Hamburg. „Legende“: Das neue Stück des russischen Exil-Regisseurs Kirill Serebrennikov muss man sehen. Überbordend, auch überfordernd – aber toll.

  • Nach seinem Erfolg „Barocco“ kommt Kirill Serebrennikov wieder mit einem Überwältigungsabend
  • Am Thalia Theater gibt es noch Karten für „Legende“
  • Am Ende zitiert Karin Neuhäuser einen Satz für die Ewigkeit

Wie soll man diesen Abend zu fassen bekommen? Mit „Legende“ ist die neue Inszenierung des russischen Regisseurs und Dissidenten Kirill Serebrennikov am Thalia Theater in Hamburg überschrieben. Aber in Wirklichkeit erzählt er gleich zehn von ihnen. Und jede ist für sich genommen schon ein kleines Theaterwunder, ein Gesamtkunstwerk aus Theater, Oper, Tanz und visueller Überwältigung.

Die Szenen drehen sich mehr oder weniger um Motive aus der Welt von Sergey Paradjanov (1924–1990), eines im Westen heute weitgehend unbekannten sowjetischen Filmregisseurs und Surrealisten armenischer Herkunft, der in den 1960er-Jahren wirkte, in der Sowjetunion bald verfolgt, mit Lagerhaft, Gefängnis und Berufsverbot belegt wurde.

LEGENDE
Felix Knopp und Karin Neuhäuser in „Legende“ am Thalia Theater, inszeniert von Kirill Serebrennikov. © Frol Podlesnyi | Frol Podlesnyi

Auf der Folie seines Lebens erzählt der vor dem Putin-Regime 2022 ins Berliner Exil geflohene Regisseur Serebrennikov auch Motive seiner eigenen Künstlergeschichte: jener der Unterdrückung von Freiheit, Humanismus, Homosexualität, Schönheit und Kunst. Nach der Uraufführung bei der koproduzierenden Ruhrtriennale ist die Inszenierung nun im Thalia angekommen.

„Legende“ am Thalia Theater: Auf der Bühne formt sich Holzkonstruktion zu immer neuen Welten

Auf der Bühne formt sich eine einfache, blitzschnell wandelbare, schräge Holzkonstruktion zu immer neuen Welten. Wechselnde Schauspieler binden sich einen runden Bauch um und ziehen Haarkranz oder Mütze auf (Bühne und Kostüme: ebenfalls Serebrennikov), um den koboldhaften Freigeist Paradjanov zu verkörpern.

Es beginnt mit der „Legende von den Toten“, in der unter anderem Paradjanovs Eltern als Geisterwesen auftreten, die aus den Gräbern seiner Geburtsstadt Tiflis steigen, weil der Friedhof in einen Freizeitpark umgewandelt werden soll. Bald tritt auch „Werther“ (aus der Oper von Jules Massenet) auf, der sich gleich mehrfach erschießt, unter anderem, weil er „diesen Krieg leid ist“.

Von dem im Subtext stets mitschwingenden Krieg erzählt auch die „Legende von der Infantin Margarita“ (eine Anspielung auf das gleichnamige Gemälde von Velázquez). Hintergrund: Die unermesslichen Kunstschätze, die im Chanenko Museum in Kiew lagern, wurden nach dem russischen Überfall auf die Ukraine an einem unbekannten Ort in Sicherheit gebracht. Nun schrubben die Maler Velázquez, Delacroix und Dürer das Parkett, wobei sie von Luftalarm unterbrochen werden. „Alles vergeht, nur die Schönheit bleibt“, sagt Dürer. 

„Legende“: In dieser Inszenierung am Thalia Theater findet alles seinen Platz

„Legende“ ist ein exakt choreografiertes, zugleich grenzen- und schrankenloses Theater-Fest sowohl für die Thalia-Ensemblemitglieder wie für jene der Kirill & Friends Company. Felix Knopp begeistert in der „Legende von Stimme und Geste“ als Sammler, der eine von Karin Neuhäuser mit grandios traurig-komischem Diventum gegebene Schauspiellegende verehrt. Pascal Houdus überzeugt unter anderem als leidender Filmregisseur Armand.

Der wunderbare Odin Lund Biron berührt im Spiel wie mit seinem Gänsehaut-Gesang zum gezügelten Pathos der Kompositionen von Daniil Orlov. Der von Campbell Caspary expressiv gegebene Jüngling, der in der „Legende vom Baum der Wünsche“ so schön „Hallelujah“ zur Gitarre singt, wird am Ende von den Wünschenden zum Skelett gefleddert.

Weitere Legenden drehen sich um so disparate Figuren wie Walt Whitman oder König Lear. Um Sieger und einen Greis, der ins Eis einbricht. In dieser Inszenierung findet alles seinen Platz. 

Thalia Theater Hamburg: „Lasst alle politischen Gefangenen frei“, lautet die finale Botschaft

Wie eine gut geölte Maschine greifen alle Gewerke ineinander, werden Bühnenteile zwischen den einzelnen Legenden auseinandergeschoben und neu zusammengeschraubt. Wechseln die Spielenden von traditionellen georgischen Kostümen in elegante schwarze Stoffe mit verführerischen Ausschnitten. Und genauso überzeugend bringen sie herzhaften Humor und tief berührende Empfindung zusammen. 

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Paradjanov war ein Weltensammler, Rebell, Freigeist und Exzentriker. Und dieser Abend selbst ist das vollendete Aufbegehren gegen Zumutungen einer Welt ohne Poesie und Verachtung der Kunst – es ist am Ende sogar eine Behauptung gegenüber dem Tod.

Am Ende zitiert Karin Neuhäuser einen Satz von Paradjanov für die Ewigkeit: „Nach uns bleibt nur die Schönheit, die wir uns erlaubt haben … Ich habe mir viel, sehr viel Schönheit erlaubt.“ Als das Publikum im Saal am Ende stehend applaudiert, blitzt der Schriftzug „Free All Political Prisoners“ („Lasst alle politischen Gefangenen frei“) auf der Rückwand der Bühne auf.

Es ist unmöglich, sich dieser überbordenden, mitunter auch überfordernden, aber immer politisch dringlichen „Legende“ zu entziehen.  

„Legende“ weitere Vorstellungen 1.12., 18 Uhr, 8.12., 17 Uhr, 9.12., 19 Uhr, 4.1., 15 Uhr, 5.1., 15 Uhr, 6.1., 19 Uhr, Thalia Theater, Alstertor, Karten unter T. 32 81 44 44; thalia-theater.de 

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