Hamburg. Kürzere Sprechzeiten und Praxisschließungen drohen. Medizinern fehlt es an Geld, Personal und Wertschätzung. Protesttag geplant.
Hamburgs Ärztinnen und Ärzte schlagen Alarm: Wenn die Bundesregierung ihre Gesundheitspolitik nicht ändere, drohten in den Praxen der Hansestadt verkürzte Sprechstundenzeiten, längere Wartezeiten für Patienten – sogar Aufnahmestopps und Praxenschließung. Davor warnt die Kassenärztliche Vereinigung in Hamburg. Der Befund der Mediziner: Das System ist unterfinanziert – und zwar chronisch. Am 2. Oktober werden deshalb aus Protest die Praxen geschlossen.
Die Honorarabrechnungen für das erste Quartal dieses Jahres, die die Hamburger Ärzte vor einigen Tagen erreichten, lösten bei vielen von ihnen einen Schock aus: Erstmals gibt es für die Behandlung neuer Patienten keine zusätzlichen Mittel. Die Änderung der Neupatientenregelung, die Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) durchgesetzt hatte, war von Medizinern bereits im Vorfeld scharf kritisiert worden. Jetzt zeigen sich erstmals ihre Auswirkungen.
Hamburger Ärzte bekommen 40 Millionen Euro weniger
Die Hamburger Ärzte verlieren Mittel in Höhe von jährlich 40 Millionen Euro – und das, während zugleich ihre Ausgaben angesichts von Inflation, höheren Mieten, Personal- und Energiekosten drastisch steigen. „Es ist eine Katastrophe mit Ansage“, sagt Dr. Michael Reusch, Vorsitzender der Vertreterversammlung der KV Hamburg. Die Hansestadt sei besonders betroffen. Es drohe ein „Tsunami an Praxisschließungen“, heißt es von der KV.
„Der wirtschaftliche Druck ist in vielen Praxen mittlerweile unerträglich geworden“, so Reusch. „Die Bundespolitik lässt die Praxen mit der Inflation, mit steigenden Personal- und Energiekosten nach wie vor allein und entzieht der Versorgung noch Geld, das vor allem für die Versorgung von Neupatienten vorgesehen war.“ So verwundere es nicht, dass junge Mediziner sich immer mehr scheuten, eine Praxis zu eröffnen. Die angespannte Lage habe nicht nur Konsequenzen für die Ärzte, sondern vor allem auch für die Hamburger Patientinnen und Patienten.
Abrechnung für das erste Quartal löst bei Medizinern Schock aus
Nach Bekanntwerden der Abrechnungen für das erste Quartal wandten sich viele Hamburger Ärztinnen und Ärzte hilfesuchend an die Kassenärztliche Vereinigung. Die Zahlen haben viele sehr aufgewühlt – bis hin zur Verzweiflung. Im Schnitt fallen 30.000 Euro pro Praxis durch die Neuregelung weg. „Dies trifft Hamburg besonders schwer und es trifft benachteiligte Stadtteile besonders stark“, sagt John Afful, Vorstandsvorsitzender der KV Hamburg. „Eine Praxis wirtschaftlich zu führen, wird immer schwieriger.“ Der Bundesgesundheitsminister verspreche den Menschen eine vollumfängliche ambulante Versorgung, die Praxen bekämen aber zum Teil nur 80 Prozent ihrer Leistungen vergütet.
Das Praxissterben sei schon jetzt Realität, warnt Afful. Derzeit gebe es 3146 Vertragspraxen in Hamburg, vor einiger Zeit waren es noch 3500 Praxen. „Wenn sich dies fortsetzt, wird es schwer für die Menschen in dieser Stadt, eine medizinische Versorgung zu finden.“
Junge Ärzte scheuen Übernahme einer Praxis
Die ohnehin angespannte Lage habe sich noch einmal zugespitzt. Durch Energiekosten, Mieten und Personalgehälter sowie die allgemeine Inflation seien die Ausgaben um 15 Prozent gestiegen, während im Gegenzug die Honorareinnahmen um zehn Prozent gesunken seien, sagt Dr. Mike Müller-Glamann, niedergelassener Facharzt für Allgemeinmedizin in Hamburg. Das fresse die Hälfte des Gewinns auf. „Jüngere Ärzte fragen sich, ob sie überhaupt noch in das System reingehen sollen“, sagt Reusch.
