Hamburg. Der viertägige Konzertmarathon ist gestartet. Es gibt erste Highlights, aber auch Sorgen hinter den Bühnen – und einen Gruß von „Swiftie“ Claudia Roth.
Da ist sie, die erste Band des Reeperbahn Festivals 2024: Das Wiener Trio Oh Alien eröffnet am Mittwochnachmittag die Fritz-Kola Bühne auf dem Heiligengeistfeld. Der verträumte Electro-Pop aus Österreich passt eigentlich eher in die frühen Morgenstunden zur Afterhour nach einer langen Kieztour.
Aber so kann man auch sanft reingleiten in den Wahnsinn, der bis in die Nacht zum Sonntag auf 70 Bühnen zwischen Nobistor und Millerntor regiert. Viele Schulklassen, die für die Tincon-Konferenz für digitale Jugendkultur gekommen sind, haben das Festival-Village auf dem Heiligengeistfeld verlassen, dafür kommen immer mehr Konzertliebhaber und das Pop-Branchenvolk. Das Wetter ist ein Hit.
Reeperbahn Festival 2024 mit Rekordbeteiligung
Die erste von 420 Bands aus 30 Nationen dieses Jahr. Ein Rekord, wobei man in der Rückschau auf die Entwicklung im Pop bald nicht mehr von Bands sprechen kann. Denn die sterben zumindest kommerziell gesehen aus. Studien in Großbritannien, dem Mutterland des Pop, haben ergeben, dass in diesem Jahrzehnt Bands bislang insgesamt nur drei Wochen an der Spitze der UK-Charts standen, eine davon waren die Beatles. In den ersten Hälften der 80er- und 90er-Jahre waren es noch 150 Wochen. Parallel dazu hat die „Ich“-Perspektive in Songtexten erkennbar und dominierend zugenommen.
Das sieht man auch beim 19. Reeperbahn Festival: Mehr als die Hälfte des Musikprogramms sind Solo-Künstlerinnen und Künstler, von „Secret Headliner“ und Chartsstürmer Ski Aggu über weitere bekannte Acts Marke Olli Schulz und Kate Nash bis zu den vielen, vielen Newcomern, die sich vier Nächte lang im Kaiserkeller, Molotow Karatekeller und in der Nochtwache einnisten, um mit Glück entdeckt zu werden wie 2019 die Nordfriesin Alli Neumann im Gruenspan, die 2024 bei ihrem zweiten Festival-Besuch nicht nur in der Elbphilharmonie, sondern auch bei der schön kompakten Eröffnungsshow im Operettenhaus singen darf.
Reeperbahn Festival: Tschentscher beherrscht den Fachjargon
Dort betonen die von Festival-Direktor Detlef Schwarte eingeladenen Gäste aus Politik und Gesellschaft natürlich das „Together“, das „Wir“, das Gedeihen der Musik (Festivalmotto: „Let the music grow“) in schweren, teuren Zeiten mit vielen Herausforderungen. Der Erste Bürgermeister Peter Tschentscher steigt tief in musikalischen Fachsprech ein, von Digitalisierung und Stimmkorrektur bis zu Künstlicher Intelligenz. Und verbindet es mit der Menschlichkeit und Kreativität, die Livemusik weiterhin prägen. „Ich wünsche Ihnen tolle Konzerte und eine gute Zeit.“
Kultur-Staatsministerin Claudia Roth, offensichtlich Swiftie, begrüßt die „kinderlosen Katzenfrauen“: „Popmusik bringt uns zusammen“, sagt Roth, und zitiert mit Blick auf den Einfluss, den eine Taylor Swift auf die Politik hat, auch Beyoncé: „Who runs the world – Girls!“
Alli Neumann auf dem Reeperbahn Festival ausgezeichnet
Pop hat Kraft und wächst? Die Zahlen scheinen das zu unterstreichen: „Trotz der schwierigen Bedingungen konnte die Musikwirtschaft 2023 insgesamt im Vergleich zum Jahr 2019 ein Umsatzwachstum von 18 Prozent erzielen und ihre Bruttowertschöpfung um 20 Prozent erhöhen“, heißt es in der jährlichen Studie „Musikwirtschaft in Deutschland“, die Kultursenator Carsten Brosda beim „Musikdialog Hamburg“ am Mittwoch im Rathaus vorstellt. 17,4 Millarden Umsatz für das „Wir“ aus Plattenfirmen, Verlagen, Vertrieben, Musikschulen und Veranstaltern. Fein.
