Hamburg. Klaus-Michael Kühne und Wolf Biermann kennen einander fast 70 Jahre lang. Erstmals gaben sie jetzt gemeinsam ein Interview.

Sie waren Klassenkameraden und Klassenkämpfer, Kapitalist und Kommunist, sie standen für politische, gesellschaftliche und biografische Gegensätze. Heute bezeichnen sich Wolf Biermann und Klaus-Michael Kühne, die als Heranwachsende im Nachkriegs-Hamburg gemeinsam die Heinrich-Hertz-Oberschule besuchten und beide kurz vor ihrem 80. Geburtstag stehen, als Freunde. Ein Gespräch über Kinderstreiche, Jugendsünden und die Sehnsucht im Alter.

Vom fünften bis zum zehnten Schuljahr gingen Sie in eine Klasse am Heinrich-Hertz-Gymnasium in Winterhude. Woran erinnern Sie sich zuerst, wenn Sie an Wolf und Klaus-Michael von damals denken?

Klaus-Michael Kühne: Ich erinnere noch, wie wir Wolf in den Klassenschrank gesperrt haben. Er fiel schon früh durch seine politische Ausrichtung auf und lag mit dem Rest der Klasse über Kreuz. Manchmal haben wir ihn wie einen Außenseiter behandelt. Erst als er dann 1953 über Nacht weg war, waren wir alle traurig. Erst da ging uns auf, wie gut er die Klasse immer unterhalten hat.

Musiker Wolf Biermann
Musiker Wolf Biermann © Roland Magunia | Roland Magunia

Herr Biermann, Sie haben sich von Herrn Kühne in den Schrank sperren lassen?

Kühne: Ich war harmlos!

Wolf Biermann: Kühne war ein sanftes Lamm von zwei Metern Länge, ich war der Kleinste in der Klasse. Da passten wir eigentlich ideal zusammen. Aber um das klarzustellen: Niemals im Leben hätte ich mich von irgendjemandem in einen Schrank sperren lassen. Ich war der beste Geräteturner – das hätte keiner geschafft. Ich bin freiwillig reingeklettert.

Kühne: Nein, wir haben dich eingesperrt.

Biermann: Das geht ja schon los wie bei dem Ehepaar, das versucht, einen Witz zu erzählen. Ich habe mich in den Schrank gesetzt und im Unterricht Geräusche gemacht, weil ich ein frecher Hund war und Witze machen wollte.

Waren Sie eigentlich gute Schüler?

Biermann: Nein. Ich erinnere noch, wie ich eine Fünf in Mathematik geschrieben hatte und die Arbeit von meiner Mutter unterschreiben lassen sollte. Als sie die Note sah, brach sie in Tränen aus. Sie sagte: „Dafür ist dein Vater in Auschwitz gestorben, dass du eine Fünf in Mathematik schreibst.“ Diese Auschwitz-Keule führte übrigens dazu, dass ich später neben Philosophie auch Mathematik an der Humboldt-Universität studiert habe und den Abschluss mit der Note Eins gemacht habe – obwohl mich Mathe eigentlich gar nicht so interessierte.

Gute Mathenoten hätten wir auch eher bei Ihnen erwartet, Herr Kühne.

Kühne: Zumindest hatte ich keine Pro­bleme, zwei und zwei zusammenzuzählen. Aber ein Genie war ich auch nicht.

Klaus-Michael Kühne: „Aber ein Genie war ich auch nicht“
Klaus-Michael Kühne: „Aber ein Genie war ich auch nicht“ © Roland Magunia | Roland Magunia

Haben Sie voneinander abgeschrieben?

Kühne: Das wäre gar nicht gegangen. Ich habe ganz hinten gesessen und Wolf ganz vorne, weil er so klein war.

Biermann: Nein, weil ich vorlaut war. Da hatte der Lehrer mich vorne besser unter Kontrolle.

Waren Sie damals Freunde?

Kühne: Nein. Das ließ seine politische Einstellung nicht zu, das war ein Schreckgespenst für mich. Einmal haben wir in einer Biologiestunde zusammengesessen, und da hat er begonnen, mich von den Errungenschaften des Marxismus-Leninismus überzeugen zu wollen. Damit hat er mich abgelenkt, und wir bekamen beide einen Verweis. Weil ich ein braver Schüler war, war mir das hochnotpeinlich. Das blieb aber sein einziger Versuch, mich zu bekehren.

