Hamburg. Mit „State of Affairs“ bringt die israelische Regisseurin Yael Ronen eine saftige, kluge Science-Fiction-Komödie auf die Bühne. Stark!
Kann Kunst Wirkung zeigen? Am Ende vielleicht sogar Kriege verhindern? Daran glaubt zumindest die zwischen Tel Aviv und Berlin lebende Regisseurin Yael Ronen. Am Thalia Theater beschäftigt sie sich in ihrer gemeinsam mit Roy Chen entwickelten Uraufführung mit dem „State of Affairs“.
Und da ist es um die Welt nicht gut bestellt. Eine Cyberattacke hat das Theater lahmgelegt. Eine Videobotschaft mit künstlich mal alternden, mal sich magisch verjüngenden Gesichtern klärt auf: „Ihr steht am Scheidepunkt der Zivilisation.“ Ein Gast, ein „ahnungsloser Katalysator für alles“, wird angekündigt, der „in zukünftigen historischen Ereignissen“ eine entscheidende Rolle spielen wird.
Die Nachricht stammt aus der fernen Zukunft und richtet sich an ein Theaterteam, das nun mithilfe von Proben des Stückes „State of Affairs“ zur Rettung der Menschheit beitragen soll. Doch es gibt Hindernisse – diese beginnen bei der Besetzung und internen Querelen. Und sie enden damit, dass das Stück in einzelnen Szenen und auch nicht in der richtigen Reihenfolge aus der Zukunft übermittelt wurde. Und nun?
„State of Affairs“ am Thalia: Eine Cyberattacke hat das Theater lahmgelegt
Yael Ronen lockt die Zuschauer zunächst auf die Fährte einer saftigen Science-Fiction-Boulevard-Komödie rund um die Eitelkeiten und Befindlichkeiten des Literatur- und Theaterbetriebes, passend dazu hat sie ein tolles, von Selbstironie getränktes Programmheft erstellt. Die Spielenden André Szymanski, Maja Beckmann (übrigens die Schwester von Schauspielhaus-Ensemblemitglied Lina Beckmann), Tim Porath und Nils Kahnwald agieren als sie selbst – aber auch in weiteren Rollen.
André Szymanski etwa schwingt sich zum Regisseur auf, der einem ominösen Sicherheitsexperten mit dem Namen Max Lutz allerlei Theatertratsch zuträgt. Genauso überzeugt er als selbstverliebter Schriftsteller in türkisfarbenem Hippie-Anzug mit bunten Cowboystiefeln (Kostüme: Amit Epstein). Der Geheimniskrämer Max Lutz, herrlich stoisch gegeben von Tim Porath, erinnert in seiner Aufmachung mit Arbeiterjacke, Schirmmütze und roten Brillengläsern an den kürzlich verstorbenen René Pollesch.
Die große Komödiantin Maja Beckmann wiederum beklagt sich als Maja über Tim: „Der vergisst seinen Auftritt, weil er sich manchmal selbst googelt.“ Einmal sei er so abwesend gewesen, dass sie sich als Desdemona in einer „Othello“-Vorstellung selbst habe erwürgen müssen. In dem temporeich erzählten, dynamischen Probengeschehen türmen sich bald die Lacher.
Die Szenerie ist stimmig. Bühnenbildnerin Evi Bauer hat den Raum mit sanft ihre spiralförmigen Kreise ziehenden Fadengardinen bestückt, auf die sich wunderbar Videoszenen, aber auch abstrakte Tapetenmuster projizieren lassen. Die Proben mit den bruchstückhaften Texten aus der Zukunft führen ins nicht minder eitle Schriftstellermilieu und ziehen eine weitere Ebene ein.
Ein Zeitreisender (erneut der wandlungsfähige Tim Porath) taucht auf – in Nachthemd und Trenchcoat. Seine Mission: Er will die Menschheit vor dem Dritten Weltkrieg retten und dafür große Dichter und Denker dazu animieren, besonders gewalttätige Passagen aus ihren Werken zu streichen. Doch ob Karl Marx oder eben der von André Szymanski als Karikatur eines Schriftsteller-Narzissten verkörperte Roman Kaminski, die Aufgabe erweist sich als mühsam, die Denker als sperrig.
„State of Affairs“ am Thalia Theater: überzeugende Relevanz inklusive starker Botschaft
Und dann trifft der Zeitreisende auf den britischen Dichter Siegfried Sassoon, bei Nils Kahnwald adrett gescheitelt im Retro-Anzug. Sassoon hatte sich 1914 mit einer gewissen Euphorie freiwillig zum Kriegseinsatz gemeldet. Dessen Text, Ausdruck von Protest und Widerstand, stammt aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, öffnet aber schon bald beklemmende Assoziationsräume auf die Schlachtfelder unserer Gegenwart: Der Krieg werde von den Machthabern, die ihn beenden könnten, absichtlich in die Länge gezogen. Von einem Krieg ist die Rede, der als Maßnahme zur Selbstverteidigung begann, aber mittlerweile „zu einem Angriffs- und Eroberungskrieg“ geworden ist. Nun führten politische Unaufrichtigkeit und Verschleierung zu immer neu geopferten Menschenleben.
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Mit dieser von Porath und Kahnwald beeindruckend genau behaupteten Szene gelingt es Yael Ronen bemerkenswert, eine Balance zwischen der Komödie und dem plötzlichen Ernst der Lage herzustellen. Zwar ist die Textfassung, die sie erstmals gemeinsam mit dem Autor und Übersetzer Roy Chen erstellt hat, nicht so pointiert-satirisch wie zuletzt jene des Lessingtage-Gastspiels „Planet B“, in dem die Regisseurin die globale Klimakatastrophe verhandelt hat. Aber das Vexierspiel mit den Identitäten gerät überaus lustvoll – auch für Nichtinsider des Theaters. Die Wendungen und das elegante Gleiten durch die Zeitebenen geben dem Geschehen in „State of Affairs“ eine überzeugende Relevanz und Dringlichkeit – inklusive einer starken Botschaft.
Ronens einzigartige Qualität liegt erneut darin, dass es ihr gelingt, einen gewichtigen Stoff in leichtfüßiges, mitreißendes Theater zu kleiden. Das ist wohltuend, ja geradezu befreiend zum Ende einer von eher düsteren Stoffen geprägten Saison am Thalia Theater.
„State of Affairs“ weitere Vorstellungen 5.5., 19 Uhr, 8.5., 20 Uhr, 19.5., 15 Uhr, 25.5., 20 Uhr, 2.6., 17 Uhr, 5.6., 20 Uhr, 14.6., 20 Uhr, 27.6., 20 Uhr, 3.7., 20 Uhr, 9.7., 20 Uhr, Thalia Theater, Alstertor, Karten unter T. 32814-444; www.thalia-theater.de