„Fühl mich gut, kann nichts dagegen tun“, singt Alli Neumann im Operettenhaus und nimmt auch noch den „Keychange Award entgegen für ihre Inspiration von Pop-Nachwuchskünstlerinnen.
Der Ausblick für Musikfestivals ist nicht der Beste
Aber: Wenn man die Reepersause als Abschluss der Festival-Saison begreift, ist der Ausblick nicht der Beste. In Europa und Nordamerika wurden dieses Jahr Dutzende Open Airs eingestellt, in Deutschland zum Beispiel das Melt!. Selbst Giganten der Branche wie Coachella und Burning Man oder das Wacken Open Air verzeichnen ein deutlich zurückgehendes Fan-Interesse. Wer weiß, übertrieben formuliert, wie lange der Helga-Festivalpreis beim Reeperbahn Festival noch vergeben werden kann.
Klar, Kosten und Karten werden immer teurer, für das Reeperbahn-Festival dieses Jahr elf Prozent (159 Euro für das Vier-Tage-Ticket), während das Budget des Publikums schrumpft. Das Dockville-Festival senkt daher 2025 die Preise, streicht aber auch einen ganzen Tag, wie Dockville-Sprecher Eike Eberhard im Abendblatt-Pop-up-Podcast im Festival-Village erzählt. Die Pandemie, in der aus „Wir“ ein „Ich“ wurde, ist jetzt mit dem Ende der Nachholeffekte spürbar im Ausgehverhalten, sowohl bei Festivals als auch in den Clubmetropolen wie Berlin und Hamburg. Bitte zurücktreten, ihr Feiernden, die Türen schließen.
- Reeperbahn Festival mit 420 Bands – und Geheimstar Ski Aggu
- Vom Reeperbahn Festival: Der Bücher-Podcast mit „Punk“ und Zeiner
- Hamburger sehen Reeperbahn Festival als Chance – für sich selbst
So verkündet der Festival-Club Headcrash, eine Instanz für Rock- und Metalfans auf dem Hamburger Berg, während des Auftritts von Oh Alien via Instagram nach 17 Jahren die Einstellung des Betriebs zum 31. Dezember und den Verkauf an neue Betreibende: „Der Name Headcrash verschwindet vom Hamburger Berg.“ Auch das Moondoo an der Reeperbahn streicht im Dezember die Flagge – und wird die neue (bereits vierte) Heimat des Molotows.
Kostenlose Konzerte auf dem Heiligengeistfeld
Da freut man sich nach der Eröffnungsgala, dass noch Clubtüren offen sind. Auf dem (kostenlos besuchbaren) Heiligengeistfeld wird es nämlich kühl beim belgischen Italo-Rock-Pop von Ada Oda auf der Hangar-Bühne und beim Hamburg-Londoner Songschreiber Sebastian Schub auf der Acoustic Stage (einem aufgeklappten Camping-Ei), der gegen den Fetzpop von Jolle auf der Fritz-Bühne ansingt. Tolle Stimmen.
Also auf über den mittwochs angenehm leeren Kiez durch einzelne Netzwerk-Grüppchen der Pop-Branche hindurch in den Nochtspeicher. Dort könnte die Italienerin Maria Chiara Argirò mit ihrem psychedelischen Artpop sowohl „Metropolis“ als auch „Aliens“ neu vertonen. Sehr abgefahren.
Reeperbahn Festival: Rheinische Frohnatur trifft Hamburger Schule
Ein totaler Kontrast sind Easy Easy aus Köln im Bahnhof Pauli, die mit verschlufftem Indie-Rock klingen wie bei der dritten Bandprobe. Rheinische Frohnatur trifft Hamburger Schule. Ebenso DIY, aber deutlich geschliffener und elektrisierender zwängt sich Bon Jour aus Österreich auf die Bühne im Club 25, der übrigens mit seiner großen Terrasse und Blick auf Spielbudenplatz und Tanzende Türme ein echter Festival(rück)gewinn ist.
Weil es so schön passt, mit Österreich ein- und auszusteigen (Im Land von Falco, Wanda und Bilderbuch wächst einiges nach), lässt sich nur feststellen: Licht und Schatten, Chance und Krise, „Ich“ und „Wir“ liegen auf St. Pauli weiterhin dicht zusammen. Bis in die Nacht zum Sonntag wird es beim Reeperbahn Festival vor allem eines: dichter.