Hamburg. Kann man während des Ukrainekriegs schreiben? Ist Italien faschistisch? Was ist Literatur? Zwölf Autoren trafen sich zum Gespräch.

Ein kongolesischer Schriftsteller, der von seiner Mutter erzählte und ihrem Faible für deutschen Fußball. Und dann von Schnitzel und Pommes, die man auf dem Teller nicht wirklich trennen könne. Mit diesem Bild versuchte Fiston Mwanza Mujila amüsanterweise zu umschreiben, warum privates Schreiben unter Umständen auch politisch sein kann, man kann auch das beides notwendigerweise halt nur zusammen denken. Eine italienische Autorin, die auf der Bühne des Literaturhauses rigoros klarstellte, dass an Italiens aktueller Regierung „nichts faschistisch ist“. Was nicht heißt, dass Francesca Melandri irgendetwas von dem, das die Rechtsaußen-Ministerpräsidentin Giorgia Meloni tut, irgendwie gut findet. So teilte sie das unmissverständlich dem Publikum mit. Alles andere hätte auch verwundert.

Was ein wirklich faschistischer Staat ist? Nicht Italien, in dem die Postfaschistin Meloni immerhin durch freie Wahlen ins Amt kam. Sondern Russland, die aggressive Hegemonialmacht des Despoten Putin. Und deswegen dann auch, neben dem in Graz lebenden Afrikaner Mujila und der auch in Berlin lebenden Europäerin Melandri: Tanja Maljartschuk. Eine Ukrainerin, die in Wien lebt und auch auf Deutsch schreibt, sie sagt: „Ich bin zynischer und brutaler geworden.“ Weil ihr Land überfallen worden ist und sich immer noch im Krieg befindet. Sie wolle nie darüber schreiben, „ich will einfach nur, dass der Krieg endet“. Das war die mit zwölf Schriftstellerinnen und Schriftstellern besetzte internationale Tagung „Europa 24 – Was ist Literatur?“ in Hamburg: Eine Angelegenheit, in der über Schnitzel-Vergleiche gelacht und wegen des Ukraine-Kriegs auch mal betroffen geschwiegen wurde. Wenn auch nur kurz.

„Europa 24“ im Literaturhaus: Nachdenken über Sartre und die Literatur

Die Abendveranstaltungen am Mittwoch und Donnerstag waren die beiden Öffnungen in Richtung des Publikums, das ein erstklassig kuratiertes (Projektleitung: Lena Dircks, Caroline Löher, Rainer Moritz) Autorenensemble erleben durfte. Literatur ist, wie es der an der UCLA in Kalifornien lebende und auf Französisch schreibende Kongolese Alain Mabanckou mit der durchaus poetischen Sentenz „Lesen ist eine Reise, für die man keinen Pass braucht“ umschrieb, eine einmalig grenzenlose Sache, Vielleicht war das die allergrundlegendste Erkenntnis des zweitägigen Treffens, dessen größerer Teil nicht fürs Publikum bestimmt war: Nationale Literaturen mögen ihre Eigenheiten haben. Sie beziehen sich jedoch aufeinander, sie sind derselben Konkurrenz ausgesetzt, und die, die sie produzieren, machen oft dieselben Erfahrungen, ob nun am Schreibtisch oder dann, wenn sie ihre Texte in die Welt entlassen haben.

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Wie essenziell Bücher heute denjenigen dünken, die da auf Einladung des Literaturhauses am Schwanenwik zusammenkamen, braucht als Grundannahme keine weitere Ausführung. Nach dem Weltkrieg aber, nach Shoah und Zivilisationsbruch, stand Literatur erst einmal im Verdacht, nutzlos zu sein, wenn sie nicht politisch ist. 1947 veröffentlichte Jean-Paul Sartre seinen berühmten Essay „Qu’est-ce que la littérature?“, er ging also der Frage nach, was Literatur ist oder sein sollte, und forderte die „engagierte Literatur“.

Literaturhaus Hamburg: Autorin Tanja Maljartschuk und der Krieg in der Ukraine

Mit Sartre setzte sich das gegenwartsliterarische Dutzend auseinander, eher weniger als mehr, was gut so war. Wer wollte heute zugunsten der literarischen Intervention im Gesellschaftlichen tatsächlich auf ästhetische Belange verzichten? Die lapidare Formel, wonach auch privates, persönliches Schreiben immer politisch sein kann (und umgekehrt), tauchte wenig überraschend immer wieder mal auf. Und was ist nun, wenn Krieg ist, wie schreibt man darüber? Die Budapesterin Zsófia Bán prophezeite der Wahlwienerin Tanja Maljartschuk, sie werde trotz ihrer gegenwärtigen Ablehnung, den Krieg zu Hause in Literatur zu verwandeln, das in ein paar Jahren dann doch tun.

