Hamburg. Bezirksleitung über den Arbeitskampf im 21. Jahrhundert, die Arbeitsbedingungen bei Lieferdiensten und die Viertagewoche.
Ver.di gehören so viele Hamburger an wie schon lange nicht mehr. Bundesweit kratzt die vereinte Dienstleistungsgewerkschaft sogar wieder an der Marke von zwei Millionen Mitgliedern. Befeuert wird die „gewerkschaftsfreundliche“ Stimmung, na klar, durch massive Preissteigerungen. Denn wie das Budget infolge der Inflation schrumpft, merken alle. Arbeitsniederlegungen, um höhere Löhne zu erstreiten, treffen daher nicht nur oft auf Verständnis der Bevölkerung, sondern auch den Nerv der Zeit.
Im Gespräch mit dem Abendblatt kündigen Ver.di-Landesbezirksleiterin Sandra Goldschmidt und ihre Stellvertreter, Ole Borgard und Heike Lattekamp, an, welche Arbeiterinnen und Arbeiter in diesem Jahr in Hamburg auf die Straße gehen, wie die Gewerkschaft mit modernen Arbeitsformen umgeht und was Ver.di Hamburg von der Viertagewoche hält.
Ver.di-Hamburg: So geht Arbeitskampf im 21. Jahrhundert
Bei Ver.di Hamburg ist man zufrieden mit sich. Im vergangenen Jahr hat die Gewerkschaft „in Hamburg echt Tarifgeschichte geschrieben“, sagt Ole Borgard in Hinblick auf die Streikbewegung zum Tarifvertrag der Länder (TVL) und dem Stadtstaatenstreiktag im Herbst. „Das ist in der Größenordnung, mit dieser Streikmasse, im Tarifbereich der Länder noch nie so da gewesen. So etwas wird bundesweit gesehen und manifestiert sich dann auch in Abschlusshöhen“, so Borgard sichtlich stolz.
Anlass für die Arbeiter, auf die Straße zu gehen, war die Lohndifferenz zwischen TVL und dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TVöD). „Für gleiche kommunale Tätigkeiten werden die Menschen in Hamburg nach dem TVL bezahlt, wohingegen sie im Umland nach TVöD bezahlt werden“, erklärt Borgard. „Dadurch haben wir ein Lohngefälle nach Hamburg hinein“ – und das bei oft höheren Lebenshaltungskosten, die das Wohnen und Arbeiten in Hamburg mit sich bringt.
Im vergangenen Jahr habe Ver.di nun dafür gesorgt, dass sich die Lohnlücke zwischen den Beschäftigten nach TVL und TVöD nicht weiter vergrößert. Geschlossen ist sie aber noch immer nicht „und das ist ein Punkt, an dem wir mit der Tarifbewegung im Bereich der Länder auch in den kommenden Jahren dranbleiben wollen. Wir werden das Thema ,Wer für Hamburg arbeitet muss in Hamburg leben können‘ weiter strapazieren“ , verspricht Borgard.
Gewerkschaft Ver.di: Große Streiks in Hamburg auch im Jahr 2024 geplant
Obwohl auch Landesbezirksleiterin Goldschmidt 2023 als Erfolgsjahr für die Gewerkschaft verbucht, weiß sie ebenso, dass der Arbeitskampf längst nicht gewonnen ist: „Der ein oder andere Abschluss hätte ein bisschen höher ausfallen können“, findet sie. „Wir hatten zwar sensationelle Abschlüsse, aber sie federn die Preissteigerungen – besonders extrem bei Lebensmitteln und Energiekosten, wo sie fast 20 Prozent betragen – nicht komplett ab.“ Gerade Menschen in unteren Gehaltsgruppen treffe das hart. „Ein weiterer Wermutstropfen ist, dass wir den Tarifvertrag im Handel nach wie vor nicht zustande bekommen haben“, so Goldschmidt.
Drum ruhe sich die Gewerkschaft nicht auf ihren Lorbeeren aus. 2024 wolle Ve.rdi in Hamburg weiterhin für und mit den Beschäftigten auf die Straße gehen. Da seien auch „absolute tarifpolitische Großprojekte für Hamburg dabei, im Zweifel auch mit deutlich spürbaren Streikauswirkungen“, so Borgard. Etwa bei der Hochbahn und im Hafen will sich die Gewerkschaft einmischen. Zudem organisiere Ver.di eine große Kampagne gemeinsam mit Fridays for Future. „Das sind Bereiche, wo die Beschäftigten dann auch die Solidarität der Bevölkerung in großem Maße brauchen werden“, appelliert Borgard.
Ver.di Hamburg schätzt großen Rückhalt aus der Bevölkerung
Umso besser, dass Ver.di die Hamburger derzeit auf ihrer Seite wähnt. „Wir haben sehr deutlich gemerkt, dass wir den nötigen Zuspruch aus der Bevölkerung hatten“, sagt Goldschmidt auf das Jahr 2023 zurückblickend. Es habe außerordentlich viel Verständnis für Beschäftigte gegeben, die mehr Lohn erstreiten wollten. „Beschwerden konnte ich hingegen an einer Hand abzählen – und das ist echt selten“, so die Landesbezirksleiterin.
