Hamburg. Ein Panzer per Post, ein bei „Memory“ mogelnder Vater und ein erfundenes Helgoland: Der Buchpreis-Gewinner brilliert auf ganzer Linie.
Es ist allmählich langweilig, den eminent menschenwürdigen, nicht selten liebevollen, wiewohl oft ironischen Humor des Hamburger Literatur-Giganten Saša Stanišić zu loben. Tun wir es dennoch einmal mehr, wobei „einmal“ in den folgenden Zeilen sicher nicht ausreichen wird. Jetzt erscheint ein neues Buch des Schriftstellers; rechnet man die Kinder- und Jugendbücher raus, passiert das nicht überwältigend oft. Sein Migrations-Hit „Herkunft“ ist fünf Jahre alt; man kann es so sagen: Stanišić lässt sich Zeit, weil gute Literatur genau das oft braucht. Was den Humor angeht: Der neue Erzählungsband trägt tatsächlich den Titel „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“.
Ein solchen gewissermaßen unaussprechlichen Titel muss man sich leisten, den muss man beim Verlag durchsetzen können. Andererseits ist das ein sehr schöner, deutscher Relativ-lang-Satz. Warum sollte man sein Buch nicht so nennen? Die dazugehörige Geschichte handelt von Gisel, einer trauernden Frau, ihren Friedhofsbesuchen und dem Leben im Alter: „Mit der Traurigkeit war Gisel am liebsten allein, was gut passte, weil wenn Gisel allein war, war sie meist traurig.“ Eine Vignette seines Könnens, die neben anderen Stanišić-Kabinettstückchen steht. „Neue Heimat“ ist ein Bonus-Kapitel zur Emmertsgrund-Saga „Herkunft“, in der sich vier Migrantenjungs im Weinberg treffen, um „Proberaum des Lebens“ zu spielen. Alles sofort da, der Stanišić-Sound, der mit jugendkluger Abgeklärtheit die Welt versteht oder zu verstehen glaubt (mehr Ersteres!) und dabei die Leserin oder den Leser direkt anspricht. Man wäre gerne noch einmal jung, wenn man das liest.
Saša Stanišićs neues Buch: Doppelkopfrunden in Winsen an der Luhe
Was übrigens ein häufiger Impuls ist, wenn man sich über ein Werk dieses Autors beugt. Es gibt, nach der Titelgeschichte, eine Story mit noch längerer Überschrift. „Es pfeift der Wind bei hohler See, Nicht Mond, nicht Stern ist in der Höh‘, doch halten fest wir im Gesicht auf fernem Turm der Heimat Licht, wohin wir oft uns fanden“ klingt dabei gar nicht nach Stanišić. Ist es auch nicht, es sind Zeilen aus Johann Peter Eckermanns (genau, Goethes Eckermann) „Helgolander Fischerlied“. Es geht um das Helgoland, das der Ich-Erzähler in der ersten Geschichte des Bands, dem erwähnten Stück „Neue Heimat“, seinen Freunden entgegenwirft, da werde er angeblich urlauben. Der Erzähler distanziert sich, Meta, Meta, permanent von der Geschichte, die er da erzählt, der Geschichte eines geklauten Dorfkrug-Schildes. Eine kleine, virtuos ausgeführte Spielerei, hinter der sich die Bitternis verstecken könnte, dass man als unterprivilegiertes Flüchtlingskind nach den Sommerferien eben gerade keine Urlaubsgeschichten erzählen konnte.
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Zwei der neuen Storys widmen sich einer jungen Doppelkopf-Runde in Winsen an der Luhe. Da kommt ein Reichsbürger als eher harmloser Blödmann drin vor, aber auch ein Panzer, der bei Kartenbruder Mo plötzlich vor der Haustür stand. Mit dem ist Mo dann in der niedersächsischen Tiefebene unterwegs, Munition ist auch am Start: „75-mm-Kaliber. Die Jungs haben das Zielfernrohr für die Turmschwenkanlage justiert, und dann haben wir die Umgebung erkundet. Bei mir im Dritten wohnt doch der Hannes mit seiner Werder-Fahne im Fenster. Die Jungs meinten, so eine Panzergranate von damals kann auf einen Kilometer sechzehn Zentimeter Stahl durchbohren.“
Neues Buch von Saša Stanišić: Keine Panzergranate für Werder Bremen verschwenden
Aber für eine Flagge des ruhmreichen SV Werder will Mo dann doch keine Panzergranate verschwenden, das wäre des Guten zu viel. Man amüsiert sich über diese Zeilen, und man freut sich grundsätzlich auch über ein literarisches Wiedersehen mit Georg Horvath, dem Angestellten einer Bremer Großbrauerei. Wir kennen ihn aus drei Geschichten von dem 2016 erschienenen Erzählungsband „Fallensteller“. Mittlerweile ist Georg wie sein Schöpfer Vater, und aus Stanišićs Erfahrungsfundus könnten sich manche Beobachtungen schöpfen, was Vater-Sohn-Action angeht.
Einmal sind sie an der Weser unterwegs, Miro Klose stattet der Brauerei einen Besuch ab. Ob das Georg hilft, dem ausgerechnet ein Klose-Sticker für sein Panini-Album fehlt? Aus Vaterliebe hat ihm, dem ewigen Loser, beim Memory-Spielen mit dem Sohn Paul auch nicht das Zinken der Karten geholfen. Kaffeefleck-Gedächtnisstützen hat er auf den Karten verteilt, aber will seinen Sohn dann doch nicht verlieren sehen, schon gar nicht mit eigener betrügerischer Absicht.
Saša Stanišić: Anweisung des Autors: „Bitte der Reihe nach lesen“
Stanišićs neue Karriere als Trainer einer F-Jugend spielt auch eine kurze Rolle in diesem wie so oft spielerischen Buch des Übergangs, das sagenhaft kurzweilig ist, in Wirklichkeit aber vor allem dazu da ist, das Warten auf den nächsten Roman zu verkürzen. Er soll in Hamburg spielen, wie schön. Geehrt wurde der Supertyp Saša Stanišić kürzlich aber in seiner alten Heimat Baden-Württemberg: Er erhielt den Landesverdienstorden. Sicher auch für seine Literatur, aber nicht nur. Stanišić bezieht auch immer wieder gesellschaftlich Stellung. Im neuen Erzählungsband tut er das ebenfalls, zwischen den Zeilen, sozusagen.
Das Köstlichste an diesem Buch ist der Humor, er äußert sich auch im zweiten Zitat, das Saša Stanišić den neuen Texten voranstellt. Das erste stammt vom Ami-Autor Ray Cummings („Time is what keeps everything from happening at once“) und ist seeeehr tiefgründig. Das zweite stammt von Stanišić selbst und lautet, sicher mit Blick auf die Horvath-Storys, schlicht: „Bitte der Reihe nach lesen“.
Saša Stanišićtritt am 30. Mai im Thalia Theater auf, es gibt noch wenigeResttickets. Am 2. Juni ist der Autor zu Gast in der Christianskirche in Ottensen, auf dem Programm stehen unveröffentlichte Texte und ein Blick in die Autorenwerkstatt. Diese Veranstaltung ist ausverkauft.