Hamburg. Isabella Vértes-Schütter stellt ihre finale Saison vor. Dabei sind Klassiker, ein Hamburger Bestseller und ein verblüffendes Angebot.
Zuflucht. Freude. Hoffnung. Fällt einem alles eher nicht auf Anhieb ein, wenn man auf die Welt der Gegenwart blickt. Und ist gerade deshalb umso notwendiger. „Wir leben in einer Zeit, in der wir zunehmend mit Bedrohungen konfrontiert sind“, fasst Isabella Vértes-Schütter den permanenten Krisenmodus da draußen zusammen. „Wir brauchen Räume, die eine bessere Welt entwerfen.“ Ihr Theater kann und möchte solch ein Raum sein. Für jeden. Und auf verschiedenen Ebenen. „Lichtblicke“ hat die Intendantin des Ernst Deutsch Theaters ihre neue Saison 2024/25 darum überschrieben, es wird ihre letzte in der Leitungsfunktion sein, bevor ihr Sohn Daniel Schütter gemeinsam mit der Regisseurin Ayla Yeginer die traditionsreiche Hamburger Privatbühne im Sommer 2025 übernimmt.
Das persönliche Finale allerdings ist gar nicht Thema in Vértes-Schütters Spielzeitvorschau. Ihr Programm geht – so hat sie es stets gehalten – von der gesellschaftlichen Gegenwart aus, es ist (übrigens nicht nur inhaltlich) vom Publikum her gedacht, ohne dieses zu unterschätzen oder zu unterfordern, und auch von der ganz unmittelbaren Nachbarschaft beeinflusst. „Das Ziel muss sein, dass Dinge besser werden“, zitiert sie die Autorin und Aktivistin Kübra Gümüşay im aktuellen Spielplanüberblick.
Ernst Deutsch Theater: Wer sich die Theaterkarten nicht leisten kann, bekommt sie geschenkt
„Theater schafft Lichtblicke, und dazu wollen wir die Menschen einladen“, sagt Vértes-Schütter – und auch diese Einladung ist zum Teil ganz wörtlich zu verstehen. Besonders spannend nämlich ist ein Testlauf, den die Bühne zum Spielzeitbeginn an allen Donnerstagen der Eröffnungsproduktion „Odyssee oder Das Kalypsotief“ (5.9. bis 6.10.) unternimmt: Wer sich die Theaterkarten nicht leisten kann, bekommt sie geschenkt. Einfach so? Im Grunde schon: Die Vorstellungen sollen an diesen Tagen nicht grundsätzlich freien Eintritt haben, stellt Vértes-Schütter klar: „Wer bezahlen kann, soll das bitte unbedingt tun!“ Alle anderen aber können sich aus einem Kontingent jeweils zwei Ehrenkarten an der Kasse oder im Service-Büro abholen. Ohne Berechtigungsnachweis, auf Vertrauensbasis, gern auch weit im Voraus.
Am Friedrich-Schütter-Platz ist man sich der unterschiedlichen Hürden und Schwellenängste bewusst, die einen Theaterbesuch verkomplizieren können. Und begegnet diesen offensiv. Mit Angeboten für Jugendliche, Audiodeskription, Vorstellungen mit Gebärdensprache oder eben solchen, die einen Teil des Publikums nichts kosten. „Wir wollen Teilhabe auf vielen unterschiedlichen Wegen ermöglichen.“ Kleines Manko: Online ist die Gratiskarten-Bestellung für die drei Donnerstage derzeit noch nicht möglich, man muss die Tickets persönlich abholen.
Shakespeare am Ernst Deutsch Theater: Der Romeo steckt noch in den Vertragsverhandlungen
Was beim Blick auf das geplante Programm darüber hinaus zuerst auffällt: Überproportional viele Stücktitel sind einem vertraut. Ende November feiert Molières „Der Geizige“ mit Boris Aljinowic in der Regie von Anatol Preissler Premiere. Mitte Januar folgt Edward Albees Beziehungsdrama „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ (Regie: Harald Weiler), bevor am 27. März die wohl berühmteste tragische Liebesgeschichte der Theaterliteratur an der Mundsburg gespielt wird, Shakespeares „Romeo und Julia“ in der Inszenierung von Anton Pleva mit Pauline Werner in der weiblichen Hauptrolle. Der Romeo steckt noch in den Vertragsverhandlungen.
