Der Darsteller des Indianerhäuptlings Winnetou, Pierre Brice, ist am Sonnabend im Alter von 86 Jahren gestorben.

Winnetou – sprich Winne-to-u – starb zweimal. Das erste Mal am 14. Oktober 1965 in der „Lichtburg“ in Essen mit gerade mal 34 Jahren, kurz vor Ende der Uraufführung von „Winnetou III“ in Essen, als er sein indigenes Leinwandleben für das seines weißen Blutsbruders Old Shatterhand gab und sich freiwillig die tödliche Kugel einfing, die ein Schurke namens Rollins aus dem Hinterhalt abgefeuert hatte. Diese Sterbeszene war einer jener Filmmomente, die einem vermutlich für immer im Gedächtnis bleiben, als Inbegriff des unheilvollen Unbegreiflichen. Das zweite Mal starb Winnetou mit 86 Jahren am vergangenen Sonnabend, 6. Juni 2015, in einer Pariser Klinik an einer Lungenentzündung, in den Armen seiner um zwanzig Jahren jüngeren deutschen Frau Hella Krekel.

Unsterblich bleiben sie vermutlich beide, Pierre Brice und Winnetou, denn es ist unmöglich, den fiktiven Häuptling der Mescalero-Apachen von seinem französischen Darsteller zu trennen. Und es ist gut vorstellbar, dass vor allem Winnetous Schöpfer, der sächsische „Reiseschriftsteller“ Karl May, der die Heimat seiner literarischen Figur allerdings nie zu Gesicht bekommen hatte, erfreut sein Placet gegeben hätte, als es um die Frage ging, wer diesen ganz besonderen Stammesführer auf der Kinoleinwand verkörpern sollte. Denn Pierre Brice, dieser gut aussehende Bretone aus der Hafenstadt Brest war nicht nur wegen seiner leicht wettergegerbten Haut und dem markanten Grübchen die perfekte Wahl.

„Das ist mein Winnetou!“, wird der Ausruf des deutschen Filmproduzenten Horst Wendlandt kolportiert, der ihn 1962 im Gewühl der Berlinale „entdeckte“. Dorthin war der französische Schauspieler angereist, um den spanischen Spielfilm „Los Atracadores“ zu promoten, in dem er eine der Hauptrollen spielte. Zu diesem Zeitpunkt waren das Drehbuch für den „Schatz im Silbersee“ längst fertig und der Part des weißen Mannes mit dem amerikanischen Schauspieler Lex Barker besetzt, einem blonden, muskulösen und kettenrauchenden Womanizer, eben noch erfolgreicher „Tarzan“, der jedoch mangels Folgeangeboten aus Hollywood nach Europa gegangen war. Bloß die Rothaut fehlte.

Es stimmt wirklich: Pierre Brice hatte bereits eine recht ansehnliche Filmrolle vorzuweisen, aber heute sind diese – zum Teil sogar sehr erfolgreichen – italienischen und spanischen Mantel- und Degenfilme in Vergessenheit geraten. Vor allem in seinem Heimatland ist er als Darsteller nie populär gewesen, bis heute. Aber für Pierre Brice, der ja auch irgendwie das Pech hatte, immer wieder mit Alain Delon und Jean-Paul Belmondo, zwei etwa gleichaltrigen und auch ziemlich ähnlichen Mitbewerbern, um Rollen vorsprechen zu müssen, hatte es unter anderem zu einer hübschen Segelyacht an der Côte d’Azur gereicht. An Bord erreichte ihn das Angebot von Horst Wendlandt, und Brice sagte zu, obwohl er das Drehbuch – vor allem die Dialoge – „ein bisschen naiv“ fand, wie er im Jahr 2004 in seiner Autobiografie bemerkte. Andererseits aber verkörperte dieser Mescalero-Apache Werte wie Friede und Freundschaft, Menschlichkeit und Toleranz, Edelmut und Ehrgefühl, und dies wiederum entsprach genau dem Naturell des Franzosen, der dem altadeligem Geschlecht der „Bris“ entsprungen war. Die Eltern, vor allem aber sein Vater, ein Marineoffizier und nach dem Einmarsch der Nazis in Frankreich 1940 Untergrundkämpfer in der Résistance, hatten ihren Sohn und dessen Schwester Yvonne schließlich im festen Glauben an Gott und an Frankreich erzogen.

1944, mit 15 Jahren, schloss sich der Teenager todesmutig als Kurier ebenfalls dem französischen Widerstand an und wurde zum Anhänger des späteren französischen Staatspräsidenten General Charles de Gaulle. Doch nach dem Krieg war vor dem Krieg: ­Brice ging mit dem französischen Militär zunächst zwei Jahre nach Algerien, wo er zum Kampftaucher ausgebildet wurde. Es folgte eine weitere Ausbildung zum Fallschirmjäger. Danach kämpfte er drei Jahre lang in Indochina, dem heutigen Vietnam. „In dieser Zeit lernte ich, was es heißt, Kameraden und Freunde zu haben“, betonte er später mehrmals, „nie wieder hatte ich so gute Freunde wie beim Militär.“

Vermutlich aber waren es die traumatischen Erlebnisse in jenem grausamen Dschungelkrieg, die seine unausgesprochene Sehnsucht beförderten, Menschen zur Abwechslung einmal mit etwas Schönem zu beglücken, was ihn – gegen den Willen seines Vaters, der ihn lieber in einem „anständigen Beruf“ gesehen hätte – 1951 zur Schauspielerei führte: zunächst auf die Theaterbühnen der Hauptstadt, drei Jahre später erstmals auf die Kinoleinwand: Im Film „Ca va barder“ („Harte Fäuste – heißes Blut“) durfte Pierre Brice dem berühmten Eddie Constantine die Tür aufhalten.

