Hamburg. Mit Bruckners Neunter Sinfonie gastierten Teodor Currentzis und „Utopia“ beim Musikfest in der Elbphilharmonie. Ein sehnenzerrender Clinch.

Solche Muskelpakete stehen nicht als Ausdrucksmittel in der Partitur von Anton Bruckners gottesfürchtiger Neunter, sie waren ein zentraler Teil der Inszenierung von und durch Teodor Currentzis. Ein schwarzglänzendes Tanktop war tonangebend bei seiner Orchesterdompteur-Abendgarderobe in der Elbphilharmonie – freier Blick auf Oberarme wie aus Marmor gemeißelt, wie sie seit Michelangelos „David“ erst Brad Pitt als Achilles in „Troja“ wieder vorweisen konnte. Ein Markenzeichen, so bildstark wie früher Karajans cäsarisch silberne Föhnfrisur, die immer nur von links im Profil gefilmt werden sollte.

Currentzis wollte bei seinem umjubelten Musikfest-Auftritt im Großen Saal der Elbphilharmonie keinen spätromantischen Weihrauch durch Bruckners epische Klangräume wabern lassen. Er wollte sich in dieser unvollendet gebliebenen Neunten nicht von einer Musikwoge nach der anderen ins Transzendente spülen lassen. Keine sich steigernde, sich entwickelnde Abfolge, keine Wendeltreppe hin zum Schöpfergeist, sondern immer wieder neue Episoden aufeinanderschichten, neue Protestanläufe nehmen, gegen die Mächte des Schicksals.

Elbphilharmonie: Teodor Currentzis ließ bei Bruckner die Muskeln spielen

Bei diesem nachhaltig verwirrenden Bruckner-Event stand fest: Es sollte nicht mehr nur ergebenst gegrübelt werden. Currentzis wollte ganz unbedingt in den hautnahen, sehnenzerrenden Clinch mit dieser an sich selbst verzweifelnden Musik und sie aus dem Meisterwerke-Museum ins Jetzt zerren. Sie in jedem der drei Sätze mit aller Macht niederringen und sich ihr ebenso, ganz und gar ohnmächtig oder völlig verzückt, ausliefern. Die Debatten um Currentzis’ beharrliches Schweigen zu den Themen Russland, Krieg und Putin sollten an diesem Abend für das Publikum eindeutig in den Hintergrund geraten.

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So etwas Krasses wie diese Bruckner-Demontage geht nicht lauwarm, da ist solide auf Unentschieden spielen unmöglich, das liefert man nicht brav gescheitelt im Sitzen ab; also steigerte sich Currentzis’ „Utopia“-Orchester im Stehen aus dem Stand in diese Rage. Die Streichergruppen waren heftig aufgestockt worden, um noch mehr expressive Verfügungsmasse zu kommandieren, als Gegengewicht zum knallharten Blech. Das Orchester ist, wie wahrscheinlich auch Currentzis’ Oberteil-Blickmagnet, eine Maßanfertigung aus Gleichgesonnenen, man hörte es diesem anderen Klangkörper in jedem Takt an, man sah es in der Intensität, mit der alle allen Anordnungen Currentzis’ gehorchten.

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Schon der Einstieg in den Kopfsatz war völlig, brutal geradezu unvernebelt, schroff, unleise, unsakral. Immer wieder justierte Currentzis Tempo-Zusammenhänge im weiteren Verlauf extrem anders, lehnte sich tief auskostend in die kurzen lyrischen Melodielinien zurück, um an anderen Stellen die Struktur nach vorn zu peitschen. Ein hart zerklüftetes Bruckner-Panorama, als hätte es Caravaggio gemalt, mit hartem Schlaglicht und entsprechend finsteren Schatten, schärfsten Konturen, unerbittlich herausmodelliert. Erstaunlich, wie viel Reibung in den Holzbläser-Zwischenbemerkungen zum Satzverlauf steckt und hörbar werden kann, wenn sie so klar wie hier eröffnet werden.

Man hörte auch immer wieder den actionsatten Schostakowitsch-Interpreten Currentzis aus dieser radikalen Neubeurteilung heraus, obwohl dessen Sinfonien sich erst Jahrzehnte später gegen Obrigkeiten aufbäumten. Wie Currentzis im Scherzo das Stampfen der Orchestermaschine von der Kette ließ, das war furchterregend gewalttätig. Die „Götterdämmerung“-Lautstärke in solchen Momenten war offenkundigste Absicht. Und wer aus höllischen Abgründen derart himmelhoch aufsteigt, kann am Ende nur tief und langgestreckt fallen. Die atemlos gespannte Stille nach den letzten, verendenden Tönen dauerte eine halbe Minute, erst danach ließ Currentzis seine heiß gelaufenen Arme sinken.

Nächstes Currentzis-Konzert: Britten „War Requiem“ mit dem SWR Symphonieorchester, 16.6., 20 Uhr, Elbphilharmonie, Gr. Saal, evtl. Restkarten