Für vier Vorstellungen wieder aufgenommen wird das berührende Zwei-Personen-Stück „Dienstags bei Morrie“ mit Charles Brauer in der Titelrolle (10. Oktober bis 13. Oktober). Jeden Abend gab es dafür Standing Ovations vom Publikum. Auch „Spatz und Engel“ über Edith Piaf und Marlene Dietrich (Regie: Dominik Günther) geht Anfang November in eine zweite Runde, und ein Wiedersehen gibt es mit Gilla Cremer, die sich spielend und singend der „Freundschaft“ widmet.
Isabella Vértes-Schütter„Wir haben bewusst populäre Stoffe im Spielplan“
„Wir haben bewusst populäre Stoffe im Spielplan, um ausreichend Menschen zu erreichen und in die Häuser zu ziehen“, erklärt Vértes-Schütter. Das ist auch finanziell nötig – in der zweiten Saison ohne Einschränkungen ist das Publikumsinteresse zwar im Vergleich zum Vorjahr sanft angestiegen, aber noch lange nicht auf Vor-Corona-Niveau. 3000 Abonnentinnen und Abonnenten hat das Ernst Deutsch Theater im Moment, vor der Pandemie waren es 5000. Wirtschaftlichkeitshilfen oder Corona-Fonds gibt es nicht mehr, eine Einnahmesteigerung durch eine höhere Auslastung ist unausweichlich.
Die soll nicht allein mit den „sicheren Klassikern“ gelingen oder durch Kooperationen mit der „Kampf der Künste“-Reihe (Poetry-Slam, Stand-up-Slam) und der beliebten Impro-Comedy „Das Elbe vom Ei“. Sondern auch mit einem Bestseller-Projekt, das im Mai 2025, 80 Jahre nach Kriegsende, auf die Bühne kommt: „Töchter einer neuen Zeit“ in einer Dramatisierung von Gil Mehmert nach dem gleichnamigen Roman von Carmen Korn.
Der 560 Seiten starke erste Band der Jahrhundert-Trilogie spielt in der direkten Theater-Nachbarschaft, auch die Hamburger Autorin lebt ganz in der Nähe. Ein Dutzend Schauspielerinnen und Schauspieler und zwei Musiker werden beteiligt sein. Zusätzlich ist angedacht, Spaziergänge an die Roman-Schauplätze im Stadtteil anzubieten.
- Musical-Vorstellungen abgesagt – droht Hamburger Engelsaal das Aus?
- Israelische Regisseurin am Thalia Theater: „Mehr Raum für palästinensische Regisseure“
- Podcast mit Isabella Vértes-Schütter: „Friedrich Schütter ist mein Mensch im Leben gewesen“
Und vor allem die Uraufführung zum Spielzeitauftakt wagt gleich auf mehreren Ebenen ein Experiment: „Odyssee oder Das Kalypsotief“ ist eine Neuschreibung des Homer-Stoffes von Daniel Schütter. „Wir sehen hier viele Parallelen zu den Entwicklungen unserer Zeit“, erklärt Isabella Vértes-Schütter. Zugleich markiert der Abend den Beginn einer Trilogie, die das Haus gemeinsam mit dem Ohnsorg Theater (wo Isabella Vértes-Schütter in „Oddos See“ auf der Bühne stehen wird) und dem Lichthof Theater angeht. Inszenieren soll erstmals die junge Regisseurin Johanna Witt, die schon im Nachtasyl des Thalia Theaters den zauberhaften und preisgekrönten Angler-Abend „Wenn die Rolle singt“ verantwortete.
Wie viele Zuschauerinnen und Zuschauer das Ehrenkarten-Angebot annehmen wollen, wird sich zeigen. Über eine mögliche Fortsetzung haben Isabella Vértes-Schütter und ihr Team bereits nachgedacht, ebenso wie über ein „Zahl so viel du kannst“-Modell. Zuflucht, Freude, Hoffnung – Ressourcen, zu denen zumindest das Ernst Deutsch Theater jedem und jeder einen Zugang ermöglichen möchte.