Hamburg. In Hamburg werden weniger Kinder geboren. Krisen, Geld, Perfektionismus: Ein Vater, eine Ärztin und ein Soziologe erklären, warum.
Kindergeld, Elterngeld, Kitagutschein – die staatlichen Familienförderungen wurden in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter hochgeschraubt. Trotzdem sinken die Geburtenraten deutschlandweit seit zwei Jahren. Ein Trend, der sich nun auch in Hamburg bemerkbar macht, nachdem es hier jahrelang Zuwächse gegeben hatte. Zwischen 2021 und 2023 sank die Geburtenquote in der Hansestadt von 25.499 Kindern auf zuletzt 22.664 im Jahr 2023 um knapp neun Prozent. Diese Entwicklung entspricht in etwa auch dem Bundesdurchschnitt.
Geburtenrate sinkt – warum Eltern kein zweites Kind wollen
Colin Waßmann ist 31 Jahre alt, gelernter ITler und Vater eines Kindes. Dabei wird es auch bleiben. „Meine Frau war gerade im dritten Monat schwanger, als wir uns für meine Vasektomie entschieden haben“, erzählt er. Fragt man den ehemaligen Erzieher nach seinen Gründen, hat er gleich eine ganze Liste parat: „Die finanzielle Situation, der politische und gesellschaftliche Wandel, wir haben nur ein Kinderzimmer. Ich bin mit drei Schwestern in einem Zimmer aufgewachsen. Das wollte ich meinem Kind nicht antun.“
Nur ein Kinderzimmer? Ist das wirklich ein Grund, sich sterilisieren zu lassen? Unter Umständen ja, sagt Soziologe und Bevölkerungsforscher Prof. Dr. Martin Bujard vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden. „Gerade in Ballungsräumen wie Hamburg spielt die Verfügbarkeit von Wohnraum eine große Rolle für die Familienplanung.“
Entscheidend sei das Angebot an Wohnungen, aber auch die finanzielle Situation der Eltern sowie das Angebot an Kinderbetreuung und kinderfreundlicher Infrastruktur und die Verfügbarkeit von verkehrsberuhigten, bezahlbaren Wohngebieten, etwa am Stadtrand. Ist beispielsweise die Situation am Wohnungsmarkt angespannt – wie in Hamburg – oder sind nicht genügend Kitaplätze in der Umgebung verfügbar, neigen Menschen dazu, weniger oder gar keine Kinder zu bekommen.
Weniger Geburten in Hamburg: „Verunsicherung geht durch alle sozialen Schichten“
Wirtschaftliche Einflüsse sieht auch Claudia Kern, Leiterin des Perinatalzentrums in der Hamburger Asklepiosklinik. Seit 18 Jahren berät sie werdende Eltern rund um Geburt und Schwangerschaft. Die Tendenz, dass sich Eltern – insbesondere finanziell – mehr Sorgen um ihren Nachwuchs machen, beobachtet sie seit zehn Jahren.
„Die Verunsicherung geht durch alle sozialen Schichten, von der Drogerieverkäuferin bis zur Anwältin“, sagt sie. Dennoch ist sie sich sicher: „Der Kinderwunsch bleibt.“ Das bestätigt auch das Ergebnis der FReDA-Studie. Die bundesweite Umfrage zeigt: Der reale Kinderwunsch der 18- bis 29-Jährigen liegt in Deutschland bei 1,9 – und damit deutlich über der Geburtenrate von derzeit 1,46. Am Ende komme es aber auf die Vereinbarkeit von Beruf, Einkommen und Familie an, so Kern. Dabei geht es auch darum, den Lebensstandard zu wahren.
Sinkende Geburtenrate: „Verunsicherung ist Gift für die Familienplanung“
Das kann Colin bestätigen: „Uns geht es jetzt nicht schlecht, aber man will seinem Kind ja auch etwas bieten können.“ Unter anderem deshalb hat er vor zwei Jahren seinen Job als Erzieher an den Nagel gehängt. Jetzt arbeitet der Vater selbstständig im IT-Support. Obwohl er hier deutlich mehr verdient, beobachtet er Inflation und Teuerung mit Sorge. Ein zweites Kind kommt für ihn auch deshalb nicht infrage.
Das ist aus Sicht von Prof. Bujard keine Seltenheit: „Sichere Perspektiven spielen eine wichtige Rolle bei in der Familienplanung.“ Mit Blick auf Europa fällt es Bujard nicht schwer, Erklärungsansätze für die sinkenden Geburtenraten zu finden: „In den vergangenen Jahren haben wir in Europa zahlreiche multiple Krisen erlebt, angefangen mit Corona, dann kam der Krieg in der Ukraine, und auch der Klimawandel wird immer präsenter.“ Die daraus entstandene Verunsicherung sei „Gift für die Familienplanung“.
Allerdings sieht Bujard auch die Effekte von Sozialhilfen wie dem Kurzarbeitergeld. Er folgert: „Die Politik hat durchaus Möglichkeiten, Menschen zu helfen, ihre Kinderwünsche umzusetzen, etwa, indem sie Krisen abfedert.“ Jedoch fehle diese Erfahrung und ein Zukunftsoptimismus vielen jungen Menschen noch. Entsprechend seien die Einschnitte bei den Geburtenraten hier in den vergangenen Jahren höher gewesen.
