Hamburg. Handy und Tablet sind an Foyer-Bar und Garderobe verboten. Schmökern ist erlaubt – wir haben Mitarbeiter nach ihren Pausen-Buchtipps gefragt.
Wenn alle Gäste das Foyer verlassen und ihre Plätze im Großen Saal eingenommen haben, wenn die Saaltüren geschlossen sind und die ersten Takte erklingen, wird es still in den Gängen der Elbphilharmonie. Der Blick öffnet sich für die ungewöhnliche Architektur, die handgefertigten Kugelleuchten, die einen herabfallenden Regentropfen imitieren sollen, und immer wieder auch: für die spektakuläre Aussicht auf das Treiben im Hafen, den Michel.
Dann beginnt eine ganz spezielle „Zwischen-Phase“ für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die eben noch „Cloudy Bay“-Wein in blank polierte Gläser gefüllt, Jacken, Mäntel und Schirme entgegengenommen, die Gäste freundlich begrüßt und ins Konzert geleitet haben: die „arbeitsfreie Zeit“ zwischen Konzertbeginn, Pause und Konzertende.
Sollten Besucherinnen oder Besucher doch zwischendurch den Saal verlassen, könnten sie überrascht sein über das, was ihnen dann begegnet: Denn am Handy spielen, chatten oder gar telefonieren sieht man im Konzerthaus niemanden. Daddeln verboten.
„Priorität haben die Besuchenden des Konzerthauses. Befinden sich Gäste im Foyer, sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf Position und fungieren als die ersten Ansprechpersonen. Dies bedingt auch, dass sie während der laufenden Veranstaltung stets wachsam für Bewegungen an den Saaltüren sowie im gesamten Foyerbereich sind“, erklärt Sinah Goes, Projektleiterin Elbphilharmonie bei Eventteam. Die Firma ist für das Service-Personal in Elbphilharmonie und Laeiszhalle zuständig. „Gegenstände und Tätigkeiten, welche stark ablenken und/oder störende Geräusche erzeugen können, bleiben daher außerhalb des Foyers; die Mitnahme von Handys auf die Position ist nicht gestattet.“
Elbphilharmonie: Was das Personal während des Konzerts liest
Stricken, rätseln, für die Uni lernen, sich unterhalten oder lesen (auch auf dem E-Reader) – alles erlaubt. Und was tun die Frauen und Männer am liebsten? Eine Blitzumfrage im Team an einem Freitagnachmittag, wenige Stunden vor Konzertbeginn.
„Kommen Gäste während des Konzerts aus dem Saal, stehen wir selbstverständlich auf und kümmern uns um sie“, sagt Ulrike Rumpf. „Das kann immer mal passieren, zum Beispiel, wenn jemand einen Hustenanfall hat und andere Besucher nicht stören möchte, oder weil Gäste zur Toilette müssen.“ Die 56-Jährige trägt, wie alle ihre Kolleginnen und Kollegen, einen schwarzen Frack mit maritimem Ringelshirt. Sie wird häufig an der Garderobe oder an der Saaltür als „Räumungshelferin“ eingesetzt und hilft gehbehinderten Gästen beim Verlassen des Saals. Während der Konzerte liest Ulrike Rumpf, die tagsüber als Medizinische Technologin am UKE arbeitet, am liebsten. Gerade hat sie „Mord & Croissants“ von Ian Moore angefangen.
Überhaupt liest sie gern Krimis, vorzugsweise aus ihrer Heimat Österreich; zweimal im Jahr besucht sie ihren Vater dort und kommt jedes Mal mit einem großen Koffer voll Literatur zurück. Ihr heißer Tipp: „Der Fall des Lemming“ von Stefan Slupetzky. Und sie präsentiert das wichtigste Möbelstück für ihre „Lesepause“: ein kleiner weißer Hocker mit hellgrauem Stoffbezug. Nicht nur zum Sitzen: Der Deckel kann aufgeklappt werden, und dort, wo sonst Programmhefte aufbewahrt werden, kommt bei einer Unterbrechung schnell das Buch hinein.
Elbphilharmonie: Im weitläufigen Gebäude verlaufen sich sogar manchmal Angestellte
Tarik Remke (24) geht sogar so weit, dass er hauptsächlich in der Elbphilharmonie liest. Der Student der Medientechnik komme sonst nicht dazu, sagt er. Er arbeitet seit mehr als fünf Jahren im Konzerthaus, „gerne an der Bar, aber momentan werde ich auch oft als Wegweiser eingeteilt“. Ein elementar wichtiger Job, denn in dem weitläufigen Gebäude verlaufen sich nicht nur ab und an Gäste, sondern auch Mitarbeitende benötigen bei ihren ersten Einsätzen eine kleine Orientierungshilfe. „,Die Garderobe befindet sich ausschließlich in der elften Etage‘, ist mein meist gesagter Satz“, erzählt er schmunzelnd.
Es sei der entspannteste Nebenjob, den er je hatte, so Remke, der neben seinem Studium auch noch Erdbeeren verkauft. „Sehr gutes Betriebsklima, flexible Arbeitszeiten, sodass man vorher zur Uni und danach auch noch auf eine Party gehen kann.“ An der Bar könne man ab und zu mit seinen Kolleginnen und Kollegen in den Pausen plaudern.
