Hamburg. Das Gastspiel „Die Vaterlosen“ ist brillantes, ausuferndes Überwältigungstheater. Jette Steckel lässt herausragendes Ensemble glänzen.
Das Ensemble wuselt schon vor Vorstellungsbeginn durch die Gänge des Deutschen Schauspielhauses. Schauspieler verteilen Decken und Kissen im Parkett (dreieinhalb angekündigte Stunden sind auch für Bühnenstammgäste nicht ohne), jemand bietet Bier an, Wiebke Puls sucht nach Leergut. Man läppert sich so hinein in eine kolossale Party, zu der im Gastspiel „Die Vaterlosen“ der Münchner Kammerspiele beim Hamburger Theater Festival offenbar auch das Publikum geladen ist: „Willkommen zur Gläubiger-Versammlung!“
Es wird ein Fest, als gäbe es kein Morgen. Und es gibt, genau genommen, kein Morgen: Hier wird nicht Hochzeit, sondern Untergang gefeiert, wie sich schnell herausstellt, eine ausufernde Abschiedssause, ein finales Aufbäumen, weil die hoch verschuldete Generalswitwe Anna Petrowna (Puls als „die Generalin“) sich nicht von ihrem reichen Gönner Glagoljew (Edmund Telgenkämper) heiraten lassen will. Ihr Gut wird sie am kommenden Tag verlieren, den riesigen Wald, die gesellschaftliche Stellung. Und sie ist nicht die Einzige, deren Dasein auf Lebenslügen aufbaut: Der Alkohol und die Ausweglosigkeit befeuern die Ehrlichkeiten und Offenherzigkeiten der gesamten Festgesellschaft.
Hamburger Theater Festival: Die Luft brennt vor Leidenschaft und Geltungsdrang
Die in Hamburg sonst am Thalia Theater beheimatete Regisseurin Jette Steckel ist für zwei Abende mit einer Tschechow-Produktion zum Festival geladen, bei der die Luft vor Leidenschaft und Geltungsdrang geradezu brennt. Eigentlich ist das Stück nach seiner Hauptfigur benannt: „Platonow“. Er ist der so toxische wie faszinierende Mittelpunkt dieser Fete. Einst ein vielversprechender Freiheitsvordenker, jetzt ein in der Provinz gestrandeter Dorfschullehrer, zieht er aus seinem Selbstekel den Zündstoff für Zynismus und die Verachtung aller anderen.
Joachim Meyerhoff spielt diesen schillernden Charakter, dem die Frauen reihenweise verfallen, mit einem Rampensau-Gehabe, das immer wieder die Grenzen seiner Figur austestet und das dieser Meyerhoff-Platonow beängstigend brillant beherrscht. Wie es ihm gelingt, die gesamte Aufmerksamkeit des Bühnengeschehens auf sich zu zentrieren, ist von spektakulärer Unverfrorenheit. Und wird ihm, in einem eingebauten Monolog von Katja Brunner über „Täterschutz“, im Verlauf des Stücks von Anna Gesa-Raja Lappe in der Rolle der Grekowa noch ordentlich vor den Latz geknallt.
„Die Vaterlosen“: Die alten weißen Männer werden via Drehbühne lässig aus dem Stück gekurbelt
Aber auch die übrige Bagage schenkt ihm und sich nichts. Demütigungen werden großzügig ausgekübelt, Abhängigkeiten bloßgestellt. Wiebke Puls, deren Karriere auf genau dieser Bühne einst Fahrt aufnahm, ist eine ebenbürtige, atemberaubend glamouröse Generalin, Katharina Bach eine ebenso flirrend starke Sofia Jegorowna.
Als „personifizierter Verfremdungseffekt“ dienen der Dramaturg Carl Hegemann und sein Überraschungsgast, allabendlich ein anderer. Über den aktuellen Krieg und die Schuld der Väter und das Zaudern der Söhne und die Führungslosigkeit, was dann doch alles bestürzend viel mit dieser fulminanten Party am Abgrund zu tun hat, plaudert Hegemann in der Hamburg-Premiere mit dem Regisseur und früheren Schauspielhaus-Intendanten Niels-Peter Rudolph, dessen Bruder Hans Christian Rudolph wiederum vor vielen Jahren ein legendärer Hamburger „Platonow“ am Thalia war. Scheu vor multiplen Meta-Ebenen hat Jette Steckel jedenfalls nicht. Sie behält ohnehin stets die Deutungshoheit: Via Drehbühne lässt sie die ulkigen alten weißen Männer lässig aus dem Blickfeld kurbeln, wenn die genug vermeintlich Tiefgründiges abgesondert haben.
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Hamburger Theaterfestival: Ein toller Wald aus wogenden Metallstangen
Bühnenbildner Florian Lösche hat für all das einen tollen Wald aus wogenden Metallstangen auf die Bühne gepflanzt. Ein von Maximilian Kraußmüller kongenial ins rechte Licht gesetztes Labyrinth und zugleich ausgiebig genutztes Spielmaterial, denn die Stecken lassen sich nicht nur durchpflügen, sondern herausziehen und verbiegen. Ein besonders imposantes Bild schafft Meyerhoff, der als Platonow irgendwann zum selbst gepfählten, mehrfach gekreuzigten Schmerzensmann wird.
„Die Vaterlosen“ ist überdrehtes, anstrengendes, exzessives Überwältigungstheater. Ein wacher, spielerisch herausragender Abend, der scheinbar aus dem Moment heraus entsteht, aber Allgemeingültiges über das Menschsein zu erzählen vermag. Erst nach fast vier Stunden verlässt man erschöpft das Theater. Derart beglückt allerdings, dass man sich das Ganze ohne zu zögern am Folgeabend direkt noch einmal antun würde.
„Die Vaterlosen“, Münchner Kammerspiele am Deutschen Schauspielhaus. Die zweite Vorstellung am Mittwochabend ist bereits ausverkauft. DasHamburger Theaterfestivalläuft bis zum 24. Juni.