Preiswürdig: Clemens Meyers gewaltiges Prostitutions-Gemälde „Im Stein“ spielt im Nachwende-Leipzig und reicht bis in die jüngere Gegenwart, in der die DDR nur mehr eine fast ferne Erinnerung ist.

Denke keiner, das Rotlicht verfüge nicht über gute Kommunikationsstrukturen. Und glaube niemand, die Puffbetreiber hätten es nicht so mit Dingen wie Ehre und Ruf. Sie arbeiten ihrer Meinung nach nicht in der Schmutzecke, sondern in einem normalen Gewerbe. Man nennt es das älteste der Welt. Seine Repräsentanten treffen sich Ende der 90er-Jahre auf Tagungen, um sich miteinander abzustimmen. Da ist die Verteilung des neuen Gebiets lange im Gange, da sind die ostdeutschen Sündenmeilen längst entstanden.

Clemens Meyers gewaltiges Prostitutions-Gemälde „Im Stein“ spielt im Nachwende-Leipzig und reicht bis in die jüngere Gegenwart, in der die DDR nur mehr eine fast ferne Erinnerung ist. In den Worten von einem der Zuhälter, der in dem Roman zu Wort kommt, spiegelt sich der Zusammenbruch des Systems, nach dem Freizügigkeit durch Sexgeschäfte ersetzt wurde: „Bin im Sozialismus sozialisiert. Was denken Sie, wie da gefickt wurde. Gefickt und gebumst. Was aufs selbe rausläuft, nicht wahr? Aber keine Huren. Kein Business. Nur am Rande. Nur bisschen Messe-Sex, paar Kneipen-Luder in Berlin, und oben in Rostock gab’s diese Bar. Wozu auch? Man heiratete früh, man bumste früh, und dann heiratete man jemand anderes, und dann wurde hier mal schnell und da mal schnell... Gab ja auch keine Pornos, offiziell, ich glaube schon, dass das damit zusammenhängt. Dass jetzt das Business so floriert, wegen der Pornos, Sex, überall Sex.“

Der Mann redet in der Sprache des Sexes, der nicht Liebe ist; und wenn, dann eine ge- und verkaufte. Clemens Meyer, geboren 1977 in Halle, wohnhaft in Leipzig, lässt in seinem Roman das Personal des Sexgewerbes auftreten: Luden, Apartmentvermieter, Prostituierte, die neuen Herrscher aus dem Securitygeschäft, alternde Ermittler aus dem Kommissariat.

Sie alle entblättern sich für einen Augenblick vor dem Leser, reden los, als gelte es, jetzt aber mal alles über den Rotlichtbezirk in Leipzig im Besonderen und die Ware Liebe im Allgemeinen loszuwerden. „Im Stein“ ist monologisch und dialogisch aufgebaut, und aus dem vielstimmigen Chor dieser Sänger der Nacht sticht mit dem Wohnungsbereitsteller Arnold Kraushaar („AK 47“) ein Charakter heraus, dessen Weg nach oben viel Raum bekommt.

Der Kapitalismus ist in der Demimonde eng mit dem Verbrechen verknüpft. Aber der Blick der Sexdienstleister richtet sich immer auch in die parallele Welt – zu der wollen sie durchaus auch gehören – und auf die scheinheilig Wohlanständigen, die ihre Triebabfuhren an die dafür vorgesehenen Geschäftsräume mit rotstichigem Plüsch delegieren. Das Geld der Zuhälter fließt auch in legale Geschäfte. Kraushaar muss ackern, damit er oben bleibt, deswegen besucht er Uni-Kurse mit betriebswirtschaftlichen Inhalten. Das symbolisiert den Nachholbedarf der Sachsen, in deren Gemarkung nach dem Fall der Mauer Goldgräberstimmung ausgebrochen ist: Geil ist jede Gesellschaft, und die Ossis lernen schnell, was Sex gegen Bezahlung ist.

Prostituierte aus den ehemals sozialistischen Ländern siedeln sich in Leipzig an, „Völkerwanderung“ nennt eine der Figuren das. Der Markt unterliegt dem steten Wandel, die alte Garde wird von den Türken- und Jugo-Mafias verdrängt. Eros-Center und Bums-Flatrates kommen gewaltig, gehen aber auch wieder. Meyers literarisches Verfahren ist aufwendig und anspruchsvoll, er wechselt zwischen den Soziolekt-Performances seiner Helden, den Zeiten und den Schauplätzen.

Dabei referiert er die Terminologie der sexuell-pekuniären Vereinbarungen. Französisch ohne, Analverkehr usw. usf.; die degoutante Wortwahl der Pornografie findet ebenso statt wie die Schilderung von Kinderprostitution. Frauen als Objekte männlicher Perverso-Fantasien sind die Regel, aber das große Panorama besteht aus vielen Einzelbildern der Menschen, bei denen Meyers Beschreibungsfinessen darauf hinauslaufen, etwas Liebenswertes an ihnen zu entdecken. Zuletzt sind immer besonders die amerikanischen TV-Serien für ihre realistischen Erzähl-Techniken gepriesen worden. Meyer holt mit seinem Querschnitt der Sexverhältnisse, der Verbrechen und der unzähligen Freiberufler, die im Prostitutionsgeschäft ihr Auskommen haben, die Hoheit über die Darstellung in den Roman zurück. „Im Stein“ ist nicht nur deswegen eine literarische Großtat, nach dem Debütroman „Als wir träumten“ schon die zweite des Clemens Meyer.

Lesung am 17.9. im Rahmen des Harbour Front Festivals auf der „Cap San Diego", Beginn 21 Uhr.

Clemens Meyer: „Im Stein“. S. Fischer. 560 S., 22,99 €