Hamburg. Ein russischer Komponist, ein amerikanischer Roman und ein klassisches Quartett: Der Schweizer kommt zu einer Matinee ins Thalia.

Der neue Schostakowitsch-Roman ist von Julian Barnes („Der Lärm der Zeit“) und in vieler Munde, aber das eigentliche wirkliche literarische Schostakowitsch-Brett hat der Amerikaner William T. Vollmann geschrieben. „Europe Central“ erschien im Original 2005 und auf Deutsch 2013 – ein dickes, dichtes Buch über den Unrat des 20. Jahrhunderts, über den Weltkrieg, Stalin, die Nazis und die Kunst. Der Schauspieler Bruno Ganz (75) hat nun mit dem Delian Quartett eine Schostakowitsch-Matinee arrangiert. Ganz liest aus „Europe Central“, das Delian Quartett spielt Schostakowitsch: weil Literatur und Musik sich manchmal ineinander spiegeln.

In Ihrer Veranstaltung mit dem Delian Quartett nähern Sie sich dem Komponisten Dmitri Schostakowitsch über William T. Vollmanns Roman „Europe Central“. Was gab ursprünglich den Anstoß zu der Literatur-Musik-Matinee – der Roman oder die Streichquartette?

Bruno Ganz: Dieses Projekt geht von Vollmanns Roman aus. Ich habe allerdings davor einmal das Delian Quartett Schostakowitsch spielen hören, und das hat meine Lektüre von „Europe Central“ offenbar sehr beeinflusst.

Was macht den guten Vortrag eines literarischen Werks aus?

Ganz: Je näher dem „Ton“ des Dichters beziehungsweise Autors, desto besser.

Der Roman verhandelt anhand realer Personen wie Hitler, Stalin, der Künstlerin Käthe Kollwitz, dem General Friedrich Paulus, der Lyrikerin Anna Achmatowa, vor allem aber Schostakowitsch universelle Themen wie Ideologie, Krieg, Kunst, Liebe, Freiheit und Unterdrückung. Was fasziniert Sie an Vollmanns gut recherchiertem Kaleidoskop, in dem die schriftstellerische Fantasie nicht zu kurz kommt?

Ganz: Nicht zuletzt Vollmanns schriftstellerische Fantasie, also sein Versuch, Schostakowitschs Leben tatsächlich „nachzudichten“. Und ich war sehr beeindruckt von der enormen Breite des Panoramas des 20. Jahrhunderts, das Vollmann hier ausbreitet.

Was ist Ihrer Lesart nach die Kernaussage von „Europe Central“?

Ganz: Für unseren Abend: die Prägung Dmitri Schostakowitschs durch den Stalinismus.

Hat Sie die in Deutschland mitunter verdächtige Gleichsetzung oder zumindest Parallelisierung von Stalinismus und Nationalsozialismus gestört?

Ganz: Ich finde, das ist in erster Linie eine Frage, um die sich Historiker kümmern sollten. Mich hat die Gleichsetzung gestört, aber die Brutalität der beiden Systeme ist sich sicher ebenbürtig.

Empfanden Sie die Lektüre von „Europe Central“ als rein beglückende oder doch auch erschöpfende Erfahrung?

Ganz: Die Lektüre war eher erschöpfend, über weite Strecken sehr interessant und manchmal auch beglückend.

Widmen sich die von Ihnen ausgewählten Passagen gleichermaßen der Liebesgeschichte mit Elena Konstantinowskaja und dem Kampf Schostakowitschs um persönliche und menschliche Integrität in Zeiten stets drohender Repressionen?

Der Komponist Dmitri Schostakowitsch
(1906–75) wurde im Roman „Europe
Central“ verewigt
Der Komponist Dmitri Schostakowitsch (1906–75) wurde im Roman „Europe Central“ verewigt © picture-alliance/ dpa

Ganz: Beim Auswählen der Texte ist die Liebesgeschichte fast ganz verschwunden – zu viele Namen, zu sporadisch und irgendwie flüchtig. Dringlicher war für uns der Einfluss des politischen Kontextes und der Lebensumstände im Krieg auf Schostakowitschs Musik.

Empfinden Sie sein Werk als besonders aufgeladen von den Umständen und den Bedrängnissen, in dem es entstand?

Ganz: Ja, ganz entschieden.

Man kennt Sie besonders als Hitler-Darsteller in „Der Untergang“. Haben Sie sich die Frage gestellt, wie es Ihnen als Künstler im „Dritten Reich“ ergangen wäre?

Ganz: Nein, ich habe mir diese Frage nicht gestellt, aber schon die Frage, woher die Heutigen so genau wissen, wie man sich im „Dritten Reich“ zu verhalten gehabt hätte.

Einige Werke Schostakowitschs werden von Vollmann auf meisterliche Weise in das Romangeschehen eingebunden ...

Ganz: Ein zentrales musikalisches Werk des Romangeschehens ist Schostakowitschs Streichquartett Nr. 8 op. 110, das offiziell den Opfern des Faschismus und des Krieges gewidmet ist. Dessen Ecksätze umrahmen unseren Abend wie ein Requiem des Komponisten auf sich selbst. Alle anderen Stücke, nicht nur Auszüge aus den Streichquartetten, sondern auch Entdeckungen aus dem Bühnen- und Filmmusikschaffen Schostakowitschs, illustrieren oder kommentieren explizit oder atmosphärisch den jeweiligen literarischen Augenblick.

Wie nah sind Ihnen die Werke Schostakowitschs?

Cover des Romans „Europe
Central“
Cover des Romans „Europe Central“ © Suhrkamp Verlag

Ganz: Je öfter ich meine Freunde Schostakowitsch spielen höre, um so näher kommt mir seine Musik.

Wenn man an das wieder erwachte, unverhohlene Expansionsstreben Putins denkt, erscheint zum ersten Mal seit langer Zeit gegenwärtig der Friede zwischen Ost und West keine Selbstverständlichkeit mehr zu sein. Gibt das dem Roman, der im Original 2005 erschien, eine völlig neue Aktualität?

Ganz: Alles Politische spitzt sich aufs Unerfreulichste zu, das ist sozusagen die neue Aktualität.

Mit dem Blick des Schauspielers: Halten Sie Vollmanns komplexen Mammutroman für verfilmbar?

Ganz: Besser nicht. Doch lesen sollte man ihn unbedingt. Aber vielleicht gibt es jemanden, der tatsächlich in der Lage ist, diesen überbordenden, wahnwitzigen Stoff als Film zu denken.

Was halten Sie grundsätzlich von der Gattung „Literaturverfilmung“?

Ganz: Ich freue mich sehr über die wenigen geglückten, zum Beispiel Cormac McCarthys „No Country For Old Men“, die englischen Austen-Verfilmungen, „Der junge Törleß“ von Musil oder „Age Of Innocence“ von Edith Wharton.

„Dmitri Schostakowitsch – Spuren eines Lebens“ So 5.3., 11.00, Thalia Theater, Tickets ab 48,50,- in der HA-Geschäftsstelle,
Gr. Burstah 18–32, und unter T. 30 30 98 98