„Europa 24 – Was ist Literatur?“ im Literaturhaus:  Zwölf Schriftstellerinnen und Schriftsteller sprachen über ihr Metier in Zeiten der Krise.
„Europa 24 – Was ist Literatur?“ im Literaturhaus: Zwölf Schriftstellerinnen und Schriftsteller sprachen über ihr Metier in Zeiten der Krise. © Daniel Müller / Literaturhaus Hamburg | Daniel Müller / Literaturhaus Hamburg

Weil Literatur genau das macht: von dem handeln, was sich vor ihr abspielt. Tanja Maljartschuk hat sich 2023 in Klagenfurt als „gebrochene Autorin“ bezeichnet. Aber sie schreibt nach Putins Angriff dennoch weiter, trotz aller Probleme, die das mit sich bringt, ästhetischer, moralischer Natur. „Wie kann ich an einen Plot, an Haupt- und Nebenfiguren meines nächsten Romans denken, während meine Freunde umgebracht werden?“, fragte sie sich und ihre Kolleginnen und Kollegen im so friedlich gestimmten Raum des Literaturhauses.

„Europa 24“ in Hamburg: Nino Haratischwili auf Besuch in der Ex-Heimat

Beim Bachmann-Preis hatte Maljartschuk noch etwas anderes gesagt. Dass sie Angst vor einer Sprache bekommen habe nämlich, die es geschafft habe, „Millionen meist friedvolle Bürger davon zu überzeugen, dass sie im Recht seien, andere zu ermorden“. Nino Haratischwili erwähnte dies in ihrem Statement, das sie in die Diskussion gab. Jene Nino Haratischwili, die Autorin von zum Beispiel „Das achte Leben (Für Brilka)“ mit längerer Hamburger Vergangenheit – mittlerweile lebt sie in Berlin –, die gerade von den englischen Leserinnen und Lesern entdeckt wird. Die in ihrer Heimat bekannte BBC-Journalistin Rosie Goldsmith („I love a big, fat novel“) erklärte sich stellvertretend zum Fan von Haratischwilis epischen Wälzern. Gemeinsam mit der Berliner Radioredakteurin Natascha Freundel, die in diesem Jahr Sprecherin der Jury des Deutschen Buchpreises ist, moderierte sie sowohl die öffentlichen als auch die nicht-öffentlichen Diskussionsrunden.

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Haratischwili, die wie manch anderer und andere in der der Runde bi-kulturell geprägt ist und identitätsmäßig zwischen den Stühlen sitzt oder von der zumindest oft angenommen wird, dass sie dies tut, erklärte, wie sie sich durch den neuen Krieg an einen alten erinnert fühlte. 2008 fielen Russlands Bomben auf ihr Geburtsland Georgien. „Wären wir in jeder Sekunde und in jedem Moment unseres Lebens zur Empathie fähig, gäbe es keinen Krieg“, sagte Haratischwili, „Worte vereinen uns, aber manchmal trennen sie uns auch.“

Tagung im Literaturhaus: Das Pathos Nino Haratischwilis

Haratischwili beschrieb später die wechselhafte Wahrnehmung ihrer Person. Sie schreibt ja auf Deutsch und lebt hier; da kann es vorkommen, dass bei Lesungen in Georgien die Menschen überrascht sind, dass sie tatsächlich Georgisch spricht. Die Sprache also, die Haratischwilis Muttersprache ist. Sie sei für andere zuerst georgische Schriftstellerin gewesen, dann georgisch-deutsche, schließlich deutsche, letzteres ausgerechnet dann, „als ich gerade ein sehr dickes Buch über Georgien veröffentlicht hatte“.

