Hamburg. Am Freitag feiert Wolf Biermann seinen 88. Geburtstag. Ein donnerndes Leben. In Hamburg haben nun jüngere Stars seine Lieder gesungen.

Dass Wolf Biermanns Texte heute noch aktuell sind, dürfte ihn nicht immer glücklich machen. Am 15. November wird er 88 und könnte sich womöglich zu alt fühlen, um gegen Kriege, Extremismus und Despoten anzusingen. Hört das niemals auf? Sieht derzeit nicht danach aus. Und so bekommt der Künstler jede Menge prominente Unterstützung, an diesem Abend im Thalia Theater.

Seine Frau Pamela war es, die vor zwei Jahren das große Album-Projekt anstieß. Auf „Wolf Biermann RE:IMAGINED – Lieder für Jetzt!“ sind allerlei große Namen verewigt, die die Texte des Liedermachers und DDR-Dissidenten auf ihre ganz eigene Art neu in Musik setzen. Die Idee: Biermanns Schaffen für ein junges Publikum neu zu beleben.

Im Thalia Theater: Haiyti, Plewka, Zervakis – sie beleben Wolf Biermanns Schaffen für junges Publikum

„Jung“ ist ein starkes Wort, wenn man sich im Publikum im Thalia Theater umsieht. Zweifellos ist der Durchschnitt rund 30 Jahre jünger als Biermann, Vertreter der Gen-Z oder Künstler, die diese ansprechen, lassen sich aber kaum blicken. Gäste wie Torch (starke Performance: „Von den Menschen“), Mitbegründer der deutschen Hip-Hop-Szene, haben selbst längst wahlweise Legenden- oder Altes-Eisen-Status. Rapperin Haiyti, die sich „Am Alex an der Weltzeituhr“ rausgepickt hat und mit digital verzerrter Stimme eine heftige Show abliefert, ist eine von wenigen Ausnahmen.

Der bunte Stil-Mix aber funktioniert tadellos. Erstes Highlight ist das „Lied vom donnernden Leben“. Jan Plewka ist seit den 90ern mit der Rockband Selig unterwegs. Die Zeilen, die nach mehr im Leben verlangen als Arbeit, Geld und Glotze, füllt er mit Schwere und Glaubwürdigkeit. Überhaupt wirken die völlig unterschiedlichen Interpretationen durch die Bank stimmig, von der Peinlichkeit, gegen die Cover-Projekte mitunter alles andere als immun sind, keine Spur.

Thalia Theater: Irgendwann holt Linda Zervakis Wolf Biermann selbst auf die Bühne

Ein bisschen Massenabfertigungs-Charakter – jeder singt und spielt seine Nummer, bedankt sich und verschwindet – lässt sich ob der langen Liste der Bühnengäste kaum vermeiden. Ex-Tagesschau-Sprecherin Linda Zervakis federt das aber als Moderatorin locker-charismatisch ab. Etwa in der Mitte des Programms holt sie Wolf Biermann selbst auf die Bühne – der Moment, auf den alle gewartet haben.

Er habe es nicht leicht gehabt, erzählt er, mit den ganzen jungen Leuten, die jetzt auf einmal seine Lieder singen. „Andre Zeiten, andre Vögel! Andre Vögel, andre Lieder! Sie gefielen mir vielleicht, wenn ich andre Ohren hätte!“ zitiert er Heinrich Heine – schließlich habe er es aber geschafft, sich endlich neue Ohren wachsen zu lassen. Bevor er den „Hugenottenfriedhof“ anstimmt, resümiert er: Die Nazis habe er überlebt, die DDR ebenso – und jetzt wollen andere, jüngere Menschen seine Lieder singen. „Ich muss doch ein Glückskind sein.“

„Wolf Biermann RE:IMAGINED – Lieder für Jetzt!“: Minutenlange Standing Ovations im Thalia Theater

Für „Soldat Soldat“ hat er sich das legendäre Free-Jazz-Duo Ulrich Gumpert und Günter Baby Sommer auf die Bühne bestellt. Drohend marschierende Cluster im Klavier, dunkle Magie am Drumset und ein Wolf Biermann, der alles gibt und die Hände über dem Kopf zusammenschlägt – ein Moment, der heute genau so aufrüttelt wie 1965.

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Auch wenn einige der wirklich großen Namen auf dem Album-Cover – Wolfgang Niedecken und Aligatoah etwa – live nicht dabei sind: Der Saal ist begeistert und schenkt Biermann und seinen neuen Wegbegleitern minutenlange Standing Ovations.

Belohnt mit einem fetten Mittelfinger in Richtung AfD, mit dem Rapper Juse Ju als Zugabe noch mal die Saaltemperatur hochdreht – die letzten Zeilen aus „Du, lass‘ dich nicht verhärten“, singt Biermann dann allein mit seiner Gitarre. Der perfekte Schlusspunkt, bei dem es das Publikum aber nicht belassen will. Und so muss der alte Meister noch den „Preußischen Ikarus“ aus dem Ärmel schütteln.

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