Hamburg. Haben Senator Andy Grote und Feuerwehrchef Jörg Sauermann brisante Fragen korrekt beantwortet? Juristen geben eine klare Antwort.

Die Luft im Raum 151 des Rathauses stand, als kurz vor dem Ende der zweistündigen Innenausschusssitzung am 1. November noch letzte Fragen im Eiltempo durchgegangen wurden. Dennis Gladiator, der innenpolitische Sprecher der CDU, hatte nach einer quälend langen Frage-und-Antwort-Runde mit Innensenator Andy Grote (SPD) und Interimsfeuerwehrchef Jörg Sauermann noch zwei Ratzfatzfragen zum Rettungsdienst (Tagesordnungspunkt 2). Die kaum erhellenden Antworten dauerten jeweils weniger als 60 Sekunden und können in einem Grote-Satz zusammengefasst werden: „Mir ist dazu nichts bekannt.“

Doch zweieinhalb Wochen später sorgen diese Antworten nun für ordentlich Wirbel. Denn nach intensiven Abendblatt-Recherchen steht der Verdacht im Raum, dass Grote und Sauermann im Innenausschuss – vorsichtig formuliert – nicht die vollständige Wahrheit gesagt haben.

Feuerwehr Hamburg: Senator Grote und Chef Sauermann im Innenausschuss befragt

Zur Vorgeschichte: In der lange geforderten und endlich durchgeführten Innenausschusssitzung sollten sowohl die zahlreichen Probleme der Feuerwehrführung als auch Vorwürfe rund um den Rettungsdienst und den gerade erst geänderten Entwurf zum neuen Rettungsdienstgesetz besprochen werden. Dazu muss man wissen: Im Dreieck zwischen Feuerwehr, Rettungsdienst und Innenbehörde gibt es seit Jahren Reibereien, Interessenskonflikte und Machtkämpfe. Es geht um unterschiedliche Sichtweisen, einerseits. Und andererseits um politische Ränkespielchen.

Ex-Feuerwehrchef Christian Schwarz und die Innenbehörde lieferten sich sogar einen monatelangen Rechtsstreit – nun gibt es seit einem knappen Dreivierteljahr eine Interimsspitze. Beruhigt hat sich die Lage seitdem nicht, ganz im Gegenteil. Und auch im Rettungsdienst gibt es seit langer Zeit verschiedene Lager, sodass erst vor Kurzem die eigentlich unbedeutende Wahl des Beauftragten der Leitenden Notarztgruppe nur durch Hilfe einer Anwaltskanzlei durchgezogen werden konnte.

Welche Rolle spielt der wiedergewählte Notarzt-Beauftragte Thoralf Kerner?

In dieser Gemengelage hatte Gladiator zum Ende des Innenausschusses noch zwei Fragen: Zum einen fragte er, ob denn alle Mitglieder dieser Leitenden Notarztgruppe die Voraussetzungen des Hamburger Rettungsdienstgesetzes erfüllen. Und zum anderen, ob bei den Besetzungen von Intensiv-Transportwagen (ITW) in Hamburg unterschiedliche Qualifikationen und Voraussetzungen bestehen. Diese ITW sind besonders aufwendig und teuer ausgestattete Spezialfahrzeuge. Beide Fragen – und das wusste jeder im Raum – zielten auf den gleichen Hintergrund ab: die umstrittene Wiederwahl des Beauftragten der Leitenden Notarztgruppe: Prof. Thoralf Kerner aus dem Asklepios Klinikum Harburg.

Dazu muss man wissen: Prof. Kerner gilt in seinem Fachgebiet als echter Experte. Kerner hat 30 Jahre Erfahrung in der präklinischen Notfallmedizin, mehr als 20 Jahre ist er als Notarzt im Einsatz gewesen. Einerseits. Andererseits soll er auch ein begnadeter Strippenzieher hinter den Kulissen sein. Nur: Ob er trotz seiner unstrittigen Expertise auch die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt, als Beauftragter der Leitenden Notarztgruppe zu fungieren, ist eben doch umstritten.

