Hamburg . Das Nachbarland ist in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse (11.–15. Oktober). Einige der besten Titel stellen wir vor.

Die Auswahl der Abendblatt-Redakteure aus den neuen Titeln aus Frankreich:

Ein Trauma, aus dem Rassismus wird

„Ich will so aussehen, wie es mir zumute ist, ich will genauso widerlich sein wie diese Geschichte“, erklärt der Erzähler einmal, da ist das Qualbuch „Im Herzen der Gewalt“ (Fischer, 20 Euro) schon fast zu Ende. Ein junger Mann gabelt in Paris einen anderen jungen Mann auf – oder wird aufgegabelt – und nimmt ihn mit nach Hause. Einvernehmlicher Sex, Nähe, Intimität. All das schlägt dann um in Gewalt, an Körper und Seele. Der Erzähler erleidet ein Trauma, weil er, ohne sich zu wehren, vergewaltigt und bestohlen wird. Von einem Menschen, dem er vertraute. Édouard Louis ist es, der diese Geschichte erzählt, der junge Starautor, der mit seinem Emanzipationsroman „Das Ende von Eddy“ vor zwei Jahren Furore machte. Die Geschichte von „Im Herzen der Gewalt“ ist autobiografisch, und sie wird in einem glänzenden Stil erzählt: Als wollte Louis sich das schockierende Erlebnis mit Nachwirkung gerade derart vom Leib halten, dass er es in eine vollendete Form gießt.

Er berichtet von der Hilfe der Freunde (den bekannten Denkern Geoffroy de Lagasnerie und Didier Eribon) und den Prägungen, denen er nicht entkommen kann. Der Täter ist nordafrikanischer Herkunft, und so bricht sich beim Opfer der Rassismus Bahn, dem er zeitlebens entkommen wollte.

Bonjour, du süßes, zeitloses Leben

In diesem Klassiker kann man die sommerliche Hitze Südfrankreichs förmlich flirren sehen. Literaturhaus-Chef Rainer Moritz hat den berühmten, millionenfach verkauften Erstling von Françoise Sagan „Bonjour Tristesse“ (Ullstein, 18 Euro) neu übersetzt. Der frische, manchmal flapsige, lebensnahe Ausdruck, den er findet, ist der der damals 18-jährigen Debütantin, die dieses Werk 1954 in nur drei Wochen herunterschrieb.

Er passt auch zur Ich-Erzählerin, der leichtlebigen Cécile, die mit ihrem Vater und seiner jung-naiven Geliebten des Lebens Süße an der Côte d’Azur genießt. Bedroht wird die Freiheit von der Intellektuellen und Großstädterin Anne, Freundin von Céciles verstorbener Mutter, die den Vater tatsächlich zur Heirat bewegt. Die ihren Lotter-Lebensstil bedroht sehende Cécile initiiert eine Intrige, die in die Katastrophe führt.

Bonjour tristesse
Françoise Sagan
Hardcover 
Buchcover
Bonjour tristesse Françoise Sagan Hardcover Buchcover © Ullstein

Der Skandal, den dieses Sittengemälde mit endlosen Badetagen und ausschweifenden Partys wegen des darin propagierten amoralischen Lebenswandels auslöste, scheint heute überholt; doch Ennui, Ziellosigkeit, die Verweigerung von Verantwortung lesen sich absolut aktuell. „Bonjour Tristesse“ ist ein Roman seiner Zeit und gleichzeitig absolut zeitlos. Und unbedingt lesenswert.

Ein Bestseller

Früher hat Vernon Subutex in Paris einen angesagten Plattenladen geführt und war mit berühmten Künstlern befreundet. Doch im Laufe weniger Jahre ist er komplett durchs soziale Netz gefallen und hat nicht mal mehr eine Wohnung. Subutex schlägt sich mit allerlei Lügenstorys durchs Leben, kriecht mal hier, mal da bei Bekannten aus seinem früheren Leben unter.

