Scharfe Reaktionen auf den Vorstoß des Hamburger Innensenators. Kritik auch von CDU und FDP.

Es passierte beim Kamingespräch der Innenministerkonferenz in Bremen: Ein aufgeräumter Innensenator Ronald Schill (44) eröffnete seinen Kollegen sein neuestes Gedankenmodell: Das bei der Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater eingesetzte Betäubungsgas wäre doch auch etwas für die deutsche Polizei.

Betretenes Schweigen beim Kamingespräch, bei dem die Innenminister auch außerhalb der Tagesordnung und über die Parteigrenzen hinweg Unkonventionelles äußern können.

Starker Tobak, dachte sich offensichtlich Bundesinneminister Otto Schily (70, SPD). Er rief Schill zur Ordnung.

Was hatte sich Schill gedacht? Deutschland solle die Russen um die Formel für das Gas bitten - und es dann selbst herstellen, möglicherweise in der dafür geeigneten Münchner Klinik Rechts der Isar. Gegenüber dem Abendblatt bestätigte Schill seinen Vorstoß auf Anfrage. "Gute, vorausschauende Politik zeichnet sich dadurch aus, das man vorbereitet ist", so Schill. Das Gas solle in Deutschland eingesetzt werden, wenn es zu groß angelegten Geiselnahmen komme, bei denen Geiselnehmer drohen, sich mit ihren Opfern in die Luft zu sprengen. "Wichtig ist aber, dass wir vor einem Einsatz ein Gegenmittel entwickeln, damit in Deutschland Geiseln nicht an dem Gas sterben." In Moskau waren 129 Geiseln an den Folgen des Gaseinsatzes gestorben.

Schill sagte, er glaube, Russland werde Deutschland die Formel des Gases geben. "Schließlich sind wir gemeinsam in der Allianz gegen den Terror."

Sollte der Bund sich in dieser Sache nicht engagieren, werde Hamburg sich im Alleingang um die Beschaffung der Formel und um die Herstellung des Gases bemühen, sagte der Innensenator: "Wenn der Bund nicht in die Füße kommt, werden wir das alleine versuchen", so Schill.

"Es ist kaum zu glauben, dass ein Innenminister, der auch nur halbwegs bei Sinnen ist, so etwas vorschlägt", kommentierte SPD-Innenexperte Michael Neumann (32). Schill habe offenbar jeden Sinn für die Wirklichkeit verloren und werde zum Sicherheitsrisiko.

Leif Schrader (33), Innenexperte der FDP, hält Schills Idee für "völlig abwegig". Und CDU-Innenexperte Carsten Lüdemann (38) sagte: "Eine Diskussion über den Einsatz von Nervengas ist zurzeit völlig überflüssig." Deutschland verfüge über gut ausgebildete Einsatzkräfte und könne gut auf Geiselnahmen reagieren. Zahlreiche Tote, wie in Moskau, seien nicht billigend in Kauf zu nehmen.

"Die Idee ist völlig durchgeknallt", befand GAL-Chefin Anja Hajduk (39). Und SPD-Landeschef Olaf Scholz (44) sagte: " Wer vor Augen hat, wie Soldaten tote Geiseln aus dem Moskauer Musical-Theater tragen, kann nur mit dem Kopf schütteln."

"Es ist verwunderlich, dass ein erwachsener Innenminister über derartig abenteuerliche Szenarien nachdenkt", sagte Konrad Freiberg (51), Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei: "Man schämt sich, in Hamburg Polizist zu sein. Wir haben in Deutschland nicht annähernd eine Situation wie in Russland, und zudem andere Einsatzmethoden. Derartiges Gas einzusetzen wäre menschenunwürdig", sagte der GdP-Chef.

Und der Landesvorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Frank Schöndube (37), sagte dem Abendblatt: "Wir haben in Hamburg andere Probleme."