Hamburg. Regieren Frauen den Pop? Spielt Linkin Park irgendwo? Was macht Juli im September? Der Kiez kennt nicht alle Antworten.

„Who runs the world – Girls!“, rief Kulturstaatsministerin Claudia Roth mit einem Songzitat von Beyoncé am Mittwoch bei der Eröffnungsfeier des Reeperbahn Festivals im Operettenhaus. Ein plakativer Spruch, aber noch nicht eine komplette Zustandsbeschreibung der Popmusik. Klar, von ganz oben im internationalen Olymp der Superstars grüßen Taylor Swift, Adele, Dua Lipa, Lady Gaga, Beyoncé, Olivia Rodrigo und Shakira, und danach kommt lange Zeit nichts bis zu Harry Styles. Robbie Williams? Drake? Irgendjemand?

In Deutschland, wo die Arenen lange Zeit vielleicht Helene Fischer oder Andrea Berg gehört haben, durfte man sich in den vergangenen zwei Jahren über steile Aufstiege von Ayliva, Nina Chuba oder Lea freuen. Als tolle Pop-Unterhalterinnen, aber auch als Rollenvorbilder für Selbstverwirklichung, Ermutigung und Anstiftung in der im Hintergrund weiterhin männlich dominierten Popwelt, vom Platz auf dem Produzentenstuhl bis zu dem am Mischpult, vom Vertriebschef bis zu den oberen Etagen bei den Labels. Viel ist passiert, aber es geht immer noch mehr.

Reeperbahn Festival macht sich für Gleichberechtigung im Musikbusiness stark

Seit Jahren wirkt das Reeperbahn Festival als mitinitiierende Bühne des internationalen Netzwerks „Keychange“ in Workshops, Konferenzen und live in den Clubs mit darauf hin, das Geschlechterverhältnis auf und vor den Bühnen auszugleichen, nicht als quantitative Quote, sondern als qualitatives Ausrufezeichen. Der weibliche Anteil im Musikprogramm, von Solo-Sängerinnen bis zu Bassistinnen in Bands liegt dieses Jahr bei 55 Prozent. Übrigens sind selbst in Wacken deutlich mehr Metal-Saitenhexen, Grunzgirls und Trommeltöchter zu erleben als noch vor zehn Jahren. 

Ähnliches gilt im Hip-Hop. Badmómzjay, Loredana, Juju und Nura, spirituelle Enkelinnen von Deutschlands Hip-Hop-Pionierin Cora E., wildern im Rap-Revier mit großen Klappen und provokanten Reimen und zeigen damit, dass es sich lohnt, als Frau in das Game einzusteigen. Eine Newcomerin beim Reeperbahn Festival ist Bush.Ida (bewusst von Bushido abgeleitet) aus Köln, die mit ihren von böllernden Trap-Beats unterlegten Tracks wie „Will kommen im Bush“ am Mittwoch das Mojo Jazz Café zum Wippen brachte und am Sonnabend auch noch im Moondoo auftritt. Der Großteil ihrer Texte ist hier nicht zitierbar, es wird nämlich nicht nur rhythmisch viel gebumst. Das ist aber kein „Clitbait“, um sich mit sexpositiven Texten gut zu verkaufen. 

Reeperbahn Festival 2024.
Rapperin Bush.Ida im Mojo Jazz Café beim Reeperbahn Festival. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

„Wenn ich früher Bushido oder Frauenarzt gehört habe, fühlte ich mich zum Objekt reduziert“, erzählt Bush.Ida am Donnerstag nach ihrem Konzert im „Abendblatt goes Reeperbahn Festival“-Podcast auf dem Heiligengeistfeld“, und indem sie sich der Stilmittel der Rap-Macker bedient und die aggressive Perspektive mit fröhlichem Charme und Humor umdreht, holt sie sich ihr Selbstverständnis zurück: „Ich will nicht nur das Objekt sein, das angetatscht wird, sondern auch Subjekt.“ Emanzipation. Selbstbefreiung.