Er blieb ohne Erfolg, wie man sieht.

Kühne: Er hat sich ja ein bisschen gewandelt, was ich mit Freude und Schmunzeln feststelle.

Biermann: Ich hoffe, dass auch du dich ein bisschen gewandelt hast. Kein Ei kann sich das Nest aussuchen, in dem es ausgebrütet wird. Wir können nichts für die Prägungen. Ich habe über dieses Thema mal mit Jean-Paul Sartre in Paris gestritten, der in seinem exzellenten Deutsch sagte: „Wir beurteilen die Menschen nicht danach, was aus ihnen gemacht wurde, sondern danach, was sie aus dem gemacht haben, was aus ihnen gemacht wurde.“ Das gilt auch für dich. Damals sagte ich übrigens zu Sartre, dass ich seinen Satz schon kenne. Sartre antwortete beleidigt: Sie singen ja auch immer dieselben Lieder.

Sie waren so unterschiedlich, wie man unterschiedlicher kaum sein kann. Wolf Biermann als Kind von Kommunisten aus Hammerbrook, der Vater von den Nazis ermordet. Klaus-Michael Kühne als Kind aus einem vermögenden Haus in Winterhude, der Vater machte Geschäfte auch in der Zeit des Nationalsozialismus ...

Biermann: Ihm wurde vorgeworfen, am Transport jüdischen Eigentums verdient zu haben. Ein heikles Thema, das über Klaus-Michael hereinbrach. Ich habe ihm dazu einen politischen Liebesbrief geschrieben, in dem ich ihn nicht entschuldigt habe, denn er hat keine Schuld. Aber es ist natürlich ein Riesenunterschied, ob man aus einer antifaschistischen Kommunistenfamilie stammt oder aus einer Familie, die mit den Nazis gut gelebt hat. Aber das ist weder mein Verdienst noch seine Schuld. Und es soll uns nicht hindern, befreundet zu sein. Ganz im Gegenteil: Ich genieße, dass wir es geschafft haben, dem Satz von Sartre entsprechend uns selber gemacht zu haben. Menschen können sich ändern.

Wie bewusst war Ihnen damals der Unterschied?

Kühne: Unsere Klasse war relativ bürgerlich geprägt, aber der Direktor, der auch dein Gönner war, galt als Kommunist. Unser Klassenlehrer, den du so verehrst, war eher ein Bürgerlicher. Wir haben viel über Politik diskutiert. Zu Hause wurde nicht gut über die Kommunisten gesprochen. Da konnte man keine Sympathien entwickeln. Zugleich konnten wir Wolf nicht böse sein. Wobei ich dabei bleibe: Er wurde in den Schrank gesperrt.

Biermann: Trotz dieser politischen Gegensätze waren die Hamburger Bürger mir immer wohlgesinnt – anders als die Bonzen in der DDR. Da gab es keine mildernden Umstände bei Meinungsverschiedenheiten.

Würden Sie sich heute als Freunde bezeichnen?

Biermann: Wir sind ein Herz und ein Sparkassenbuch! Ha!

Kühne: Wir tauschen uns aus, sehen uns regelmäßig mit unseren Frauen. Wir haben uns schon auf Mallorca getroffen und ein paarmal in Hamburg. Meine Frau und ich sind Opernfans, ich sage mal vorsichtig: Liedermacher ist eigentlich nicht so unsere Richtung. Aber Wolf höre ich immer gern zu. Wir ergänzen uns. Und wir schätzen einander, sein Lebensweg beeindruckt mich.

Biermann: Wir haben komischerweise viele Parallelen. Wir sind beides Mutterkinder, wir wurden von Frauen geprägt. Und wir haben beide fast im gleichen Alter – nämlich im Jahr 1983 – die Frau gefunden, mit der wir leben können. Ich hatte vorher nur etwas mehr herumgesucht als er.

Welche Charaktereigenschaften verbinden Sie?

Kühne: Wir sind Kämpfer, wir geben nicht auf, bevor wir unsere Ziele erreicht haben. Das gelingt nicht immer, aber wir sind hartnäckig, unerschütterlich, ja, gestählte Typen, auch wenn es Wolf natürlich viel schwerer hatte. Und wir können auch einmal unsere Meinung ändern.

