Hamburg. Tanz hinter verschlossenen Türen, hohe Sicherheitsvorkehrungen: Das Bundesjugendballett tanzt in der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel.
Die Tür bleibt zu. Immer wieder wirft sich die Tänzerin gegen das Holz, klammert sich am Rahmen fest, rüttelt an der Klinke. Hilft aber nichts, der Durchgang ist verschlossen. Raymond Hilbert, Ballettmeister am Bundesjugendballett, hat die Passage schon vor einigen Jahren entwickelt, während der Pandemie, als die Kontaktbeschränkungen dafür sorgten, dass sich die Wohnungstüren von Freunden schlossen. Doch heute, beim Auftritt der Kompanie in der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel, hat eine verschlossene Tür noch eine ganz andere Bedeutung. „Klar, da merkt man, dass dieses Stück auch etwas mit unserem Alltag zu tun hat“, meint Carsten. Carsten sitzt in Fuhlsbüttel ein, für ihn sind Türen tatsächlich lange verschlossen.
Im Grunde ist der von der Initiative „Kultur im Knast“ organisierte Auftritt in Fuhlsbüttel ein ganz normales Ballettgastspiel, bei dem die neun Tänzerinnen und Tänzer eine Auswahl ihres Repertoires zeigen. Nur unter verschärften Bedingungen, sowohl für die Künstler wie für den Berichterstatter. Carsten zum Beispiel heißt nicht wirklich Carsten. Man darf als Reporter zwar mit den Gefangenen reden (sofern diese das auch wollen), aber sie sollen hinterher nicht identifizierbar sein, auf Fotos ebenso wenig. Genaue Beschreibungen der Gesprächspartner sind nicht erlaubt, eine Namensnennung geht gar nicht. Weitere Sicherheitsvorkehrungen: Alle Besucher, also auch die Künstler, müssen Ausweise, Geld und Handys abgeben, sie müssen durch eine Schleuse mit Körperscanner, es geht unter ständiger Beobachtung treppauf, treppab durch das verwinkelte Anstaltsgelände.
Kultur im Knast in Hamburg: Tanz hinter verschlossenen Türen, hohe Sicherheitsvorkehrungen
Schließlich erreicht man den Spielort, einen multifunktional nutzbaren Saal, der als Gefängniskirche dient, man erkennt einen kleinen Altar. Und ein Teil des Raumes dient als Abstellkammer: Auf der Empore stehen die Reste einer Weihnachtskrippe sowie ein trauriger Tannenbaum. Die Tänzer haben einen mobilen Tanzboden aufgebaut, es gibt Sichtblenden und die Türen für die erste Kostprobe, ansonsten ist alles sehr schmucklos. Eine variable Lichtanlage: Fehlanzeige. Requisiten: auch nicht. Der Sound: zum Herzerweichen. Warum tut man sich das an, als Künstler?
„Das ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit, für Menschen zu tanzen, die selber nicht zum Ballett kommen können. Und es ist jedes Mal etwas ganz Besonderes“, sagt der künstlerische Direktor des Bundesjugendballetts, Kevin Haigen. Sein Ensemble hat schon mehrfach in Gefängnissen getanzt, 2012 gab es das Projekt „Rap auf Ballett“ mit der JVA Rothenburg, das in der Folge durch mehrere Gefängnisse in und um Hamburg tourte. Was freilich zum Aufgabenbereich des Bundesjugendballetts gehört: In erster Linie werden hier ausgewählte Nachwuchstalente während mehrerer Jahre auf eine professionelle Ballettkarriere vorbereitet, gleichzeitig bespielt das Ensemble aber auch besondere Orte wie die Berliner Reichstagskuppel, Clubs oder den öffentlichen Raum und gibt Workshops in Schulen und Kindergärten.
Ein weiteres erklärtes Ziel ist, das Ballett Menschen nahezubringen, denen diese Nähe fehlt, schon aus praktischen Gründen: Menschen in Altersheimen oder in Psychiatrien etwa. Oder im Gefängnis. Fuhlsbüttel, reine Männerhaftanstalt, 800 Plätze, geschlossener Strafvollzug, Sicherungsverwahrung.
