Hamburg. Uhren von Apple, Google und Co. zeichnen EKGs auf – doch kaum einer kann sie richtig lesen. So profitieren Senioren von Smartwatches.

Der Tod beim Marathon ist überaus selten. Was in diesem Jahr in Hamburg auf so tragische Weise einem jungen Läufer widerfuhr, kommt im Alltag von trainierten und untrainierten Menschen allerdings viel häufiger vor – geht aber zum Glück oft anders aus. Das hat mit den am weitesten verbreiteten körperlichen Schwächen in Deutschland zu tun, den Herzerkrankungen. Dahinter können sich etwa Durchblutungsstörungen verbergen, defekte Klappen, Vorhofflimmern oder generell Rhythmusstörungen. Sie „reifen“ im Körper oft im Verborgenen und wachsen sich zu ernsthaften Bedrohungen aus.

Um sich des Risikos bewusst zu werden, ist in Smartphone-Zeiten nicht mal mehr eine dauerhafte ärztliche Überwachung notwendig. Die Hamburger Digitalexperten (dpv-analytics), die das Mini-Langzeit-EKG Ritmozum Aufkleben auf die Brust erfunden haben, werteten in der Herzwoche 1000 Elektrokardiogramme von mehr oder weniger zufällig gewählten Menschen aus. Das waren zumeist Mitarbeiter von Unternehmen und spontane Teilnehmer eines Cardio-Checks. Die EKGs wurden mithilfe von handelsüblichen Smartwatches erfasst, die es von Apple, Google, Samsung oder Huawei gibt.

Smartwatch mit EKG-Funktion: So lassen sich Herzprobleme identifizieren

Dabei kam nach Angaben von dpv-Geschäftsführer Philip Nölling heraus, dass 13 Prozent der Testpersonen Auffälligkeiten im EKG hatten. Nölling sagte: „Jeder Zehnte mit einer Auffälligkeit war nach Einschätzung unserer Ärzte ein Fall, der im Hinblick auf die Herzgesundheit mit Rot einzuschätzen ist, also gefährdet. Das waren Menschen, die nichts von ihrem Herzrisiko wussten.“

Die Hamburger, die für ihr zertifiziertes Medizinprodukt Ritmo mit Branchenpreisen überschüttet wurden, können innerhalb eines Tages die EKGs aus Smartwatches auslesen und das Ergebnis zusenden. Dabei hilft ihnen künstliche Intelligenz (KI) – und der ärztliche Beirat. Der Mediziner Dr. Stephan Kranz etwa arbeitet je zur Hälfte im Wandsbeker Cardiologicum und bei dpv-analytics.

Smartwatches werden von Jüngeren getragen – für Ältere wären sie wichtiger

Nölling preist die digitale Technik und schränkt gleichzeitig die Aussagekraft ein: „Mit den Smartwatches können alle, die sie tragen, das erste Mal in einer Art Selbstermächtigung medizinische Daten aufnehmen und teilen. Aber sie können sie nicht beurteilen. Die Uhr hat einen trainierten Algorithmus, der Vorhofflimmern detektiert. Das ist jedoch schwarz-weiß und hilft zumeist nicht. Wenn kein Vorhofflimmern erkannt wird, wiegt sich der Patient in Sicherheit. Erst das EKG zeigt auch andere Arrhythmien, die von einem Arzt abgeklärt werden müssen.“

Wer seine Befunde aus der Smartwatch an die Hamburger mailt und binnen 24 Stunden für 4,90 Euro eine schnelle Zusammenfassung und nach Ampelsystem ein Rot, Gelb oder Grün erhält, ist zwar erst einmal orientiert. Aber eine genauere Analyse können die Smartwatch-Anbieter nicht leisten. Doch wer schon älter ist und bereits Auffälligkeiten am Herzen hatte, der muss es genauer wissen. Kardiologe Kranz sagte: „Die Smartwatches werden oft von jüngeren, herzgesunden Menschen getragen. Sie wären aber für Ältere mit höherem Risiko für Herzrhythmusstörungen noch sinnvoller.“