Biermann: Goldene Worte, die aus meinem Mund kommen könnten. Wir sind beides keine Feiglinge im Kampf mit der Welt. Ich weiß nur nicht, ob er so stur ist wie ich. Er hat sein Ding gemacht, ich meines. Wir haben uns nie den wirklichen oder eingebildeten Zwängen gebeugt. Sonst wäre er nicht Chef einer großen Spedition, ich nicht der Biermann geworden. Als ich von euch wegging, war ich nur der kleine Wolf, genannt Wölflein. Der Dichter und Liederschreiber, der kleine Drachentöter mit dem Holzschwert, auf dem sechs Saiten gespannt sind, war ich noch nicht. Wenn ich euch in Hamburg nicht verlassen hätte, wäre ich nicht der Biermann geworden. Ich wäre dann hier in Hamburg im kommunistischen Milieu geblieben, verblödet und heute ein Genosse von Gregor Gysi. So tief wäre ich gesunken! Einer wie ich brauchte damals die Lektion des wirklichen Lebens in der DDR, des Arbeiter- und Bauernparadieses.

Kühne: Du hast dazugelernt.

Biermann: In Hamburg habe ich den Klassenfeind bestraft, indem ich nie Schularbeiten gemacht habe. Das kannst du nicht abstreiten, ich war der Dümmste in der Klasse.

Kühne: Nicht der Dümmste, aber der Schlechteste.

Biermann: Ich war plietsch, aber der schlechteste Schüler. Deshalb habe ich den Clown im Schulschrank gegeben, um meine schwachen Leistungen zu kompensieren. Als ich in die DDR kam, habe ich zum ersten Mal Schularbeiten gemacht, im Internat in Gadebusch bei Schwerin. Und wurde ein sehr, sehr guter Schüler. Ich wollte ja auch den Mädchen gefallen und da nicht abstinken.

Sie haben die deutsche Geschichte aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln erlebt. Ist das ein ständiges Thema, wenn Sie sich ­treffen?

Kühne: Wolf erzählt viel aus seiner DDR-Vergangenheit. Er ist ein Homo politicus; ich interessiere mich auch für Politik, aber nicht in diesem Maße. Da kann ich mich überhaupt nicht mit ihm vergleichen: Wolf ist eine Berühmtheit geworden, das hätte ihm keiner in der Klasse zugetraut. Wir haben ihn früher nie so ganz ernst genommen, und dann wanderte er auch noch aus, verließ freiwillig den Goldenen Westen. Und machte dann mit seiner Intelligenz und Originalität diese Karriere! Das mitzuerleben ist schon eine tolle Erfahrung.

Biermann: Klaus-Michael kommt oft zu meinen Konzerten. Wenn ich in Zürich singe, hat er es nicht so weit. Und wenn ich in Hamburg bin, kommt er auch mit seiner Frau Christine vorbei. Gerade ihn möchte ich mit meinen Liedern und Gedichten verführen. Es ist eine Art ununterbrochene Diskussion. Der Faden des Konflikts reißt nie ab, auch wenn es jetzt nicht mehr ums Zerreißen geht. Bei ihm habe ich immer das Gefühl, dass ich ihn verteidigen muss. Kürzlich sagte jemand, Klaus-Michael sei nur in die Schweiz gegangen, um Steuern zu sparen. Da habe ich mich maßlos geärgert – ich finde toll, dass er so viel Geld in die Stadt Hamburg investiert. Klaus-Michael Kühne ist ein guter Sohn meiner Vaterstadt.

Ihr „kindliches Kommunistenherz“, wie Sie es im Buch sinngemäß nennen, schlägt dann nicht empört?

Biermann: Nein, ich freue mich. Das ist doch soziales Verhalten und keine Reiche-Leute-Dummheit. Er hat das Geld, aber das Geld hat nicht ihn. Es gefällt mir, dass er das Literaturfestival fördert und die Elbphilharmonie mit den eigenen Händen mitaufgebaut hat.

Kühne (lacht): Mit den eigenen Händen? Lieber nicht ...

Eine weitere Parallele ist, dass Sie beide Ihrer Heimatstadt den Rücken gekehrt haben. Mit welchen Gefühlen sind Sie damals gegangen?