Es war der bescheidene Beginn seiner Karriere, die er mit Gelegenheitsjobs – unter anderem als Vertreter für Schreibmaschinen – finanzierte und mit ehrgeiziger Zielstrebigkeit verfolgte. Und dann kam eben Winnetou, die Rolle (s-)eines Lebens. Dass die Mescalero-Apachen in Wahrheit eher als Räuber und Wegelagerer im Wilden Westen aufgefallen waren, und dass es nicht nur einen, sondern mehrere Häuptlinge gab, war Brice egal. „Zwei Eigenschaften dieser Gestalt erscheinen mir als besonders wesentlich“, schrieb er, „die eine ist: Winnetou ist ein Held und zwar in allen Lebenslagen. Er ist mutig und anständig, er ist großzügig und hilfsbereit. Die zweite: Er ist ein treuer Freund und in allen Lebenslagen entschlossen, selbst sein Leben einzusetzen.“

Als Winnetou den Filmtod starb, erlebte Horst Wendlandt eine Protestwelle

Das deutsche Kinopublikum hatte trotz seines Migrationshintergrundes anscheinend genau auf diesen „freigeistigen Präriehippie“ gewartet, der als „Projektionsfläche für jede hohe Moral, auch jeden Irrglauben diente“, wie die „Zeit“ zum 100. Todestag des Winnetou-Erfinders May schrieb. Denn der Häuptling vermittelte, wenn auch recht wortkarg, aber klar und verständlich, den Unterschied zwischen Gut und Böse, zwischen Recht und Unrecht, zwischen Schwarz und Weiß. Häufig reichte dafür ein Blick, ab und zu ein theatralisches Ausbreiten seiner Arme, und wenn der Schurke es dann immer noch nicht kapierte, musste er eben „dran glauben“ – niedergestreckt mit einer Kugel aus Winnetous „Silberbüchse, die nie ein Ziel verfehlte“.

35 Millionen sahen in den 60er-Jahren die Trilogie im Kino, und als Winnetou den Filmtod starb, erlebte Horst Wendlandt einen – damals analogen – „Shitstorm“: Hunderttausende beschwerten sich per Brief und forderten eine Fortsetzung der romantischen Saga. Aus dem Aufschrei wurde ein Aufstand des Publikums. Die eingeschüchterten Filmschaffenden lieferten: Brice gab den Häuptling in elf Winnetou-Spielfilmen, mehreren TV-Serien sowie auf den Freilichtbühnen im sauerländischen Elspe und im schleswig-holsteinischen Bad Segeberg – als Protagonist, später als Regisseur, längst als generationsübergreifendes Idol.

Wie kein anderer stand Brice für die deutsch-französische Freundschaft

Brice schaffte es 56 Mal auf den Titel der „Bravo“ (hinzu kamen drei „Starschnitte“ – nur Nena soll diesbezüglich erfolgreicher gewesen sein). Sogar der Bravo-Otto wurde extra für Winnetou zur Indianerfigur umgemodelt. Ein Dutzend Mal bekam Brice diesen Publikumspreis verliehen, davon neunmal in Gold. Darüber hinaus wurde er mit fünf Bambis und der Goldenen Kamera ausgezeichnet, und da er wie kein anderer für die deutsch-französische Freundschaft stand, durfte er ab 1992 das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse tragen – „für die Werte vermittelnde Darstellung des Winnetou“.

Da klingt es fast wie Ironie, dass der May sich ganz bewusst die Komantschen als den Todfeind „seiner“ grundsätzlich edelmütigen Apachen ausgesucht hatte; jedoch nicht, weil dies (ausnahmsweise) einer historischen Tatsache entsprach, sondern weil der französische Schriftsteller Gabriel Ferry de Bellemare um 1850 herum erfolgreiche Abenteuerromane rund um diesen Stamm geschrieben hatte.

„Nun bin ich zu einem Idol der deutschen Jugend geworden. Aber dahinter steckt viel mehr“, sagte Brice. „Winnetous Eigenschaften sind zu Leitbildern für mich geworden. Sie bestimmen meine persönliche Haltung und mein künstlerisches Wesen. Und selbst wenn ich nicht wollte – ich müsste Winnetou immer entsprechen, denn sonst würde ich mein Publikum enttäuschen.“ Das gelang ihm 1979, als er für den WDR in Mexiko die Serie „Mein Freund Winnetou“ drehte, und dabei konsequent auf ein „realistischeres Bild der Indianer und deren Mentalität“ setzte. Doch das Publikum reagierte verstört, die Serie wurde zum Flop. Man könnte auch sagen: Pierre Brice, der stets nach „gescheiteren Texten“ verlangte, war einfach dazu verdammt, der „Märchenhäuptling“ zu bleiben. Eine Figur, der er sein reiches Leben verdankte, an die er bedingungslos glaubte – und die er letztlich lebte.

Buchtipp: Michael Petzel (Hrsg.): Karl-May-Filmbildgeschichten. Karl-May-Verlag. 368 S. 99 Euro