Hamburg. Kanzler Olaf Scholz wirkt in seinen Äußerungen dünnhäutig und etwas entrückt – war die SPD nicht einmal eine Partei der Arbeit?

„Nicht alle Latten am Zaun!“ Irgendwann in den 80er-Jahren hielten wir das für einen extrem coolen Spruch, um auszudrücken, dass der Betreffende eine Macke, einen Dachschaden oder wahlweise nicht alle Tassen im Schrank hat. Nun hat Kanzler Olaf Scholz die Metapher dem Vergessen entrissen.

Im „Stern“ holzt der Kanzler recht unstaatsmännisch gegen eine „gewisse Elite“, die sich abfällig über den deutschen Arbeitseifer äußert. Wen er da genau meinte, sagte er nicht. Nur so viel: Arbeitnehmer in Deutschland hätten im letzten Jahr 1,3 Milliarden Überstunden geleistet. „Das heißt: Niemand drückt sich, ganz viele wollen arbeiten. Und sehr viele arbeiten auch viel länger als vertraglich vereinbart“, so Scholz. „Wer da von Faulheit spricht, hat aus meiner Sicht nicht mehr alle Latten am Zaun.“

Ich gestehe: Ich habe nicht alle Latten am Zaun.

Ich gestehe: Ich habe nicht alle Latten am Zaun. Leider habe ich nicht mal einen Zaun, was in einer Großstadt aber häufiger vorkommen soll.

Rechnen wir mal nach: Da schrumpfen die 1,3 Milliarden Überstunden schnell aufs Miniatur-Wunderland-Maß – und dafür muss man die Tausenden Überstunden der Politiker nicht einmal abziehen. 1,3 Milliarden Überstunden sind bummelig 2,4 Stunden pro Beschäftigtem pro Monat, eine gute halbe Stunde pro Woche. Es soll Leute geben, die verbringen ein Vielfaches ihrer Arbeitszeit an der Kaffeemaschine.

Die Deutschen sind nicht fleißiger, sondern fauler als andere

Der Blick auf die Deutschen als vermeintlich besonders fleißiges Völkchen ist nicht nur ein Vorurteil, sondern ein Vorvergangenheitsurteil. Ich möchte jetzt nicht von der Rente nach 45 Berufsjahren anfangen, sonst bekomme ich wieder waschkörbeweise böse Briefe. Aber spannend ist es schon, warum sich weit mehr als ein Viertel der Beschäftigten früher in die Rente verabschiedet.

Ich kann persönlich jeden Menschen verstehen, der andere Träume als Backstube, Baustelle, Büro und Behörde hegt. Nur: Irgendeiner muss den Spaß bezahlen. Das mag in Zeiten von Doppel-Wumms, „You’ll never walk ­alone“, Bazooka und ­Respekt in Vergessenheit geraten, aber sozial am Sozialstaat ist nicht, das Maximum herauszuholen.

Er war gedacht für Menschen, die es allein nicht schaffen, nicht für Gutverdiener, die noch all ihre Träume verwirklichen wollen. Vielleicht müssen wir grundsätzlich über das Arbeitsethos der Deutschen sprechen – was übrigens auch immer mehr Leute tun.

Geht es bei Work-Life-Balance nur noch um Freizeit?

Sie verdrehen die Augen, wenn junge Leute nach ihrer ersten 35-Stunden-Woche in den sozialen Netzwerken tränenüberströmt zusammenbrechen, weil sie nur 36.000 Euro Einstiegsgehalt und kümmerliche 30 Urlaubstage bekommen. Viele fragen sich, wer angesichts der verklärten Work-Life-Balance eigentlich noch an Arbeit denkt oder nur Freizeit meint.

Ökonomen zweifeln daran, ob eine Arbeitsgesellschaft, die auf Vollzeit gründet, in Teilzeit noch funktioniert – und ob sich manche nicht einen schlanken Fuß auf Kosten der Vollzeitler machen. Denn über das Steuersystem wird die Teilzeit von allen privilegiert. Sie war gedacht für Mütter und Väter, die ihre Kinder umsorgen, oder Menschen, die Verwandte pflegen, aber nicht für Müßiggänger, die ihre Hobbys pflegen und sich selbst umsorgen.

Irgendjemand muss die Arbeit erledigen – nur wer?

Die Arbeit im Laden wie im Land muss irgendjemand erledigen – und die Steuern irgendwer bezahlen. Die Krise, wenn alle auf Vier-Tage-Woche umstellen, möchte ich lieber nicht erleben. Schon jetzt haben wir in Deutschland eine seltsame Mischung gewählt, die Ökonomen toxisch finden. Laut OECD haben wir die geringste Jahresarbeitszeit, aber sind bei der Zahl der Urlaubs- und Feiertage weit oben.

Wenn einem Land, das jeden Tag seinen Fachkräftemangel beklagt, nichts Besseres als Frühverrentung und ein üppiges Bürgergeld einfällt, glaubt es an die Mär vom anstrengungslosen Wohlstand. Zuwanderung wird uns nicht erlösen. Zu glauben, Migranten würden für uns die Jobs erledigen, damit wir weniger und kürzer arbeiten, zeigt ein neokoloniales oder vordemokratisches Weltbild. Da schufteten auch Heerscharen, damit manche ein schönes Leben führen können.

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Besonders seltsam ist, dass ausgerechnet die Arbeiterpartei SPD die Beziehung zur Arbeit verloren zu haben scheint. Es soll ja Menschen geben, die gern morgens aufstehen und etwas Sinnvolles in ihrem Tun erkennen. Früher hat man auf diese Durchschnittsbürger gesetzt und damit Wahlen gewonnen. Aber wer dem Kanzler so lauscht, mag bezweifeln, dass er daran noch glaubt.