Kühne: Bei uns ergab sich das aus geschäftlichen Erwägungen heraus. Mein Vater wollte seinen Lebensabend in den Bergen verbringen und zog Mitte der 1960er-Jahre in die Schweiz. 1975 haben wir dann die Zentrale dorthin verlegt. Das war nur konsequent, weil wir so unsere Internationalisierung vorantreiben konnten. Der Abschied ist mir nicht schwergefallen. Damals war ich nicht so sentimental, wie man es im Alter wird. Hamburg war damals eine graue, etwas langweilige Stadt, das Wetter war auch viel schlechter als heute – da war ich froh, in die sonnigere Schweiz zu kommen. In den vergangenen Jahren ist Hamburg enorm aufgeblüht, das hat mir sehr imponiert. Ich habe die Stadt für mich neu entdeckt, das lebendige Leben, die Kultur, die Schönheit Hamburgs.

Biermann: Als ich wegging, war ich froh, dass ich dieses schreckliche Hamburg mit diesen schrecklichen Typen wie Kühne hinter mir gelassen hatte und genoss, jetzt endlich zu mir selber zu kommen. Ich verließ meine Vaterstadt und ging in mein Vaterland. Als ich dann ausgebürgert wurde, hat sich das wieder geändert. Trotz aller Widrigkeiten in Ost-Berlin habe ich mich nie nach dem Westen gesehnt. Aber immer nach Hamburg.

Welche Bilder verbinden Sie mit dem Begriff „Heimat“?

Kühne: Das Wort Heimat ist mir etwas zu emotional. Ich bin mein ganzes Leben herumgekommen und habe meine Wurzeln etwas verloren. Aber Hamburg ist der Ausgangspunkt, da komme ich immer gern her.

Biermann: Heimat ist ein Kaleidoskop von verschiedenen Bildern. Geboren bin ich in Hammerbrook, dort hat mich meine Mutter in der Bombennacht gerettet. Ich war im Zentrum des großen Feuers, in dem 40.000 Menschen verbrannten. Meine Mutter Emma hat mich wie einen Rucksack auf den Rücken genommen und ist durch den Mittelkanal aus dem Feuer raus. Das ist brennende Heimat.

Wie haben Sie den Bombenkrieg erlebt, Herr Kühne?

Kühne:Wir waren in der Phase des Krieges nicht in Hamburg, sondern haben am Bodensee gelebt und von dort die Geschäfte gelenkt. So konnten wir dem Bombenterror ausweichen. Konstanz wurde wegen der Nähe zur Schweiz nicht bombardiert. Meine Kriegserlebnisse sind deshalb nicht so dramatisch. Die einzigen Erinnerungen an gefährliche Kriegswirren stammen aus den letzten Tagen, als die Franzosen von der anderen Seite des Bodensees Kanonenkugeln herüberschossen und später unser Haus beschlagnahmten.

Biermann: Bei mir haben sich die Erinnerungen an die Bombennacht ins Gedächtnis eingebrannt. Alles vorher und alles nachher habe ich vergessen.

Sie nennen es in Ihrer Autobiografie nicht Bombenterror, sondern Himmelsgeschenk.

Biermann: Natürlich! Meine Kommunistenmutter Emma hat mir in ihrem Privatkrieg gegen Adolf Hitler schon als kleiner Junge erklärt, dass diese Bombenflugzeuge unsere Freunde sind, die uns von den Nazis befreien werden. Meine Mutter hatte diesen verrückten Ehrgeiz, mir immer die Wahrheit zu sagen. Ob das pädagogisch richtig ist, kann ich nicht ermessen. Ich hatte ja auch keinen Einfluss darauf. Das war ihr Zorn auf die Diktatur, auf Herrn Hitler persönlich. Mein Vater war nur wenige Monate zuvor in Auschwitz ermordet worden. Man könnte fast sagen, dass es leichtsinnig von ihr war, in der Nazizeit einem kleinen Jungen, der doch auch etwas ausplappern konnte, das so zu erzählen. Als ausgewachsenes Exemplar schrieb ich in der „Ballade von Jan Gat“: „Und weil ich unter dem gelben Stern in Deutschland geboren bin, drum nahmen wir die englischen Bomben wie Himmelsgeschenke hin.“ Das klingt vielleicht für manche Leute, die anders geprägt sind als ich, ­zynisch. Mir ist dieser Gedanke absolut geläufig.

Herr Kühne, gab es in Ihrem Leben je eine Phase, in der Sie die Welt retten wollten?