Bei den Streiks vor einigen Jahren sei das noch ganz anders gewesen, wirft Kollegin Heike Lattekamp ein: „Da haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch mal Beschimpfungen oder grimmige Blicke abbekommen.“ Die augenblicklichen Streiks im Handel würden hingegen zeigen, dass die Kunden Verständnis für die Situation der Beschäftigten haben und sie im Kampf um angemessene Löhne und Gehälter unterstützen.
Wandel der Arbeitswelt: Ver.di erwarten neue Herausforderungen
Um Arbeiter auch in weiterer Zukunft in ihren Lohnforderungen und der Ausweitung ihrer Rechte zu bestärken, müssen Gewerkschaften wie Ver.di am Zahn der Zeit bleiben. Es gelte, ein gewisses „verstaubtes Image“ loszuwerden. Der Arbeitskampf des 21. Jahrhunderts sei deshalb ein bunter, emanzipatorischer, demokratiefördernder.
Er müsse mit dem Wandel der Arbeitswelt Schritt halten können. Exemplarisch: Während die einen flexible Arbeitszeiten und höhenverstellbare Schreibtische fordern, strampeln sich die nächsten auf dem E-Bike ab, um ihre Gorillas- oder Flink-Lieferung pünktlich zuzustellen. Uber, Lieferando und Co. werden zu attraktiven Jobs im Niedriglohnsektor, weil diese Unternehmen unkompliziert einstellen. Die Arbeitsbedingungen hingegen sind oft miserabel und die Jobs Ver.di daher ein Dorn im Auge.
„Wir werden diese Arbeitsformen ja nicht mehr vom Markt kriegen“, klagt Heike Lattekamp. „Sie sind jetzt da und unser Job ist es, gemeinsam mit den Beschäftigten die dortigen Arbeitsbedingungen grundlegend zu verbessern.“ Erste Betriebsräte in Firmen wie Gorillas oder Lieferando gebe es in Deutschland bereits, auch in Hamburg wolle die Gewerkschaft Arbeitnehmer nun ermutigen, stärker für ihre Rechte einzustehen.
Ver.di-Hamburg-Leitung: Viertagewoche wäre „gesellschaftlicher Gewinn“
Der Wandel der Arbeitswelt setzt aber auch erfreuliche Debatten auf die Agenda, meint Landesbezirksleiterin Goldschmidt. Die Idee der Viertagewoche hält sie beispielsweise für zukunftstauglich: „Ich stelle mir schon die Frage, ob wir das Vollzeitmodell irgendwann aufgeben und übergehen zu 35 oder 30 Wochenarbeitsstunden. Ich glaube, dass das stemmbar wäre.“ Eine Menge Studien würden bereits beweisen, dass Menschen teils produktiver arbeiten, wenn sie es nicht fünf Tage in der Woche für acht Stunden machen müssten.
„Ich denke, trotz des demografischen Wandels beobachten wir Entwicklungen – Digitalisierung und Transformation – die die Möglichkeit schaffen, dass wir uns in Richtung 30- oder 35-Stunden-Woche bewegen“, so Goldschmidt. „Das wäre ein ungemeiner gesellschaftlicher Gewinn.“ Es würde mehr Frauen ermöglichen, auch tatsächlich 30 Stunden in der Woche zu arbeiten, statt wie bislang oftmals weniger, weil sie die Kinder alleine betreuen müssen. „Viele Menschen hätten auch mehr Zeit für Ehrenämter“, argumentiert sie.
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Ver.di-Hamburg: MSC-Deal falscher Weg für den Hafen
Doch bis sich die Gewerkschaft solchen Fragen in Ruhe widmen kann, gibt es genügend andere Stellschrauben, an denen sie zu drehen versucht. Landesbezirksleiterin Goldschmidt ist derzeit offenbar tief in den Hafen abgetaucht. Von der geplanten Übernahme durch die Schweizer Reederei MSC von bis zu 49,9 Prozent der Anteile des Hamburger Hafenkonzerns HHLA hält sie in Hinblick auf die Hafenbeschäftigten wenig. Unter anderem gegen betriebsbedingte Kündigungen oder wesentlich veränderte Arbeitsbedingungen im Zuge der Teilübernahme konnte Ver.di Hamburg sich bereits einsetzen.
Die Gewerkschaft sieht in dem Teilverkauf der HHLA eine Bedrohnung für die Hamburger Wirtschaft: „Die Frage ist ja: Gehen wir jetzt als Häfen in Konkurrenz – Hamburg gegen Bremen? Oder stellen wir uns gemeinsam gegen die Reedereien auf. Die haben immerhin über total niedrige Steuern Gewinne abgeschöpft und mit diesem Geld kaufen sie jetzt staatliches Eigentum auf“, so Goldschmidt.
Die Landesbezirksleiterin geht davon aus, dass der Einfluss der Reedereien Hamburgs Wirkmacht schmälert: „Jenseits der Frage, ob MSC nun 30 Prozent der frei verfügbaren Aktien bekommt, halten wir es für falsch, 20 Prozent aus Stadthand zu verkaufen“, sagt sie daher. „Es ist falsch, weitere Teile der HHLA zu privatisieren. Auch wenn die Stadt rechnerisch die Mehrheit behält, ist Fakt: Damit werden private Interessen noch mehr Gewicht bekommen.“ Inwiefern die Gewerkschaft hier noch intervenieren kann, wird sich im laufenden Jahr zeigen.