Virginie Despentes, die 1994 mit ihrem Debüt „Baise-moi“ („Fick mich“) bekannt wurde, gelingt mit „Das Leben des Vernon Subutex“ (Kiepenheuer & Witsch, 22 Euro) ein dichtes Porträt der französischen Gesellschaft. Bei seinem Vagabundieren trifft die Titelfigur auf stein- reiche Exzentriker, gescheiterte Machos mit einem Hang zur Gewalt und gierige Journalistinnen, die für Geld jede Lüge in die Welt setzen. Drogen und Sex spielen eine zentrale Rolle in dieser abgründigen Welt. Despentes’ Roman ist voller Anspielungen auf Popkünstler, sie beschreibt die Auswirkungen der Digitalisierung und den politischen Rechtsruck in Frankreich, ihre Figuren leben alle an der Kante und spazieren durchs Leben wie Hochseilartisten – allerdings ohne Netz.

Virginie Despentes „Das Leben des Vernon Subutex“
Virginie Despentes „Das Leben des Vernon Subutex“ © Kiepenheuer & Witsch

Der erste Teil eines als Trilogie angelegten Projektes, das im Nachbarland gefeiert wird und auch in Deutschland auf der Bestsellerliste steht, besticht durch die genau beschriebenen Figuren und die detaillierten Milieus, und er ist auch der Abgesang auf eine Zeit, in der Rockmusik noch sinnstiftend war. (oeh)

Heiter und ehrlich

Für seinen Debütroman erhielt der französisch-kongolesische Schriftsteller Alain Mabanckou den „Grand Prix littéraire d’Afrique“, 2012 zeichnete ihn die Académie française für sein Gesamtwerk aus. Nun ist Mabanckous Roman „Die Lichter von Pointe-Noire“ (Liebeskind, 20 Euro) erschienen, in einer gelungenen Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller. Geschrieben hat Mabanckou ihn, nachdem er 2012 von einer Reise in seine fremd-vertraute Heimat Kongo zurückgekehrt war. Und dort erinnerte er sich daran, wie er als Kind „zwischen Wirklichkeit und Fantasie hin- und her segelte“. Onkel, Tanten, Vettern und Cousinen trifft er und begegnet seiner Kindheit, die überreich war an Geschichten und an bildermächtigem Aberglauben. „Hörst du nicht den singenden Tonfall deiner Mutter, wenn ich mit dir rede? ... Ich werde immer da sein, manchmal an den Rändern der Zeit sitzen, meist aber, trotz der stürmischen Winde, an den Ufern der Geduld entlangwandern“, sagt sein Onkel zu ihm. Vor 23 Jahren zog Mabanckou nach Frankreich, um zu studieren.

Die Lichter von Pointe-Noire Gebundene Ausgabe – 21. August 2017
von Alain Mabanckou (Autor),
Die Lichter von Pointe-Noire Gebundene Ausgabe – 21. August 2017 von Alain Mabanckou (Autor), © liebeskind

Zurück blieb seine Mutter, die ihn klaglos allein aufgezogen hatte, als Teil einer langen Kette von Ahnen, die sie ihm beim letzten Wiedersehen aufzählt. Mabanckous Buch ist ehrlich und heiter, und es wäre wohl nicht so lesenswert, beherrschte Mabanckou nicht die Kunst, zuzuhören, farbig zu erzählen und gründlich nachzudenken.

Ein Roman wie ein Gericht – Bon Appétit

Lammbraten im grünen Mantel. Stopfleber auf schwarzem Rettich und roter Rübe. Frische Lachsravioli. Fenchel- und Karottenfrikassee mit Lavendelhonig. Usw. usf. – „Die Chefin. Roman einer Köchin“ (Suhrkamp, 22 Euro), das neue Buch der in Berlin lebenden Prix-Goncourt-Gewinnerin Marie NDiaye, ist, unschwer zu erkennen, ein kulinarisches Unterfangen. Es schildert die Lebensgeschichte einer ehrgeizigen Frau, die sich nach oben kämpft, wie man so sagt, und die eine Aversion gegen jede Form von Selbstinszenierung hat. Ihr Name wird übrigens erst ganz zum Schluss genannt, sie ist: die Chefin.