Zu viel Perfektionismus beim Kinderwunsch
Gerade bei der jüngeren Zielgruppe potenzieller Eltern kommen weitere Aspekte dazu, die den Kinderwunsch hinauszögern. „Generell ist es auch eine positive Entwicklung, wenn Eltern sich mit der Zukunft ihrer Kinder und mit Erziehung beschäftigen“, so Bujard. Problematisch werde es aber, wenn eigene Bedürfnisse zu weit zurückgestellt oder Ansprüche übertrieben nach oben geschraubt würden. „Das führt dazu, dass junge Erwachsene oft erst alles andere abhaken wollen, bevor sie Kinder bekommen. Dann heißt es: noch dieser Karriereschritt, noch diese Etappe in der Beziehung, noch diese Reise… Der Kinderwunsch wird immer weiter hinausgeschoben und am Ende nicht immer nachgeholt.“
Junge Akademikerinnen seien besonders von diesem Phänomen betroffen, bestätigt auch Kern. Die Ärztin und der Soziologe sind sich einig: Insbesondere für Frauen bedeutet der Schritt hin zur eigenen Familie in der Regel noch immer einen großen Karriereeinschnitt. Entsprechend sind gerade sie beim Kinderthema vorsichtig geworden.
Während die einen alles genau planen wollen, entscheiden sich andere direkt gegen Kinder. Allerdings, so erlebt es Colin, ändert sich diese Haltung in vielen Fällen mit der Zeit. Über sein privates Umfeld sagt er: „Anfang 20 waren wir uns alle noch sicher: Kinder? Niemals! Jetzt hat fast jeder meiner Freunde ein Kind.“
Kita nur für „soziale Kontakte“
Auch Colin und seine Frau haben sich letztlich für ein Kind entschieden – und versuchen nun, das Beste für den Sprössling herauszuholen. Colin versichert jedoch, das habe nichts mit äußeren Ansprüchen zu tun, mehr mit privaten Erfahrungen. Der ehemalige Erzieher berichtet: „Während Corona haben wir im Kindergarten weinende Anrufe erhalten von Eltern, die ihre Kinder bitte sofort wieder abgeben wollten, weil sie mit ihnen komplett überfordert waren.“
So etwas soll seiner Familie auf keinen Fall passieren. Deswegen: „Meine Frau und ich machen beide viel Homeoffice. So können wir den Kleinen sofort von der Kita abholen, wenn mal was ist.“ Insgesamt sei der zweieinhalbjährige Sohn nur sechs Stunden pro Tag im Kindergarten, vor allem für „soziale Kontakte“. Sein Kind acht oder gar zehn Stunden lang wegzugeben, kommt für Colin nicht infrage. „Andere Eltern schieben ihre Kinder in die Kita ab“, findet er. Dass die Option, das Kind weitgehend zu Hause zu betreuen, ein Privileg ist, ist ihm trotzdem klar. Aber das wolle man eben auch nutzen.
Zu viel Bürokratie – hier bekommen Eltern Hilfe
Weit schwieriger als das Betreuungsthema ist für die jungen Eltern der bürokratische Aufwand hinter der Kindererziehung. Elterngeld, Kitagutschein, U-Untersuchung, für alles gibt es Regeln und Formulare. Claudia Kern empfiehlt als Unterstützung in Behördenfragen gern das Projekt Babylotse. „Sozialpädagogen beraten niederschwellig zu finanziellen Problemen, Hilfen und Behörden. Sie liefern Unterstützung und ein soziales Netz, das auch bei der Kindererziehung und -pflege unter die Arme greift.“ Eltern stärken bedeutet für Kern präventiver Kinderschutz. Die Frage muss immer sein: „Wie können wir speziell diese Familie gezielt unterstützen?“
Mehr Kitas und mehr Gelassenheit
Auch Bujard hat klare Vorstellungen, wenn es darum geht, Familien zu unterstützen. Auch wenn Deutschland in den letzten 20 Jahren viel nachgeholt hat, „da ist noch Luft nach oben“. Seine wissenschaftlichen Empfehlungen stimmen beinahe eins zu eins mit den Vorschlägen aus der Freda-Studie überein: vollzeitnahe Teilzeit, also etwa 25 bis 35 Stunden Wochenarbeitszeit bei Eltern mit jüngeren Kindern, für Väter mit Kleinkindern vier bis fünf Wochenstunden weniger Arbeitszeit und eine deutlich höhere Erwerbsarbeitszeit bei Müttern mit Schulkindern. So sollen sich Arbeit und Familie gemeinsam bewältigen lassen.
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Darüber hinaus empfiehlt er Eltern und solchen, die es werden wollen, vor allem: Gelassenheit. Es lasse sich nicht jeder Schritt planen – geschweige denn perfekt umsetzen. „Wer sich für Kinder entscheidet, braucht Mut und Vertrauen in die Zukunft. Trotz aller Krisen ist der Wohlstand in Deutschland durch den Sozialstaat noch immer vergleichsweise hoch“, so der Experte. Außerdem sind Kinder nicht nur mit Aufwand verbunden – sie geben auch bedingungslose Liebe und sind unsere Zukunft.“