Hamburg/Hannover. Millionenschaden im Gesundheitswesen durch spektakuläre neue Fälle. Wie Ärzte mit Apothekern betrügen – und Patienten.

Beim Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen gibt es offenbar neue Trends – und einige spektakuläre neue Fälle. Besonders auffällig unter den Tätergruppen sind Pflegedienste und Betrügereien rund um Rezepte, Arzneimittel (auch den „Abnehmstoff“ Ozempic) und Apotheken. Allerdings berichtete die Kaufmännische Krankenkasse (KKH) am Mittwoch von einem neuen Verdachtsfall, der sich in die erschreckenden, mutmaßlich patientengefährdenden Taten bei Krebsmedikamenten (Zytostatika) einreiht.

KKH-Chefermittlerin Dina Michels erwähnte einen Fall aus Sachsen, bei dem ein Apotheker nach bisherigen Erkenntnissen weniger Wirkstoff in seinen Rezepturen für Krebspatienten verwendet hat, als er hätte tun müssen. Abgerechnet worden sei aber die normale Menge. Individuell hergestellte Zytostatika sind mit das Teuerste, was überhaupt verordnet wird. Michels sagte: „Hier sind unterdosierte Krebsmedikamente zusammengeführt worden. Jede Form der Abweichung, die eine Gefährdung des Patienten bedeutet, ist nicht hinzunehmen.“ Das erinnerte an einen Fall aus Bottrop (NRW), in dem ein Apotheker wegen falscher Dosierungen aus Betrugszwecken zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde. Der materielle Schaden lag damals bei mehr als 13 Millionen Euro, der für die Patientinnen und Patienten war eine erhebliche gesundheitliche Gefährdung. Auch in Hamburg hatte es Verdachtsfälle gegeben.

Abrechnungsbetrug auch um Abnehmspritze Ozempic

Doch nicht nur die KKH, sondern auch die AOK Rheinland/Hamburg und Deutschlands größte gesetzliche Krankenkasse, die Techniker, haben dem Abendblatt Zahlen und Fakten zu neuen Fällen von Abrechnungsbetrug berichtet. Die AOK wusste von Fällen, in denen es um das weltweit gehypte „Abnehmmitel“ Ozempic ging. Die „Abnehmspritzen“ mit Ozempic sind so begehrt, dass Apotheken vor Lieferschwierigkeiten für Diabetespatienten standen. Der Hamburger Apothekerverein warnte vor gefälschten Rezepten.

Die AOK hat weitere Verdachtsfälle erfasst, die so krass waren, dass sie an die Staatsanwaltschaften weitergeleitet wurden. In einer Beutegemeinschaft hatten offenbar Apotheker mit Ärzten zusammengekungelt, um Rezepte für Versicherte auszustellen, die die Apotheke mit der Krankenkasse abrechnen konnte, ohne dass je ein Medikament geliefert wurde. Der „Gewinn“ soll geteilt worden sein.

Ob die elektronischen Rezepte, die seit Jahresbeginn verpflichtend sind, diesen Betrug eindämmen, da ist sich KKH-Ermittlerin Michels gar nicht sicher. „Vielleicht wird es noch schwieriger, den Betrug aufzudecken.“

Wie Patienten mit Ärztehopping betrügen

Doch auch die Patienten betrügen: Bei der AOK wurden Versicherte auffällig, die „Ärztehopping“ betrieben, also von einer zur nächsten Praxis sprangen. Sie erhielten so Rezepte und Arzneimittelverordnungen von mehreren Ärzten und erschlichen sich Medikamente – oder waren sogar Teil eines Betrugssystems. Eine Versicherte der AOK Rheinland/Hamburg gab mit einem gefälschten Attest sogar vor, an Krebs erkrankt zu sein. Sie wollte einen Pflegegrad beantragen und Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten.

Gerade der Pflegebereich hat sich zu einem Schwerpunkt der Ermittler in Betrugssachen entwickelt. Die KKH-Prüfgruppe Abrechnungsmanipulationen zählte von 553 neuen Hinweisen auf Fehlverhalten 179 in der ambulanten und 167 in der stationären Pflege. Oft ging es darum, dass kein Fachpersonal eingesetzt, aber abgerechnet wurde. Michels nannte ein Beispiel: „Bei einem ambulanten Pflegedienst besteht der Verdacht, dass Pflegebedürftige intensivmedizinisch von Personal versorgt wurden, das dafür nicht ausgebildet war. Lebensnotwendige Medikamente wurden fehlerhaft gegeben, eklatante Mängel in der Hygiene in Kauf genommen und zudem Leistungen abgerechnet, die nie erbracht wurden.“ Es sei Strafanzeige erstattet worden. Die potenzielle Schadenssumme könnte im Millionenbereich liegen.

Millionenschäden für Krankenkassen durch Abrechnungsbetrug

Die KKH sprach von einem Schadensvolumen in Höhe von 3,5 Millionen Euro in 2023 bei rund 1,6 Millionen Versicherten. Das war einer der höchsten Werte in den vergangenen Jahren. Bei der AOK Rheinland/Hamburg waren es 4,87 Millionen Euro bei etwa drei Millionen Versicherten. Die AOK-Expertin Simone Lötzer sagte: „Es ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Zahl der Fehlverhaltensfälle im Gesundheitswesen wesentlich höher ist als die Zahl der bislang bekannt gewordenen Fälle. Doch in Deutschland fehlen belastbare wissenschaftliche Studien. Wir fordern daher gemeinsam mit vielen Expertinnen und Experten sogenannte Dunkelfeldstudien, die uns Aufschluss über die bislang verborgene Dimension dieses Straftatbestands geben und bei dessen Bekämpfung helfen.“

Bei Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung von 274,2 Milliarden Euro (2022) gebe es Begehrlichkeiten von Betrügern, daran zu partizipieren, so KKH-Expertin Michels: Die Täter gingen teils skrupellos vor und gefährdeten mitunter Menschenleben. Nach einer Forsa-Umfrage für die KKH halten 62 Prozent der Befragten das deutsche Gesundheitswesen „anfällig für Betrug und Korruption“. 18 Prozent stuften es als „sehr anfällig“ ein.

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Die Techniker Krankenkasse, die seit Jahren eine professionelle Ermittlungsgruppe betreibt, setzt auf die elektronische Patientenakte (ePa). Hier können schon heute Versicherte nachsehen, was zum Beispiel Ärzte bei ihnen abgerechnet haben. Die ePa steckt allerdings bundesweit noch in den Kinderschuhen. Eine TK-Sprecherin sagte dem Abendblatt: „Bei begründeten Verdachtsfällen geben wir die Hinweise an die zuständige KV weiter, die diesen nachgeht.“

In den vergangenen Jahren hatte es mehrere spektakuläre Fälle in Hamburg gegeben. So flüchtete der des Millionenbetrugs verdächtige Radiologe Prof. Wolfgang Auffermann nach Dubai, um der Anklage zu entgehen. Zwei seiner Helfer wurden zu Haftstrafen verurteilt.

Ein prominenter Arzt bot sich Medien und Ermittlern als „Whistleblower“ und Informant an. Doch er war selbst verstrickt in betrügerische Machenschaften um einen Apotheker, der Krebsmedikamente (Zytostatika) herstellte, ein Medizinisches Versorgungszentrum faktisch kontrollierte und am Ende rechtskräftig verurteilt wurde.