Hamburg. Feuerwehr, Kassenärztliche Vereinigung und Senatoren stellen Notruf-Kampagne vor. Interne Kritiker: Es geht um viele Millionen Euro.
Eine Minute und 16 Sekunden. So lange dauert der neue, gemeinsame Imagefilm der Feuerwehr Hamburg und der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg (KV). Das Ziel des Films in der Kurzzusammenfassung: Die Hamburger Bevölkerung soll sensibilisiert werden, „die richtige Nummer im richtigen Moment zu wählen“ und damit die Rettungsleitstelle der Feuerwehr und den völlig überlasten Rettungsdienst zu entlasten.
Nachdem der Film am frühen Montagnachmittag in der überfüllten Feuer- und Rettungswache am Berliner Tor vorgestellt ist, fasst Interimsfeuerwehrchef Jörg Sauermann zusammen: „Die 112 wählt man, wenn man einen lebensbedrohten Notfall hat. Die 116 117 wählt man, wenn man eine Erkrankung hat, die Arztpraxis aber schon geschlossen ist.“ So einfach ist das.
Feuerwehr: Rettungsdienst (112) soll durch 116 117 entlastet werden
Zumindest in der Theorie. In der Praxis ist der am Montag vorgestellte Imagefilm nicht der erste Versuch, den Bürgern die Unterschiede zwischen 112 und 116 117 näherzubringen. Und trotzdem klingt beim ersten Zuhören am Montag erst einmal gut, was Sauermann, Hamburgs stellvertretende KV-Vorsitzende Caroline Roos, Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD) und Innensenator Andy Grote (SPD) beim Pressetermin zu sagen haben.
Weniger gut ist allerdings, was sich rund um die Leitstellen der Feuerwehr und des ärztlichen Bereitschaftsdienstes im Hintergrund abspielt. Die Hauptkritik der Protagonisten, die in dem Prozess direkt involviert sind: Die Imagekampagne ist gut gedacht, die inhaltliche Arbeit dahinter aber schlecht gemacht.
KV und Feuerwehr sollen sich uneinig bei der Umsetzung sein
Nach Abendblatt-Informationen hat es im vergangenen Sommer gleich mehrere Elefantenrunden zu diesem Thema gegeben, an denen Innen- und Sozialbehörde vertreten waren, genauso wie Vertreter der Feuerwehr, des Kassenärztlichen Notdienstes und der Krankenkassen. Der Wille aller, der auch im Imagefilm zum Ausdruck gebracht wird: Der völlig überlastete Rettungsdienst (112) soll entlastet, der kassenärztliche Notdienst (116117) gestärkt werden. Nur beim berühmten „Wie?“ sind sich die unterschiedlichen Parteien offenbar sehr uneinig.
So uneinig sogar, dass nach Auskunft mehrerer Teilnehmer nun das gesamte Projekt stockt. Dabei war man schon relativ weit. Weil 20 bis mehr als 30 Prozent der Rettungsdiensteinsätze überflüssig sein sollen, hatte sich nach Abendblatt-Informationen die Politik zum Ziel gemacht, genau dieses Aufkommen an potenziellen Patienten von der 112 an die 116 117 zu übergeben. In der Pressemitteilung vom Montag heißt es „rund 20 Prozent“ – in Hintergrundgesprächen ist von „einem Drittel“ die Rede.
Innensenator Grote: „Es könnte an der einen oder anderen Stelle besser laufen“
„Es könnte an der einen oder anderen Stelle besser laufen“, sagt Innensenator Grote. Aber mit der KV sei man in guten Gesprächen, Lösungen zu finden, den Feuerwehrnotruf zu entlasten. In etwas konkreteren Zahlen heißt das: Der Rettungsdienst hat rund 300.000 Einsätze im Jahr, somit sollen nach dem Willen der Politik über einen Zeitraum von drei Jahren rund 100.000 Einsätze von der 112 auf die 116 117 abgegeben werden. Ursprüngliches, aber noch nicht kommuniziertes Ziel des Senats im ersten Jahr: rund 30.000 Einsätze.
Bei der Feuerwehr wurde sogar eine Arbeitsgruppe gebildet, um die Abfrageergebnisse der Rettungsleitstelle zu ändern. Zum besseren Verständnis: Ein sogenannter Calltaker nimmt Notrufe entgegen und erfragt die tatsächliche Dringlichkeit des Anrufs. Daraus werden Codes, denen wiederum verschiedene Ressourcen zugeordnet sind.
Notruf 112: Tausende unterschiedliche Codes informieren über Schwere der Krankheit
Ein Beispiel: Ein Anrufer sagt, dass seine Frau bewusstlos sei. Dann wäre der Anruf schnell beendet, weil klar wäre, dass ein Notarzt losmuss. Wenn aber ein Anrufer sagt, dass er seit Tagen Atemnot, einen fieberhaften Infekt und aktuell 40 Grad Fieber hat, dann ist der Code noch nicht so eindeutig. Aktuell gibt es Tausende unterschiedliche Codes.