Sie möchte kein Lob, nur, dass es den Leuten schmeckt. In ihrem Edelrestaurant, in der ihr Genießer die Bude einrennen. Sie hat ein problematisches Verständnis von Loyalität. Die Tochter, eine Verliererin, behandelt sie unanständig: die Chefin lässt es geschehen, als hätte sie die Behandlung verdient, als
hätte sie keinen Anspruch auf Glück.

Marie NDiaye
Die Chefin - Roman einer Köchin
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
Die Chefin - Roman einer Köchin
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
Marie NDiaye Die Chefin - Roman einer Köchin Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer Die Chefin - Roman einer Köchin Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer © suhrkamp | suhrkamp

„Die Chefin“ ist eine entsagungsvolle Biografie, erzählt von einem ihrer Mitarbeiter, der sie vergeblich liebt und aus der strikten Außensicht von dieser auf ihre Weise verkorksten Frau berichtet. Er urteilt nie. Ein sprachlich beeindruckendes Buch, das von Sinnenfreude und Diskretion erzählt. (tha)

Eitel, die Autoren

„Als ich der Gattin eines Schriftstellers ein Kompliment für ihre charmant-überschwängliche Wohnungseinrichtung machte, die im völligen Gegensatz zur syntaktischen Nüchternheit ihres Mannes stand, verriet sie mir, dass er sie ausgesucht habe – bis auf das kleinste Kissen“ – so hat der in New York lebende Zeichner Jean-Philippe Delhomme die links stehende Illustration betextet. Sie entstammt seinem brillanten Buch „Die Sache mit der Literatur“ (Liebeskind, 20 Euro), das ganz köstlich und hintersinnig die Literaturbranche auf die Schippe nimmt.

Delhomme langt voll hin, was die Klischees und Vorurteile über die sich fast immer sehr ernst nehmenden Dichter angeht. Ihre Selbstinszenierung, ihr Narzissmus: Nur damit lässt sich ein literarisches Werk erschaffen. Oder? (tha)

Vom Leben mit zerrissener Biographie

Die in Paris lebende Inderin Shumona Sinha schöpft auch für ihr drittes Buch „Staatenlos“ (Nautilus, 15,99 Euro) aus ihrer eigenen, bewegten Biografie. Sie findet schnörkellose, beklemmende, aber auch kämpferische Worte für die Zerrissenheit, den Wunsch einer neu Angekommenen, dazuzugehören.

So wie der Autorin selbst ergeht es ihrer Heldin Esha, die, aus bourgeoisen Verhältnissen Kalkuttas kommend, als Lehrerin arbeitet und in der französischen Metropole doch ein einsames, seltsam abgeklärtes Leben mit wechselnden Liebhabern fristet. Ihre Begegnungen mit Alltagsrassismus und Sexismus stärken in ihr den Wunsch nach Unsichtbarkeit, einem unauffälligen Verschwinden in der Masse.

Shumona Sinha
Staatenlos
Roman
Shumona Sinha Staatenlos Roman © Nautilus

Geschickt verschränkt Sinha die Geschichte Eshas mit zwei weiteren Schicksalen, jenem der ungebildeten indischen Bauerstochter Mina, die in die politischen Mühlen zwischen Hindus und Muslimen gerät, und jenem der von Franzosen adoptierten Inderin Marie, die auf dem Subkontinent auf einer entbehrungsreichen Suche nach ihren Wurzeln ist.

Es ist ein sehr aktueller, gänzlich unromantischer Roman, der die Gefühls­lagen seiner drei Anti-Heldinnen mit Unerbittlichkeit und Genauigkeit vor dem Leser ausbreitet. (asti)