Hamburg. Demis Volpi präsentiert Choreografien von Aszure Barton und William Forsythe als atemberaubendes Erlebnis. Die meisten im Publikum freut‘s.
- Es sind ganz neue, ungewohnte Bewegungen, die die Compagnie des Hamburg Balletts hier präsentiert
- Das Publikum ist überwiegend begeistert, man sieht aber auch Ratlosigkeit in manchen Gesichtern
- Der Tänzer Alexandr Trusch kann seine Sprungliebe ausleben
Orange ist eine warme Farbe. Sie erinnert an die langen Roben buddhistischer Mönche, suggeriert Weisheit. In der Uraufführung des Ballettabends „Slow Burn“ der kanadischen Choreografin Aszure Barton dominieren Farben von Senfgelb bis hin zu tiefem Orange die Kostüme auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper. Kostümbildnerin Michelle Jank hat für sie alte Materialien aus dem Fundus zu neuen Kreationen verarbeitet und eingefärbt. Eindrucksvoll sehen sie aus: Lange, bei jeder Bewegung schwingende Gewänder mit Rüschen und Volants. Zwei Frauen tragen sie zunächst: die unvergleichlich ausdrucksstarke Silvia Azzoni und die schwebende Madoka Sugai.
Zu den fast im Cinemascope-Format auf- und abwogenden Klängen der Auftragskomposition des US-Musikers Ambrose Akinmusire tanzen sie synchron nebeneinander, bald miteinander, Arme umfassend, einander umkreisend, schließlich interagierend. Azzoni verkörpert eine weise Frau, Sugai ebenfalls, auch wenn die eine jünger, die andere älter ist. Sie könnten auch Mutter und Tochter sein und deuten das auch einmal an. Dann wieder sind sie vielleicht Liebende.
Hamburg Ballett: Die Compagnie zeigt ganz ungewohnte Bewegungen
Bald treffen sie auf Komplizen, allen voran Evan L’Hirondelle und Artem Prokopchuk. Und schließlich auf eine ganze Gemeinschaft von Verbündeten, die sie umkreisen, umtanzen, sich der Länge nach am Boden liegend aufreihen und den Oberkörper von einer Seite zur anderen schieben oder plötzlich stehend und kopfschüttelnd in kämpferische, tänzerische Ekstase ausbrechen.
Es sind ganz neue, ungewohnte Bewegungen, die die Compagnie des Hamburg Balletts hier meisterhaft präsentiert: Ballett – mit einem kräftigen Schuss zeitgenössischem Tanz. Man sieht gestreckte Beine, Drehungen, aber auch viele Bodenfiguren und eigenwillige Armgesten. „Slow Burn“ bezeichnet das langsame Wachsen tieferer Gefühle. Bei aller Abstraktion blitzen auch Momente des Narrativen auf. Für Aszure Barton und ihren musikalischen Partner Ambrose Akinmusire zählen zu den starken Frauen im Leben die eigene Mutter, aber auch berühmte Kunstschaffende wie Joni Mitchell oder Patti Smith. Das Bühnenbild ist maximal minimalistisch – dominiert allein von der Bewegung der Körper im Raum und von der wundervollen Lichtregie von Tanja Rühl.
Das Publikum ist überwiegend begeistert, vereinzelt sieht man auch etwas Ratlosigkeit
Unaufhörlich kreiselt die Musik mit viel sattem Geigenklang und furiosem Bläser-Einsatz, präsentiert vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Simon Hewett. Die Bewegungen arrangieren sich zu immer neuen, organischen Konstellationen. Mitunter wirken sie zu harmonisch, doch dann setzen zwei nebeneinander getanzte grandiose Duette ein, in denen auf einmal wieder rettende Dramatik spürbar wird. Das Publikum ist überwiegend begeistert, vereinzelt sieht man aber auch Ratlosigkeit in den Gesichtern.
Es sind unterschiedliche Ballettsprachen, die der neue Intendant des Hamburg Balletts, Demis Volpi, dem Publikum auch am zweiten, von ihm verantworteten Abend vor Augen bringen möchte. Und stärker als der Kontrast von Aszure Bartons „Slow Burn“ zu William Forsythes „Blake Works V (The Barre Project)“ nach der Pause könnte der wohl kaum ausfallen. Der Tanz ist aufs Wesentliche reduziert, die durchtrainierten Körper der Tanzenden sind in formal strenge, schwarze Trikots gehüllt. Anna Laudere tanzt einen technisch hoch anspruchsvolles Duett mit Matias Oberlin. Die Choreografie ist bestimmt von überstreckten Beinen, Biegungen, atemberaubenden Sprungfiguren und rasanten Drehungen.
Nicht umsonst gilt der Choreograf William Forsythe als einer der wichtigsten Balletterneuerer, der die Positionen der klassischen Ballettsprache bis in Extreme weitergedacht hat. Da schlägt die Stunde der Virtuosität. Und es ist bemerkenswert, wie schnell sich die herausragenden Tänzerinnen und Tänzer des Ensembles diese für sie ungewohnte Sprache angeeignet haben. Man spürt die Freude an der Herausforderung, wenn Aleix Martínez mehrere Drehungen hintereinander setzt und Alexandr Trusch seine Sprungliebe ausleben kann.
In Forsythes Choreografie geht es um die Freude am Tanz auch in schweren Zeiten
Die Bühne ist leer, allein die titelgebende Ballett-Stange blitzt im Hintergrund auf. Eindrucksvoll vollführen neben den Genannten Futaba Ishizaki, Charlotte Larzelere und Alessandro Frola Soli an der Stange. Gehen auf die halbe Spitze, drehen und schwingen in atemlosem Tempo zu den elegischen Elektro-Klangexperimenten des britischen Popmusikers James Blake.
In Forsythes Choreografie geht es um die Freude am Tanz auch in schweren Zeiten. Entstanden ist ein Teil der Choreografie über Zoom während der Pandemie, als die Ballettprofis in den engen heimischen vier Wänden improvisierte Stangen für das Training nutzten.
Mehr Hamburg-Kultur
- Elbphilharmonie: Dirigent Alan Gilbert unterbricht Konzert, geht von der Bühne
- Hamburger Musicals: Top oder Flop, welche Sie sehen müssen – und welche nicht
- Serebrennikovs „Legende“ am Thalia Theater: Unmöglich, sich diesem Ereignis zu entziehen
Es ist ein kluger Kunstgriff von Demis Volpi, zwei so unterschiedliche Sprachen zu einem Ballettabend zu verbinden. Um letztlich von der gemeinsamen Freude am Ballett zu erzählen.
„Slow Burn“ weitere Vorstellungen 13.12., 18.12., 19.12., 7.1., 10.1., 11.1., jeweils 19.30 Uhr, Hamburgische Staatsoper, Dammtorstraße 28, Karten unter T. 35 68 68; hamburgballett.de
Sternstunde oder Reinfall? Jeden Monat rezensieren wir für unsere Abonnentinnen und Abonnenten mehr als 100 Konzerte, Theatervorstellungen, Choreografien, Bücher, Ausstellungen, Serien oder Filme. Hier finden Sie alle Kritiken – was Sie in Hamburg gesehen, gehört oder gelesen haben müssen!