm aus – all das klingt für manche verdächtig und irgendwie rechts.

Dummerweise waren es gerade diese Tugenden, die Politik, Wirtschaft und Fußball über Jahrzehnte vorangebracht hatten. Jogi Löw konstatierte nach dem peinlichen Aus 2018, es habe sich eine „gewisse Selbstherrlichkeit“ im Team breitgemacht. Diese gewisse Selbstherrlichkeit gilt längst für das gesamte Team Deutschland. Vielleicht wäre es ein heilsamer Schock, seine eigenen Schwächen anzuerkennen und sich in Demut zu üben.

Vielleicht sollten sich alle auf das konzentrieren, was im eigenen Interesse liegt: Fußballer wollen gewinnen, Unternehmen am Ende Geld verdienen, Politik die Welt zu einem besseren und gerechteren Platz machen. Ein bisschen mehr Leidenschaft, ein bisschen mehr Verständnis für andere und ein bisschen mehr Bereitschaft, aus den eigenen Fehlern zu lernen, wären ein schöner Anfang. Und ein Kapitän, der vorangeht, der die Mannschaft führt. Auch daran hat es zuletzt gemangelt.

Nun ruhen die Hoffnungen auf der EM

Dass es funktioniert, haben die Nationalmannschaft und das Land schon einmal bewiesen. 2004 lag die Nationalelf nach dem peinlichen Vorrunden-Aus bei der EM in Portugal in Trümmern, zugleich galt Deutschland ökonomisch als der „kranke Mann Europas“. Binnen weniger Jahre kam die Wiederauferstehung.

Die Nationalmannschaft sei das „letztes Lagerfeuer der Nation“, sagt Bierhoff. Es muss weiter brennen. Immerhin sind die Aussichten nicht hoffnungslos: Schon in 18 Monaten ist Deutschland Gastgeber der Fußball-EM. Ein Sommermärchen könnte das Land gut gebrauchen. Aber wie im Märchen muss man dafür etwas tun.