Smartwatches von Apple oder Google können auch in die Irre führen

Der Arzt hat sich besonders beschäftigt mit den psychischen Begleiterscheinungen im neuen Universum von digitaler Welt und bisweilen manischer Check- und Testbereitschaft. „Das permanente Selbstmonitoring mit einer Smartwatch kann übervorsichtig sein und sogar angstgetrieben. Ein einfacher, schneller Zugang zu einer ärztlichen Beurteilung kann das schnell abschneiden und zeigen: Hier ist keine Behandlung notwendig.“

So schnell allerdings ist das Urteil beim Facharzt nicht zu bekommen. Man benötigt eine Überweisung und einen Termin. Bei einem bleibt es zumeist nicht, denn in der Herzpraxis ist erst eine aufwendigere Diagnostik vonnöten. Cardiologicum-Arzt Kranz sagte: „In den kardiologischen Praxen sind die Sprechzimmer voll. Da freut sich keiner, wenn er erst die Daten aufzeichnen und aufwendig auslesen und bewerten muss. Ein erster Befund, zum Beispiel vom Ritmo oder nach unserer Auswertung eines Smartwatch-EKG, kann eine Behandlung enorm beschleunigen.“

EKG per E-Mail aus dem Heim an den Arzt übermitteln

Das trifft nicht nur für Neupatienten zu, sondern auch für die, die an ihrem Herzen schon länger leiden. Die Selbstbeobachtung ist für sie möglicherweise überlebenswichtig. Schon wer unruhig schläft, schöpft Verdacht. Kranz: „Ein schnell ausgewertetes EKG ergibt gerade für Herzpatienten Sinn, wenn sie spüren, dass das Vorhofflimmern zurückkommen könnte, oder für Pfleger im Heim, die das ohne großen Aufwand bei Bewohnern checken und auswerten lassen können.“ Wenn man einen Schritt weiterdenkt, kann sich der Hausarzt, der vielleicht sonst zu einem Patienten ins Heim kommt, zunächst das EKG ansehen, das er per Mail erhält. Kranz ist überzeugt: „Das hilft, im Gesundheitswesen Ressourcen zu sparen.“ Das wäre aus Sicht der Ärzte mal ein positiver Beitrag, den Apple, Google und Co. für die Patientinnen und Patienten leisten könnten.

Bei ausgefeilteren Geräten wie dem Ritmo kann die Vorsorge noch mehr leisten, glaubt Kranz: „Im Cardiologicum sind 80 Ritmos im Einsatz. Es hat sich gezeigt, dass sie nicht nur Vorhofflimmern und Rhythmusstörungen erkennen, sondern auch zur Demenzprophylaxe dienen. Denn es gibt einen Zusammenhang zwischen Herzrhythmusstörungen wie Vorhofflimmern und demenziellen Erkrankungen.“

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Videosprechstunden und Apps auf Rezept: Erschlafft der Trend schon wieder?

Wie die allgegenwärtigen Handys scheinen Smartwatches geeignet, die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen zu beschleunigen. Nach der Corona-Pandemie, als wegen der Kontaktbeschränkungen die Zahl der Videosprechstunden explodierte, erschlaffte das Interesse daran wieder. Deutschlands größte Krankenkasse, die Hamburger Techniker, zählte 2021 bei ihren Versicherten 956.000 Videobehandlungen. 2022 waren es dann wieder nur 717.000, in etwa so viele wie im ersten Corona-Jahr 2020. In einer TK-Umfrage erklärte die Hälfte der Befragten, sie würden gerne eine Videosprechstunde besuchen, doch ihre Arztpraxen böten sie nicht an. Mehr als die Hälfte wissen nicht, wie und wo sie Termin dazu vereinbaren können.

Ein weiteres Problem in der digitalen Gesundheit: Die vielen Apps, die es inzwischen sogar auf Rezept gibt und von den Kassen erstattet werden, steigen gewaltig im Preis: Von 418 Euro im Schnitt im Jahr 2020 auf 628 Euro 2023. Und hier ist der Nutzen laut TK oft nicht belegt.

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Kein Wunder, dass man im Hamburger Start-up dpv-analytics glaubt, dass der Herzinfarkt als Volkskrankheit verschwinden könnte. Geschäftsführer Nölling, der lange in verantwortlicher Topposition bei Hermes und in der Otto Group arbeitete, sagte über die digitalen Möglichkeiten: „Da kann man eine ganze Bevölkerung auf Herzgesundheit screenen. So muss Medizin in Zukunft gehen.“