Hamburg. Der Verein Pro Quote Bühne protestiert scharf gegen die letzte Saison von Joachim Lux. Die Gruppe wünscht dem Intendanten „leere Säle“.
„Boykott Thalia! Support Geschlechtergerechtigkeit!“ Die Wortwahl ist deutlich, die Absicht unmissverständlich: „Wir wollen, dass der letzte ,Paukenschlag‘ aus der Vergangenheit von Joachim Lux in leeren Sälen verklingt.“ Das Netzwerk Pro Quote Bühne e.V. protestiert scharf gegen die Hamburger Bühne. „Wir rufen unser geschätztes Theaterpublikum und insbesondere unsere Kolleg:innen dazu auf, das Thalia Theater Hamburg bis zum Spielzeitende im Sommer 2025 zu boykottieren! Vor allem an den Premieren!“
In der Kritik steht die Auswahl der Regisseure, die in der kommenden Spielzeit – es ist Lux‘ 16. und finale, bevor seine Nachfolgerin Sonja Anders im Sommer 2025 das Haus übernimmt – das Programm bestimmen. Es sind vor allem Männer, darunter Nicolas Stemann und Antú Romero Nunes, Christopher Rüping und Johan Simons, Kornél Mundruczó und Kirill Serebrennikov.
Sowohl auf der großen Thalia-Bühne als auch an der Zweispielstätte in der Gaußstraße sei nur eine einzige Regisseurin zu finden, kritisiert „Pro Quote Bühne“: Jette Steckel. Der weitaus größte Anteil an Inszenierungsaufträgen für die Saison 2024/2025 ist an Männer vergeben.
Thalia Theater: Zu wenig Frauen? „Pro Quote Bühne“ ruft zu Boykott auf
Das will der Verein, der sich seit Oktober 2017 um mehr Geschlechtergerechtigkeit an den deutschsprachigen Bühnen bemüht, nicht hinnehmen: „Die öffentliche Auseinandersetzung mit Themen wie Feminismus, Gleichberechtigung, Gender Pay Gap, Diversität, Inklusion, Nachhaltigkeit, Zugänglichkeit, Care-Arbeit und Beruf und vieles, vieles mehr scheint zu verhallen, weil die Strukturen im Theater im Allgemeinen immer noch dieselben geblieben sind.“
Schon bei der Vorstellung seiner Saison war Thalia-Intendant Joachim Lux in der vergangenen Woche auf den auffallend geringen Anteil an weiblichen Regiehandschriften angesprochen worden. Begründet hatte er dies sinngemäß mit dem Wunsch, zum Abschied entscheidende Weggefährten einzuladen und seine Intendanz auf diese Weise im Programm gespiegelt zu sehen. So, wie sie nun einmal gewesen sei: „Als wir 2009 in Hamburg angefangen haben, gab es das geschärfte Bewusstein nicht.“
Heute sei man da deutlich weiter. Darin steckt durchaus Selbstkritik, wobei Lux zugleich auf den Umstand verweist, dass die wohl prägendste Regisseurin seiner Hamburger Jahre eben Jette Steckel sei. Sie habe insgesamt 19 Inszenierungen hier gemacht, „mehr als die meisten anderen“.
Das sei nicht ausreichend, gibt Lux zu. Er verweist unter anderem auf ebenfalls einflussreiche Gegenwartsautorinnen wie Nino Haratischwili und Elfriede Jelinek und erinnert an die Spielzeit 2022/2023, als fünf von neun Regiepositionen im Großen Haus von Frauen verantwortet waren. Für die kommende Saison kämen „vermutlich noch zwei Frauen hinzu“, unter den Wiederaufnahmen seien 13 Inszenierungen von sieben verschiedenen Regisseurinnen.
Thalia Theater: „Pro Quote Bühne“ wünscht scheidendem Intendanten „leere Säle“
An dem Umstand ändert das grundsätzlich gestiegene Problembewusstsein für „Pro Quote Bühne“ nichts: „Zu viel Entscheidungsmacht“ sei auf einzelne Personen konzentriert, „die in der Regel anscheinend nicht anders können, als immer wieder dieselben, langweiligen, patriarchalen, prekarisierenden und marginalisierenden Entscheidungen zu treffen“.
„Es kann nicht sein, dass im 21. Jahrhundert immer noch patriarchale Strukturen und Ästhetiken unsere staatlich geförderten Theaterräume dominieren!“, empört sich die Gruppe von Theaterschaffenden, die sich für eine paritätische, diverse und inklusive Besetzung starkmacht. „Wie soll gesellschaftliche Veränderung, die Stärkung von Demokratie und die Diskursfähigkeit gefördert werden, wenn Jahrhundertealte Geschichten seit Jahrhunderten von den immer selben Menschen/Perspektiven erzählt und rezipiert werden?“
Einen Boykott findet Joachim Lux erwartungsgemäß „wenig hilfreich“. „Wir müssen das zur Kenntnis nehmen. Das Ungleichgewicht besteht ja“, gibt er zu. „In der Spielzeit 2024/2025 inszenieren tatsächlich bemerkenswert wenige Regisseurinnen am Thalia Theater. Das ist uns sehr bewusst. Und das ist auch bedauerlich.“ Das sei keine „Politik mangelnder Wertschätzung“, sondern den Umständen einer letzten Spielzeit geschuldet.
„In dieser Spielzeit geht es darum, bestimmte langjährige Arbeitsbeziehungen der letzten 16 Jahre noch einmal zu runden und abzuschließen. Die Rückkehr mancher Regisseure früherer Jahre ist, übrigens auch vom Ensemble, explizit gewünscht. Dies führt in Geschlechterfragen tatsächlich zu einer Unwucht.“
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Seine Nachfolgerin Sonja Anders, die als Unterstützerin von „Pro Quote Bühne“ gilt und mit einem weiblichen Leitungsteam (neben ihr gehören die Dramaturgin Nora Khuon und die Regisseurin Anne Lenk dazu) am Thalia Theater starten wird, wollte den Boykottaufruf auf Abendblatt-Anfrage nicht kommentieren. Dass sie in dem Pro-Quote-Appell explizit genannt wird („Vorfreude auf die neue Leiterin des Thalia, Sonja Anders, die ab der Spielzeit 25/26 hoffentlich sehr viel ANDERS machen wird“), habe sie vorher nicht gewusst.
Am Thalia Theater stehen in dieser Saison noch zwei Premieren an
Eine inhaltliche Distanzierung zu den grundsätzlichen Anliegen von „Pro Quote Bühne“ ist das nicht: Wer Anders‘ Arbeit in Hannover und das dortige Ensemble kennt, dem muss im Vergleich zu anderen deutschsprachigen Bühnen die Diversität besonders auffallen. Schon bei ihrer Vorstellung als designierte Intendantin am Thalia sprach Sonja Anders offensiv von „unterschiedlichen Herkünften und unterschiedlichen Körpern“, von „Teilhabe“ und „feministischen Strukturen“.
Bevor die letzte von Joachim Lux verantwortete Spielzeit beginnt, stehen noch in dieser Saison zwei Premieren auf der großen Thalia-Bühne an: „State of Affairs“ in der Regie der Israelin Yael Ronen und „Emilia Galotti“ in der Inszenierung der nächsten Oberspielleiterin Anne Lenk.