Auch mit den Gästen erlebe man immer wieder nette Situationen, „die meisten Leute, die aus dem Konzert hinausgehen, möchten sich auch kurz unterhalten“. In ruhigen Momenten liest er; aktuell das Buch „Polysecure. Bindung, Trauma und konsensuelle Nichtmonogamie“ von Jessica Fern und erfährt darin sehr viel über sich selbst.
Elbphilharmonie-Mitarbeiter: „Von mancher Musik bekomme ich Zahnschmerzen“
Sich mit Kollegen wie Tarik Remke austauschen zu können ist für Hans Schmidt (60) das große Plus des Jobs: „Wo sonst habe ich dazu schon die Gelegenheit?“ Im Hauptberuf ist er Programmierer im Homeoffice und deshalb froh über die Abwechslung in der Elbphilharmonie.
Oft verfolgt Schmidt, der wie viele Kollegen auf unterschiedlichen Positionen rund um den Kleinen oder Großen Saal tätig ist, auch die Konzerte über einen der großen Monitore, die auf jeder Etage stehen. „Nicht alles trifft meinen Geschmack, von mancher Musik bekomme ich Zahnschmerzen“, lacht er, „aber wenn man hier arbeitet, erweitert man seinen musikalischen Horizont.“
Manchmal, wenn er einen anstrengenden Tag im Job hatte, ist Schmidt ganz froh, wenn er abends an der Saaltür steht beziehungsweise sitzt und zum Lesen kommt. „In einer Stunde schafft man schon ordentlich was weg“, sagt der Fan von Terry Pratchett und Tom Sharpe. „Von den Autoren habe ich fast alles gelesen.“ Aktuell hat er sich den Klassiker „Die Entdeckung der Currywurst“ von Uwe Timm vorgenommen: „Kann ich nur empfehlen.“
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Die literarische Horizonterweiterung geht unter den Elbphilharmonie-Lesenden quer durch die Genres. Da ist feministische Lektüre („Unsichtbare Frauen“ von Caroline Criado-Perez oder auch der Roman „Die Ungelebten“ von Caroline Rosales) ebenso dabei wie ein Kriminalroman („Achtsam morden“ von Karsten Dusse), da finden sich Schmöker im allerbesten Sinne und natürlich zahlreiche Bestseller: „Der Schatten des Windes“ von Carlos Ruiz Zafón, Jane Gardams „Gute Ratschläge“ oder auch Elke Heidenreichs neues Buch „Altern“.
Besonders passend: „On Air: Erinnerungen an mein Leben mit der Musik“ von NDR-Moderator Peter Urban. „Frau Komachi empfiehlt ein Buch“ (Michiko Aoyama) heißt einer der Titel, die derzeit hoch im Kurs sind, und würde das Publikum in der Konzertpause danach fragen, könnte wohl auch aus dem Elbphilharmonie-Personal nahezu jeder und jede auf Anhieb einen persönlichen Lektüre-Hit nennen.
Tagsüber Kita-Lärm, abends Trubel in der Elbphilharmonie
Bar, Garderobe, Einlass, Platzanweisung, Saaltür – Bellinda Ohm ist ständig auf Achse im Konzerthaus, es kommt auch vor, dass sie innerhalb ihrer Schicht die Position wechselt. Das sei am Anfang so üblich, um alle Aufgaben kennenzulernen; die 54 Jahre alte Wahl-Hamburgerin arbeitet seit März im Service-Team und liebt den Trubel. Dabei hat sie davon tagsüber eigentlich auch schon eine ganze Menge: Sie ist Kita-Erzieherin.
An ihrem Nebenjob gefällt ihr der tolle Kontakt mit dem Publikum: „An einem Abend suchte ein Mann so lange nach seiner Frau, die eigentlich nur kurz zur Toilette wollte, dass er gar nicht mehr ins Konzert ging. Dann saßen wir halt den ganzen Abend zusammen und haben uns unterhalten. Und wenn sich die Gäste nach dem Konzert für einen schönen Abend bedanken, freue ich mich darüber total.“
Was die Leute so alles an der Garderobe abgeben, auch darüber könnte sie eine Menge erzählen. Nur so viel: „Einmal gab ein Mann, der direkt vom Fischmarkt kam, einen riesigen Obstkorb ab und sagte: ‚Bitte bedienen Sie sich.‘“
Bellinda Ohm ist in der Runde die Einzige, die heute kein Buch bei sich hat. „Oft vergesse ich, mir eins einzustecken. Aber ‚Hedwig heißt man doch nicht mehr‘ von Erika Pluhar über eine Frau, die über ihr gelebtes Leben in einer Wiener Altbauwohnung reflektiert, mag ich sehr.“ Ansonsten genieße sie in ihren Pausen einfach die schöne Aussicht aus den bodentiefen Fenstern auf die Stadt: „Die fasziniert mich immer wieder aufs Neue“.
Zehn weitere Literaturtipps aus dem Elbphilharmonie-Team
- „Lebenssekunden“ von Katharina Fuchs
- „Die Mitternachtsbibliothek“ von Matt Haig
- „Als wir unsterblich waren“ von Charlotte Roth
- „Die Architektin“ von Till Raether
- „The White Album“ von Joan Didion
- „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ von Václav Havel
- „Das Café am Rande der Welt“ von John Strelecky
- „Kummer aller Art“ von Mariana Leky
- „Hamburger Hafentouren“ von Lisa Mandelartz
- „The Ballad of Songbirds and Snakes“ von Suzanne Collins