Gefängnisinsassen - das perfekte Publikum, findet der Direktor des Bundesjugendballetts
Das perfekte Publikum, meint Haigen: „Jeder tanzt! Tanz ist inklusiv und universell!“ Natürlich gebe es eine gewisse Schwellenangst, gibt der Choreograf zu, zu Beginn seien die Gefangenen manchmal noch etwas skeptisch. „Aber innerhalb von zwei Minuten erwischt sie die Magie!“ Die Präsentation in Fuhlsbüttel setzt darauf, dass auch ein erst mal kritisches Publikum abgeholt wird, mit kurzen, unterhaltsamen Stücken, mit möglichst unterschiedlichen Ästhetiken, mit einer charmanten Moderation durch Haigen und Hilbert. „Man könnte annehmen, dass dieses Publikum mehr mit unseren modernen Stücken anfangen kann als mit dem klassischen Ballett“, meint Haigen. Ein Trugschluss: Tanz ziehe einen immer in seinen Bann.
Man muss ein wenig aufpassen: Die Geschichte von den harten Jungs, die vom Ballett berührt werden, ist so schön, dass man sie unbedingt erzählen möchte. Aber natürlich ist sie in ihrer Schönheit nicht vollständig korrekt. Doch ganz falsch ist sie auch nicht, Haigen hat schon recht: Rund 20 Zuschauer, im Schnitt überraschend ältere Insassen, sitzen da, witzeln, unterhalten sich. Und sind nach kurzer Zeit still, schauen konzentriert Richtung Bühne, Münder stehen offen.
Ballett in Santa Fu in Hamburg: Vorführung bringt Abwechslun in Knastalltag
Rocky (der in Wahrheit auch nicht Rocky heißt) war noch nie im Ballett, trotzdem ist er angetan: „War doch mal was anderes!“ Für viele der Gefangenen ist das Gastspiel auch eine willkommene Abwechslung im Gefängnisalltag, trotzdem braucht es eine gewisse Überwindung, vorbeizuschauen. Der Besuch des Bundesjugendballetts wird organisiert von der Initiative „Kultur im Knast“, zum Beispiel bei Rapkonzerten ist der Andrang spürbar größer. Aber: Wer kommt, der ist augenscheinlich berührt vom Gezeigten.
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Rocky ist kein Mensch der großen Worte, aber er ist sympathisch, offen, interessiert am Gespräch, man möchte sich eigentlich länger mit ihm unterhalten, erfahren, weswegen er einsitzt. Was nicht geht, weil: Wiedererkennbarkeit. Und dann denkt man, dass man das vielleicht doch nicht so genau wissen möchte: In Fuhlsbüttel sitzen nicht nur nette Kleinkriminelle, sondern auch Mörder, Nazis, Vergewaltiger, auch Rocky wurde wahrscheinlich nicht unschuldig verurteilt. Geschlossener Vollzug, Sicherungsverwahrung, so was ist kein Spaß. Die Story vom Ballettensemble, das das Gute im Gefangenen hervorruft, sie funktioniert nicht.
Was aber funktioniert: Zu sehen, wie hier über den Umweg der Kultur eine friedliche, sympathiegetragene Stimmung erzeugt wird. Zum Abschluss des Programms stellen sich die neun Tänzer und vier Musiker persönlich vor: Sie kommen unter anderem aus Australien, Japan, Polen. Begeisterter Applaus. Aber als schließlich die dunkelhäutige Bratschistin das Mikro nimmt und sich mit den Worten „Ich komme aus Hamburg“ vorstellt, da schwillt der Applaus noch mehr an. Die Gefangenen lachen Richtung Bühne: „Moin!“ Und für dieses „Moin“, dafür nimmt man als Künstler die Unannehmlichkeiten des Gefängnisgastspiels gerne in Kauf.