Ein großes Problem ist allerdings, dass es bislang gar keine richtige aktive Zusammenarbeit zwischen Rettungsdienst und Kassenärztlicher Vereinigung (KV) gibt. Die Rettungsdienst-Arbeitsgruppe war bislang zwar einmal einen Tag bei der KV, um sich dort alles anzusehen. Aber die KV-Ärzte sollen im Einzelnen nicht verlässlich gesagt haben, was sie eigentlich leisten können. Da jeder im Dienst befindliche KV-Arzt ein eigenständiger Unternehmer ist, der selbst definieren kann, was er vor Ort im Notfall leistet.
KV und Feuerwehr streiten mit den Krankenkassen über die Finanzierung
Und genau an dieser Stelle beginnen die Probleme. Denn sowohl aus den Reihen des Rettungsdienstes als auch bei der KV ist man skeptisch, dass der KV-Notdienst momentan überhaupt dafür ausgelegt ist, 30.000 zusätzliche Einsätze in diesem Jahr zu übernehmen. Denn natürlich kostet das Geld – und bei Geld fangen meistens die Probleme an.
„Die Seite der Feuerwehr hat Kosten, wir haben Kosten – und momentan ist es noch nicht geglückt, uns hier zu einigen“, gibt die stellvertretende KV-Chefin Roos im Abendblatt-Gespräch unumwunden zu. „Aus meiner Sicht müsste diese Angelegenheit auch in der Notfallgesetzgebung anders geregelt werden. Man muss eine Finanzierung der Strukturen sicherstellen.“
Dem Vernehmen nach will die KV von den Krankenkassen rund sieben Millionen Euro
Nach Abendblatt-Informationen hat die KV den Krankenkassen vorgerechnet, dass sie für so einen Aufwand mehr als sieben Millionen Euro bräuchten. Nur im Jahr 2024. Die Feuerwehr Hamburg wiederum soll bei ihren Jahresbudgetplanungen wenig Raum für ein finanzielles Entgegenkommen signalisiert haben.
„Wir haben die Gespräche mit der Feuerwehr geführt. Es gab dann Verhandlungen zwischen uns und den Krankenkassen und zwischen der Feuerwehr und den Krankenkassen“, sagt Roos. „Und im ersten Schritt konnten wir uns da nicht einigen.“ Und so steht unter dem Strich und trotz hübscher Imagefilme, dass bei einer geplanten Synchronisierung der Leitstellen inhaltlich wenig Bewegung in den Prozess kommt.
Bundesgesundheitsministerium legt Eckpunktpapier vor
Ein Grund hierfür ist auch, dass die Arbeitssysteme noch immer nicht aufeinander abgestimmt sind. Dabei hat das Bundesgesundheitsministerium gerade erst in einem Eckpunktepapier (liegt dem Abendblatt vor) erklärt, dass die Leitstellen 112 und 116 117 mit abgestimmten Arbeitssystemen arbeiten sollen. Doch in Hamburg nutzt die 116 117 SmED, die 112 NoraTec.
Dabei geht die Empfehlung sogar noch weiter: Das Ziel sind sogenannte integrierte Gesundheitsleitstellen, also alles unter einem Dach. Doch momentan wird in Hamburg eine neue Leitstelle für die Feuerwehr gebaut. Räumlichkeiten für die KV sind dafür allerdings nicht vorgesehen und sollen von der KV auch nicht gewünscht sein.
Kritik: Es fehlt ein valides Monitoring
Aufgrund all dieser ungeklärten Fragen hätte man die Imagekampagne auch gar nicht erst starten sollen, sagen die Kritiker. Ihr Argument: Auch aufgrund der unterschiedlichen Systeme könne man die Ergebnisse überhaupt nicht überprüfen. Es fehlt ein sogenanntes Monitoring. Die Feuerwehr kann zwar zählen, wie viele Einsätze sie an die 116 117 abgibt, sie kann aber nicht überprüfen, wie viele von diesen Fällen wieder zurückkommen. Man könne somit nicht überprüfen, ob die Arbeit, die man da macht, richtig oder falsch ist.
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Unterstützer der Kampagne halten dem entgegen, dass es bei dem Film in erster Linie nur darum gehen würde, die Bevölkerung besser zu sensibilisieren. Und auch bei den Gesprächen zwischen KV, Feuerwehr und Krankenkassen ist Interimsfeuerwehrchef Sauermann sehr viel optimistischer als manch anderer aus den eigenen Reihen.
„Wir sind in guten Gesprächen“, sagt er dem Abendblatt – und gibt zum Abschied aber lieber nicht die Hand. Er sei gesundheitlich angeschlagen, sagt Sauermann hustend. Eine Einschätzung, die er auch ohne Anruf bei der 116 117 oder der 112 abgeben konnte.