Kühne: Nein, so anspruchsvoll bin ich nicht. Ich habe mich immer bemüht, mich auf mein Geschäft zu konzentrieren. Da habe ich versucht, die Welt zu ­erobern. Das war in erster Linie mein ­Lebensinhalt.

Herr Biermann, Sie wollten die Welt verändern. Ein Datum, an dem die Welt zweifelsohne verändert wurde, war der 13. August 1961. Sie haben in Ihrem Buch geschrieben: „Ich begrüßte den Bau der Mauer.“ Und: „... ich habe die verdammte Mauer mitgebaut.“ Welche Erinnerungen haben Sie beide jeweils an diesen Tag?

Kühne: Es lag etwas in der Luft. Die Spannungen zwischen Ost und West waren riesig, die Fluchtbewegungen von Ost nach West waren enorm. Es war ein Ausdruck des Kalten Krieges, das war alles sehr unerfreulich. Die Mauer war eigentlich nur das Tüpfelchen auf dem I. So erinnere ich das.

Biermann: Natürlich hassten wir die Mauer. Darüber musste uns niemand aufklären, dass dieses Bauwerk menschenfeindlich war. Aber wir sahen auch, dass die DDR ausläuft wie ein alter Eimer, und wir hofften, dass wir im Schutz dieses anachronistischen Bauwerks endlich auch in der DDR würden Tacheles reden können. Dass wir endlich in den Genuss der eigenen Widersprüche kommen. Das war unsere revolutionsromantische Illusion! Und natürlich hat die Wirklichkeit uns kalt belehrt, wir haben es dann schnell begriffen. Die Mauer war alles Mögliche, aber kein antifaschistischer Schutzwall. Ich habe ein Lied geschrieben, das mein Freund Jurek Becker sehr geliebt hat: „Es senkt das deutsche Dunkel sich über mein Gemüt. Es dunkelt übermächtig in meinem Lied. Das kommt, weil ich mein Deutschland so tief zerrissen seh. Ich lieg in der besseren Hälfte und habe doppelt weh.“

Gedenkstätte Berliner Mauer: der Wachturm in der  Bernauer Strasse
Gedenkstätte Berliner Mauer: der Wachturm in der Bernauer Strasse © picture alliance / Bildagentur-o | dpa Picture-Alliance / Bildagentur-online/Schoening

Es war fast zur selben Zeit, als Sie, Herr Kühne, in die Schweiz gingen, und Sie, Herr Biermann, ausgebürgert wurden. Welche Erinnerung haben Sie daran, Herr Kühne, als Ihr ehemaliger Klassenkamerad ausgebürgert wurde? Hatten Sie je die Idee: Den ruf ich mal an?

Kühne: Das nicht. Wir hatten ja keine Verbindung mehr. Aber ich habe natürlich mitbekommen, wie bekannt er auch in Westdeutschland wurde. Und dass es dieses berühmte Konzert in Köln gab, nach dem es dann die Richtungsänderung gab. Wiedergetroffen haben wir uns aber erst Ende der 80er-Jahre. Da gab es im ZDF die Sendung „Klassentreffen“ mit Dieter Kronzucker. Wolf stand als Berühmtheit im Mittelpunkt einer Sendung, ich saß in einem altmodischen Pult in einem nachgebauten Klassen­zimmer.

Was ein Jahr vor dem Mauerfall geschah

Biermann: Da hast du deine langen ­Beine reingeklemmt, ich seh dich da noch sitzen! Das war sehr komisch!

Kühne: Ja, das war eine sehr amüsante Sendung. Und hinterher haben wir noch zusammengesessen. Es muss ungefähr ein Jahr vor dem Mauerfall gewesen sein, und ich weiß noch, dass Wolf gefragt wurde, was er denn von Gorba­tschow halte. Er hat gesagt: Gorba­tschow ist ein Segen für die Menschheit. Kurz danach kam die Wende. Und dieser Sendung verdanken wir, dass wir uns wiedergetroffen haben.

Gibt es noch weitere Klassenkameraden, mit denen Sie Kontakt haben?

Biermann:Aber wie! Helmut Salzmann zum Beispiel, Hamburgs bester Wasserbauingenieur. Soweit ich das beurteilen kann. Sein Lebenswerk wird allerdings erst noch gebaut werden: der Elbtunnel in Glückstadt!