Die polnische Autorin Dorota Masłowska und der kongolesische Autor Fiston Mwanza Mujila im Literaturhaus
Die polnische Autorin Dorota Masłowska und der kongolesische Autor Fiston Mwanza Mujila im Literaturhaus © Daniel Müller / Literaturhaus Hamburg | Daniel Müller / Literaturhaus Hamburg

Eine Erkenntnis, die sich aus den Berichten der Teilnehmer ergab: Es gibt von Land zu Land Unterschiede, was den Erwartungshorizont des Lesepublikums angeht. Alain Mabanckou berichtete, dass sich bei ihm die Leute immer beschweren, wenn sie nicht in seinen Büchern vorkommen; ein Unterschied zu europäischen und amerikanischen Autoren, die rechtliche Schritte befürchten müssten, sollte sich jemand in einer Romanfigur erkennen, so Mabanckou. Haratischwili dagegen meinte eher die Kritiker, als sie von Erwartungen und angeblichen Versäumnissen sprach. Ihr werde immer „Pathos“ und „Emotionalität“ vorgeworfen, sagte sie in Richtung ihrer Kolleginnen und Kollegen, woraufhin Francesca Melandri sogleich das Wort „Kitsch“ in den Raum warf. Sie kennt es nicht zuletzt von ihren deutschen Freunden.

Als sie mit 20 nach Hamburg gekommen sei, erzählte Haratischwili, um dort Theaterregie zu studieren, habe sie den deutschen Zug zum Intellektuellen kennengelernt. Da habe sie emotional einen Gang zurückschalten müssen. „Für Deutsche ist Glücklichsein gleichbedeutend mit Glück“, behauptete Melandri da, wobei nicht ganz klar wurde, wie ernst sie das tatsächlich meinte. Bei gelöster Atmosphäre wurde häufig gelacht in der Schriftstellerrunde; was den schwedischen Schriftsteller und Übersetzer Aris Fioretos, der seit Jahrzehnten auch in Berlin lebt, nicht davon abhielt, auf den ernsten Hintergrund deutscher Vorbehalte gegen das Emotionale zu verweisen: Sie haben etwas mit der deutschen Geschichte zu tun.

Literaturhaus: Würde es weniger Kriege geben, wenn Männer Romane läsen?

Worauf Haratischwili entgegnete, dass Emotionen sicherlich missbraucht werden könnten, „aber es ist insgesamt alles eine Frage der Balance“. Womit sie zweifellos recht hatte, Balance ist ja immer wichtig. Im Literaturhaus war diese in jedem Fall vorhanden. Neben den Genannten nahmen an der Tagung der in New York lebende Niederländer Arnon Grunberg, der Slowene Drago Jančar, die Polin Dorota Masłowska („Bowie in Warschau“), die im heutigen Bangladesch geborene Londonerin Monica Ali („Brick Lane“, „Liebesheirat“) und Sasha Marianna Salzmann („Im Menschen muss alles herrlich sein“) aus Berlin teil.

Monica Ali stellte übrigens eine nur vordergründig aburde Frage: Würde es weniger Kriege geben, wenn Männer, denen bekanntlich eher eine Neigung zum Sachbuch nachgesagt wird, auch Romane läsen? Berechtigtes Gedankenspiel, wo doch alle wissen, dass Lesen eine Schule der Empathie ist.

„Europa 24“ im Literaturhaus: Aufgefahren wurde einiges

Man darf annehmen, dass die von der Kulturbehörde und der „Zeit“-Stiftung Bucerius gesponserte Tagung ein voller Erfolg für das Literaturhaus war. Aufgefahren wurde einiges: Zum Beispiel stand, das war lange nicht der Fall am Schwanenwik, bei den Podiumsveranstaltungen eine Simultanübersetzer-Kabine im Eddy-Lübbert-Saal. Allerdings verzichteten die meisten Gäste auf Kopfhörer – das weltläufige Akzent-Englisch der oft weit gereisten Protagonisten stellte niemanden vor Probleme. Und es gab am ersten Abend mit Fiston Mwanza Mujila ja auch einen, der insgesamt sechs Sprachen spricht, aber lieber Deutsch als Englisch.

„Europa 24 – Was ist Literatur?“ war die ziemlich sicher teuerste Literaturveranstaltung in diesem Jahr in Hamburg. Auszusetzen ist daran gar nichts, im Gegenteil, auch wenn man sich ganz vielleicht noch einen wirklich großen Namen als Zugpferd für die Veranstaltung gewünscht hätte; versucht wurde dies, wie zu vernehmen war. So oder so: Eine Woche vor der Europawahl eine internationale Gruppe zusammenzubringen, die über Macht und Ohnmacht der Literatur debattiert, ist wichtig für das, was man gemeinhin Diskurs nennt und durchaus auch so etwas altbacken Klingendes wie Völkerverständigung meint. Dass trotz lebhafter Diskussionen bei Autorinnen und Autoren deutlich weniger gestritten wird als im Europaparlament, kann nur ein gutes Zeichen sein.