Besonders schwierig sei die Lage für Hausärztinnen und Hausärzte. Erhielten sie 2020 noch 68 Euro im Quartal pro Patient, waren es 2021 noch 60 und im laufenden Jahr 53 Euro, rechnet Müller-Glamann vor, der in Bramfeld eine Hausarztpraxis betreibt. Unter diesen Umständen sei es extrem schwierig, junge Mediziner dazu zu bewegen, sich niederzulassen.
Fast jeder dritte Hausarzt in Hamburg über 65 Jahre alt
„Wir werden in den kommenden Jahren erhebliche Probleme mit dem Nachwuchs haben“, so Müller-Glamann. Dabei seien 38 Prozent der Hamburger Hausärzte über 60 Jahre, 30 Prozent sogar über 65 Jahre. Wenn nur 75 Prozent der über 65-jährigen Allgemeinmediziner ihre Praxis aufgäben, „werden in zwei Jahren rund 200.000 Menschen in Hamburg einen Hausarzt suchen“. Die Abrechnung für das erste Quartal 2023 sei so schockierend, dass die Politik dringend eine Entscheidung treffen müsse, so Müller-Glamann.
Hamburgs Ärztinnen und Ärzte fordern von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) eine bessere Finanzierung der Praxen und eine Abschaffung der Budgetierung. Aus ihrer Sicht gefährdet die Gesundheitspolitik der Bundesregierung die ambulante vertragsärztliche und vertragspsychotherapeutische Versorgung in Hamburg. „Schon jetzt sehen wir, dass Praxen vor allem in sozial schwächeren Stadtteilen keinen Nachfolger finden.“
Protest: Am 2. Oktober bleiben Praxen in Hamburg geschlossen
Auch mangele es an Wertschätzung für die Praxisteams vonseiten der Politik. „Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die junge Generation an Ärztinnen und Ärzten immer stärker den Weg in die Niederlassung scheut.“ Reusch kündigte an, dass die KV Hamburg ihre Mitglieder und deren Praxisteams für Montag, 2. Oktober, zu einer Protest- und Fortbildungsveranstaltung einladen werde. Die Arztpraxen in Hamburg sollen an diesem Tag geschlossen bleiben.
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Die Mediziner kämpfen mit einem weiteren Problem: „Es wird immer schwieriger, Personal zu finden und an die Praxis zu binden“, sagt Hausarzt Mike Müller-Glamann. „Mitarbeiterinnen wandern in Krankenhäuser ab, weil dort einfach mehr gezahlt wird.“ Das gefährde mittelfristig die patientennahe Versorgung. Teilweise würden den Medizinisch-Technischen Assistenten, den sogenannten MTAs, von Kliniken 1000 Euro mehr Gehalt monatlich angeboten, schildert auch Anna-Katharina Doepfer, niedergelassene Fachärztin für Orthopädie, Unfallchirurgie und Kinderorthopädie.
Ärztinnen und Ärzte leisteten aus Verantwortung für ihre Patienten Mehrarbeit, höben die Gehälter für ihre Mitarbeiter an und stemmen die inflationsbedingt höheren Kosten – da sei die Abrechnung am Ende des Quartals „ein Schlag ins Gesicht“. Wenn sie in ihrer Praxis ein Baby mit einer Hüftdysplasie mit einer Schiene versorge, erhalte sie für die Kontrolle der Schiene gerade einmal 12 Euro – sei aber 20 Minuten damit beschäftigt, so die Orthopädin.
Ärzte Hamburg: Kosten wie in der Marktwirtschaft, Abrechnung wie in Planwirtschaft
„Die Versorgung jedes vierten Patienten zahlen wir aus eigener Tasche – das können wir uns schlicht nicht mehr leisten.“ Die Kosten entstünden nach marktwirtschaftlichen Mechanismen, abgerechnet werde aber dann wie in einer Planwirtschaft, kritisiert sie. Viele Ärzte gingen ins Ausland, wo sie besser verdienten. Zahlen dazu hat die KV allerdings nicht.
„Wir fordern daher vom Bundesgesundheitsminister, zum einen endlich sein Versprechen einzulösen und die Hausärzte, wie im Koalitionsvertrag angekündigt, zu entbudgetieren – und zum anderen das Honorar so zu erhöhen, dass Praxen die Versorgungsleistungen für ihre Patientinnen und Patienten aufrechterhalten können.“