Reeperbahn Festival: Marie Curry kommt mit einer klaren Message ins Knust

Mit dabei in der Runde ist vor ihrer Show im Knust auch Rapperin und Sängerin Marie Curry aus Hamburg, seit zwölf Jahren Teil der linksalternativen Hip-Hop-Truppe Neonschwarz und mit ihrem ersten, im Frühjahr erschienenen Solo-Album „Cameo“ als Solokünstlerin zu erleben. Die kämpferisch-aktivistische Haltung von Neonschwarz gegen Ausbeutung, Rassismus und Rechtsradikalismus in Songs wie „Lava“ haben auch Maries eigene Lieder, aber das – im direkten Vergleich – introvertierter und poetischer.

Reeperbahn Festival 2024.
Die Hamburger Rapperin und Sängerin Marie Curry beim Reeperbahn-Festival im Knust. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Obwohl beide Frauen an der Leuphana Lüneburg studierten, lernen sie sich erst im Abendblatt-Podcaststudio beim Reeperbahn Festival kennen und entdeckten bei allen stilistischen Unterschieden auch Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel das Empfinden, dass es trotz der Wichtigkeit der Themen auch zermürbend sein kann, immer wieder über weibliche Rolemodels, Feminismus, Keychange und Geschlechterdomänen zu sprechen. „Männliche Rapper werden dazu nicht befragt“, sagt Marie Curry, und tatsächlich benutzt auch niemand Begriffe wie „Männerband“ oder „Rockband mit männlichem Sänger“, während Beschreibungen wie „Frauenband“, „female fronted Rockband“ oder „DJane“ weiterhin allzu geläufig sind. 

Wenig später zeigt sich Marie Curry im Knust mit ihrer ganzen Vielseitigkeit. Die fragile Gitarrenballade „Geister“ und der verträumte Chor von „Orcas“ lenken nur kurz davon ab, dass sie eine Lautsprecherin ist. Als sie vor „Lava“ auch Neonschwarz zitiert und in einer langen Ansage den von ihrer Band schon vor zehn Jahren bemerkten Rechtsruck beklagt, schallen „alerta alerta antifascista“-Rufe durch das Knust. „Damit hätte ich nicht gerechnet beim Reeperbahn Festival“, bedankt sich Marie und gibt als Gegenleistung „Fieber“ mit Neonschwarz-Kollege Captain Gips.

Reeperbahn Festival: Juli schwimmt mit der „Perfekten Welle“ zurück in eine “Geile Zeit“

Das alberne Unwort „female fronted Rockband“ geistert noch durch das Gedächtnis, als es wenig später an der Großen Freiheit 36 vorbeigeht. Die Klänge sind vertraut: Ah, Juli spielt „Der Sommer ist vorbei“, Titeltrack des Albums, mit dem Eva Briegel und ihre Jungs 2023 nach neun Jahren ihr Comeback feierten. Die „Perfekte Welle“, um sich für eine „Geile Zeit“ über den Kiez tragen zu lassen

Zum Beispiel in den Bahnhof Pauli, wo die Londoner Alternative-Metaller Defences donnern. Mit der Mischung aus Sängerin und Shouter erinnern die Briten stark an die mit neuer Frontfrau wiedervereinten US-Kollegen von Linkin Park, die am Sonntag in der Barclays Arena spielen. 
 

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Da deren in Hamburg residierende Plattenfirma Warner derzeit die halbe Stadt mit PR-Aktionen überzieht, gibt es bereits Gerüchte über eine Linkin-Park-Geheimshow auf dem Festival. Aber das ist bislang nur Geraune in der täglich stundenlang vor einem Reeperbahn-Kiosk lungernden Branchen-Meute. Und die riecht bereits bedenklich nach Pfandautomat. Willkommen im Buschfunk.

„Pop-up Podcast“ vom Hamburger Abendblatt zum Reeperbahn Festival auf dem Heiligengeistfeld. Gern reinhören unter abendblatt.de/podcast