Kühne (trocken): Da muss er wohl noch ein paar Jahre warten.

Biermann (lacht): Wenn das noch länger dauert, werd ich wohl im Rollstuhl durchfahren. Dann hatten wir den Karsten Hein in der Klasse, der bildender Künstler wurde und Professor an der Hochschule hier in Hamburg. Und unseren Freund Eike Rollenhagen natürlich, der für dich deine Hütte in der Schweiz gebaut hat. Deine Edelhütte, die ich bei Gelegenheit ja auch schon begutachtet habe. Berühmt wurde er, weil er die Philharmonie in München gebaut hat, den Gasteig. Berüchtigt wohl auch, er wurde dafür heftig angegriffen.

Kühne: Es ist gewöhnungsbedürftig, würde ich sagen. Warst du mal drin?

Biermann: Ich hab da ein Konzert gegeben!

Kühne: Den Eike Rollenhagen habe ich übrigens auch bei dem ZDF-Klassentreffen wiedergetroffen. Er sprach mich an und fragte, ob er nicht mal was für mich bauen könne. Ich hab gesagt, dass wir eigentlich nur Lagerhäuser und so was bauen, also ziemlich langweilig. Und dann, Anfang der 90er-Jahre, habe ich mich seiner erinnert, und er hat uns ein wirklich fantastisches Design für unser Bürohaus in der Schweiz gemacht. Zwei Jahre später habe ich mein Privathaus auch von ihm zeichnen lassen. Das habe ich auch Wolf zu verdanken, das Klassentreffen hat mir zu einem sehr guten Architekten verholfen.

Biermann: Der hat mir eine Hütte in München gebaut, damit ich da singen kann, und dir eine Hütte in den ­Bergen ...

Wenn wir dann in der Geschichte zum Ende der DDR springen, zum Mauerfall vom 9. November: Wie haben Sie das jeweils erlebt? Sie, Herr Biermann, saßen in Hamburg am Fernseher, schreiben Sie in Ihrer Autobiografie.

Kühne: Ich war auch in Hamburg, auch am Fernseher. Am nächsten Tag sind meine Frau und ich nach Schwerin gefahren. Das war schon ein besonderes Gefühl. Und es war Neugierde und natürlich auch ein Nervenkitzel. Es entwickelte sich dann alles rasend schnell, auch geschäftlich. Wir haben dort unsere Büros eröffnet und konnten gute Geschäfte machen.

Biermann: Du hast dort Büros eröffnet? Ohne mich zu fragen?

Kühne (lacht): Na, du warst ja gar nicht kompetent. Und außerdem warst du auch nicht drüben, wenn ich das richtig erinnere. Wir haben tüchtige Leute bei der staatlichen Organisation Deutrans gefunden, einer Speditionsfirma.

Biermann: Deutrans? Die haben mir 1977 meine persönlichen Sachen nach Hamburg gebracht, nachdem ich ausgebürgert worden war! In der Erklärung stand damals: „Sein persönliches Eigentum wird hinterhergeschickt.“

Kühne: Immerhin.

Biermann: Und dann schickte die Stasi-kontrollierte Firma Deutrans dem Staatsfeind Biermann die Möbel hinterher. Und da ich bei Mutter in der Schlank­reye auf dem Sofa schlief, wusste ich gar nicht, wohin mit dem ganzen Klumpatsch. Du hast mir ja deine Lagerhallen nicht zur Verfügung gestellt! Auf die Idee wäre ich auch gar nicht gekommen. Aber der Chef der Musikhalle hat mir dann dort einen trockenen Keller angeboten. Dort wurden dann alle meine Bücher, meine Möbel, all mein Zeug, eingelagert.

Wir erinnern uns an Ihre Rede 2014 im Bundestag, Herr Biermann, als Sie die Linke als „Drachenbrut“ bezeichnet haben. Da muss Ihnen, Herr Kühne, doch das Herz aufgegangen sein.

Kühne: Da habe ich sehr gerne zugehört! Das war sehr drastisch, aber auch sehr amüsant.