Senator Grote verwies Frage an Feuerwehrchef Sauermann

Das weiß auch Senator Grote, der die entsprechende Frage von Gladiator an Interimsfeuerwehrchef Sauermann verwies. Dieser antwortete kurz und knapp, dass er natürlich davon ausgehe, dass alle Anforderungen erfüllt seien: „Ich gehe mal davon aus, dass das Gremium nicht jemanden vorschlägt, der nicht qualifiziert ist.“

Eine ganze Reihe von Verantwortlichen hat da eine ganz andere Sichtweise. Demnach soll der wiedergewählte Professor schon seit Jahren nicht mehr als aktiver Notarzt tätig sein, was aber laut Hamburger Rettungsdienstgesetz eine Voraussetzung in der Leitenden Notarztgruppe ist. Deswegen fragte das Abendblatt noch einmal schriftlich nach. In einer gemeinsamen Erklärung von Feuerwehr und Innenbehörde heißt es ein wenig verklausuliert: „Die Einbindung in den Rettungsdienst kann über die Wahrnehmung von Notarztdiensten auf dem NEF (Notarzteinsatzfahrzeug, die Red.) oder auch über die Wahrnehmung von Diensten als Notarzt in besonderen Einsatzlagen (aus Rufbereitschaft) erfolgen.“

Juristen haben eindeutige Einschätzung zum Leitenden Notarzt

Und nun wird es kompliziert und interessant zugleich. Denn einen Notarzt in besonderen Einsatzlagen aus der Rufbereitschaft gibt es in dieser Form gar nicht in Hamburg. Gemeint sein dürfte ein Leitender Notarzt (LNA). Doch dies reicht laut dem Rettungsdienstgesetz als Qualifikation für den Beauftragten der Leitenden Notarztgruppe eben nicht aus. Da sind sich unabhängige Juristen, deren Fachgebiet der Rettungsdienst ist, jedenfalls sicher.

Andreas Pitz, ein Professor an der Hochschule Mannheim, der mehrfach zu diesem Thema Fachpublikationen angefertigt hat, sagt auf Abendblatt-Anfrage, dass die Voraussetzung als Notarzt im Rettungsdienst aus dem Gesamtzusammenhang nur so verstanden werden kann, „dass der betreffende Arzt regelmäßig als Notarzt im Rettungsdienst tätig sein muss“. Dies sei laut Pitz von der zuständigen Behörde zu überprüfen – „und wenn diese Tatsache wegfällt, kann diese Person auch nicht mehr als Leitender Notarzt tätig werden.“ Pitz‘ Fazit: „Die Bestellung als Leitender Notarzt wäre aufzuheben.“

Rettungsdienst-Experte Tries: Nicht mit gesetzlichen Vorgaben vereinbar

Ähnlich sieht es auch der Jurist Ralf Tries, der sich ebenfalls auf rechtliche Themen rund um den Rettungsdienst spezialisiert hat. Er sagt, dass genau diese Frage im Hamburger Rettungsdienstgesetz (§ 17 Abs. 3) klar geregelt sei: Im dortigen Satz 2 sei als weitere Voraussetzung für die Tätigkeit als Leitender Notarzt ausdrücklich und eindeutig „eine Einbindung als Notarzt (...) in den Rettungsdienst“ formuliert. Sein Fazit: Der gerade erst wiedergewählte und durch die Innenbehörde bestätigte Beauftragte der LNA-Gruppe sei „nicht mit den gesetzlichen Vorgaben vereinbar“.

Mit anderen Worten: Die unabhängigen Experten Tries und Pitz widersprechen der Hamburger Feuerwehr und Innenbehörde, dass Prof. Kerner die Voraussetzungen als Beauftragter der LNA-Gruppe erfüllt. Und genau das wurde und wird bereits seit Monaten intern diskutiert.

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Ähnlich sieht es auch bei Gladiators Frage Nummer zwei aus, ob bei den Besetzungen der prestigeträchtigen Intensivtransportwagen (ITW) in Hamburg unterschiedliche Qualifikationen und Voraussetzungen bestehen. Während Grote im Innenausschuss antwortete, dass ihm dazu nichts bekannt sei, sagte Sauermann: „Unseres Wissens nach gibt es da keine Abweichung.“

Die Antwort überrascht, weil nach Abendblatt-Informationen diese Frage sehr kontrovers in der Feuerwehr diskutiert wurde – und Sauermann selbst trotz interner Einwände unterschiedliche Leistungsbeschreibungen bei der Vergabe von ITWs abgesegnet hatte. Deswegen hakte das Abendblatt auch hier noch einmal nach.