Biermann: Das war eine Improvisation, das hatte ich mir so gar nicht vorgenommen. Ich sollte nur das Lied „Ermutigung“ singen, das die Häftlinge in der DDR gesungen hatten. Natürlich, weil Norbert Lammert, das Schlitzohr, damit rechnete, dass die Linken sich darüber ärgern. Als ich dann deren Fressen sah, vor allem die Fresse von Diether Dehm, dem Stasi-Spitzel, der nach meiner Ausbürgerung mein Manager wurde, inspirierte mich das zu dieser kleinen Improvisation, die ja nicht schlecht war. Die richtigen Leute haben sich darüber gefreut, die richtigen haben sich geärgert. So soll es sein.

Kühne (lacht leise): Ja, seine Auftritte sind immer unkonventionell.

Sind Sie eigentlich glücklich?

Kühne: Würde ich sagen, ja. Insgesamt kann ich zufrieden sein. Aus der operativen Leitung des Unternehmens habe ich mich zurückgezogen, aber ich habe viel Arbeit mit der Stiftung und anderen Dingen. Das hält geistig fit.

Biermann: Na ja. Er wacht nicht jeden Morgen auf mit dem Gedanken, ob er einen Container von A nach B bringen kann. Das kann er halt. Ich habe einen anderen Beruf. Ich weiß an keinem Morgen, ob ich noch jemals im Leben ein gutes Gedicht schreiben kann. Das ist eine Berufskrankheit. Sonst geht es mir chronisch ausgezeichnet. Fast zu gut. Aber dass ich älter und schwächer werde, merke ich natürlich auch. Wie Brecht sagt: Kein Mensch hält ewig, manche halten etwas länger.

Herr Biermann, Sie werden im November 80, Sie haben sich in Ihrer Autobiografie intensiv mit Ihrer Vergangenheit beschäftigt. Nach Auschwitz jedoch sind Sie nie gefahren. Warum nicht?

Biermann: Ich hatte einmal ein Konzert in Warschau, der deutsche Botschafter gab einen Empfang in seiner Botschaft, und es gab Sekt und Saft und kleine Fresserchen. Dort sprach ich mit einer Dame aus dem diplomatischen Bereich. Mit dem Sektglas in der einen Hand und dem Fresserchen in der anderen unterhielten wir uns über Krakau, wo ich am nächsten Tag singen sollte. Sie schwärmte: Herr Biermann! Krakau! Eine so wunderschöne Stadt! Und wenn Sie dort sind, Herr Biermann, ach, dann MÜSSEN Sie einfach nach Auschwitz, das ist ein MUSS! Herr Biermann! Ein MUSS! Und ich dachte: Du blöde Planschkuh. Willst du mir erklären, was für mich ein Muss ist? Ich muss nach Auschwitz?! Und kurz darauf sagt mein Freund Tabori, der Dramatiker, dessen Leute in Auschwitz ermordet wurden: Wolf, wir beide fahren nach Auschwitz. Und besuchen unsere Väter. Und wir nehmen ein Kamerateam mit. (Biermann schweigt eine Weile.) Und ich sagte: Mein Lieber. (Stille. Es fällt ihm schwer, weiterzusprechen) Na ja. (Stille.) Ich bin nicht dorthin gefahren. Ich lebe schon mein ganzes Leben in Auschwitz.

Herr Kühne, waren Sie je dort?

Kühne: Nein. Ich war vor zwei Jahren auch in Krakau, sehr eindrucksvoll war das. Wir haben dort auch ein Museum besichtigt, dass die Nazi-Besatzung und die Judenverfolgung thematisiert hat. Sehr erschütternd. Aber Auschwitz, das ... (hält ebenfalls einen Moment inne) ... das war mir zu dramatisch. Das wollte ich auch nicht sehen.

Biermann (schaut ihn an): Da haben wir genau dieselbe Reaktion gezeigt. Bloß aus entgegengesetzten Gründen. Wir sind ein richtiges Pärchen der Welt­geschichte, weißt du. Das fällt mir jetzt erst auf.

Buchpräsentation: „Warte nicht auf bessre Zeiten!“ 16. Oktober im Thalia Theater, 11 Uhr, 9–18 Euro. Es liest Burghart Klaußner, Wolf Biermann singt.
Sonderkonzert zum 80. Geburtstag von Wolf Biermann: „... paar eckige Runden drehn!“ mit Wolf und Pamela Biermann und den Freejazzern ZentralQuartett, 20. November, 19.30 Uhr, 18–42 Euro. Die Festrede hält der Erste Bürgermeister Olaf Scholz.