Im schriftlichen Protokoll steht plötzlich etwas ganz anderes

In der schriftlichen Protokollerklärung, die die Innenbehörde als Antwort verschickte, heißt es nun plötzlich: „In einem Fall wurde im Jahr 2022 ein ITW mit einer zusätzlichen ärztlichen Qualifikation (Facharzt) ausgeschrieben und vergeben. In der Folge wurden nach Abstimmungen – insbesondere mit Leitenden Notärzten und der in die Notfallrettung einbezogenen Bundeswehr – die Anforderung an die ärztliche Qualifikation bei Ausschreibungen von ITW an die Divi-Empfehlungen angepasst und bei einer Ausschreibung im Jahr 2023 angewendet.“ Divi ist die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin.

Mit anderen Worten: Anders als von Sauermann im Innenausschuss behauptet, gibt es sehr wohl unterschiedliche Qualifikationen. Tatsächlich wurde lediglich der älteste von insgesamt drei ITWs, betrieben vom Malteser Hilfsdienst und Marienkrankenhaus (Ärztliches Personal), mit Facharztbesetzung ausgeschrieben – genau so wie es im Übrigen nach Abendblatt-Informationen auch der Ärztliche Leiter Rettungsdienst (ÄLRD) empfohlen haben soll. Bei ITW Nummer zwei (betrieben von der Bundeswehr und ärztliches Personal aus dem UKE, Bundeswehr und BG Klinikum) und ITW Nummer drei (betrieben von ASB und ärztlich besetzt durch Asklepios) wurden dagegen andere Maßstäbe angelegt und auf die empfohlene Facharztbesetzung verzichtet.

Rettungsdienst-Experte: Festlegung des Ärztlichen Leiters ist wesentlich

Rettungsdienst-Experte Tries sagt hierzu: „Die gesetzlich zugeschriebene Befugnis zur Festlegung ,medizinisch-organisatorischer Versorgungsrichtlinien‘ ist ernst zu nehmen, da sie unmittelbar mit der Organisations- und Überwachungsverantwortung des Ärztlichen Leiters Rettungsdienst (ÄLRD) und damit auch der diesen beschäftigenden Behörde korreliert.“ Laut Tries sollte „die Festlegung des ÄLRD ein wesentlicher und zu beachtender Maßstab sein, das auch zur haftungsrechtlichen Entlastung aller Beteiligter.“

Immer wieder wird von den Experten in diesem Zusammenhang auf die Kompetenz des Ärztlichen Leiters Rettungsdienst verwiesen. Tatsächlich sollte dieser qua Amt bei der Feuerwehr objektiv und unparteilich sein – im Gegensatz zu den Leitenden Notärzten, die immer auch die Interessen ihrer Krankenhäuser im Blick haben könnten. Vereinfacht zusammengefasst: Während die Behörden ein natürliches Interesse daran haben müssten, dass die Qualifiktion der Besatzung der ITWs so hoch wie möglich sein müsste, könnten die besetzenden Kliniken aufgrund der dann höheren Kosten genau das gegenteilige Interesse haben.

Erst nach Protesten überarbeitete Grote Rettungsdienstgesetz

Ein möglicher Interessenskonflikt liegt also auf der Hand. Umso mehr verwunderte es, dass im Sommer die Position des ÄLRD im ersten Entwurf zur Neuregelung des Rettungsdienstes ganz neu justiert wurde. Erst nach einem Aufschrei der Empörung durch die Politik nahm Grote den umstrittenen Paragrafen 16 wieder aus der Novellierung hinaus.

Der damalige Verdacht der Kritiker von Grotes erstem Gesetzentwurf war, dass der neue Zuschnitt des ÄLRD nur auf Prof. Kerner passen würde. Dieser gilt zwar als echter Fachmann, soll aber als Beauftragter der Leitenden Notarztgruppe mehr politischen Einfluss nehmen, als manch einem lieb ist. So möglicherweise auch bei der Fachbesetzung – oder besser: fehlenden Fachbesetzung der ITW.

Feuerwehr Hamburg: Innenexperte Gladiator sieht Missachtung oder Ahnungslosigkeit

Fragesteller Gladiator hat Grotes und Sauermanns Innenausschuss-Antworten jedenfalls sehr genau zur Kenntnis genommen. „Dass selbst zu aktuellen Diskussionen wie zur Besetzung der Leitenden Notarztgruppe keine klare und transparente Antwort gegeben wurde, ist entweder eine Missachtung des Ausschusses oder ein Zeichen der Ahnungslosigkeit“, sagt der CDU-Mann. „Beides wäre schlecht für die Stadt und nicht die Unterstützung, die die Frauen und Männer der Feuerwehr für ihren großartigen Einsatz verdient haben.“

Fortsetzung folgt. Im nächsten Innenausschuss. Am 14. Dezember.