Hamburg. Es gibt Hunderte Lieder über St. Pauli, aber auch über Barmbek, Dulsberg, Rissen, Jenfeld und Sasel. Die Playlist für Lokalpatrioten.

„Suche Zweizimmerwohnung in den üblichen Vierteln St. Pauli, Schanze, Altona. Maximal 1800 Euro kalt“: Der Standardsatz für Wohnungsgesuche überträgt sich auch seit Jahrzehnten auf Lieder über Hamburger Stadtteile. Vor allem St. Pauli ist derart abgegrast, dass man schon mit Songs über einzelne Straßen ein Album füllen könnte: das „Reeperbahn“-Doppel von Udo Lindenberg, „Hamburger Berg“ von Nils Koppruch, „Wohlwill“ von Friska Viljor. Selbst wenn ein Johannes Oerding an der „Ecke Schmilinsky“ in St. Georg steht, singt er über die Reeperbahn nachts um halb eins.

Aber es gibt sie, lokalpatriotische bis despektierliche Lieder über und aus vielen der insgesamt 104 Hamburger Stadtteile. Manchmal sind sie das Thema des ganzen Songs, manchmal nur ein Stichwort. Stilistisch ist alles dabei von Rock über Hip-Hop bis Elektro, von Superstar bis Underground.

Hamburger Stadtteilsongs: Das sind die 20 besten Lieder

Wir haben lange gesucht und gehört, um 20 der bekanntesten oder interessantesten, schönsten oder schrägsten Lieder für Lokalheldinnen und Playlist-Patrioten von Altona bis Wilhelmsburg zusammenzustellen. Und wer Lieder über Altenwerder, Gut Moor, Spadenland, Borgfelde, Marienthal oder Lohbrügge vermisst: Bitte schreibt eins! Das geht besonders an die Frauen in Hamburgs Musikszene.

Aber jetzt wird es Zeit. Das „Jenfeld Mädchen“ und das „Mädchen aus Bramfeld“ sind gerade „Mitten in Barmbek“ und müssen „Nach Bahrenfeld im Bus“. Und weiter mit der S-Bahn Richtung „Rissen“ für eine „Polonäse Blankenese“. Gleich gehen sie los, die Mädels, mit ganz großen Schritten …

Rantanplan: „Natural Born Altona“ – man lebt so halb vom Flaschenpfand

Wohnungsnot. Gentrifizierung. Und am Molotow hängt ein „Kein Abriss!“-Plakat. Wer das Video der Ska-Punker Rantanplan anschaut, meint einen hochaktuellen Clip zu sehen. Ist aber auch schon elf Jahre alt, diese bläsergetriebene Nummer. In schwarzen Ganzkörperanzügen protestiert und musiziert sich die Band durch diverse Stadtteile von St. Pauli bis Schanze. Wo steigende Mieten die Alteingesessenen vertreiben. Ganz so, wie es in der titelgebenden Zeile heißt: „Und Natural Born Altona lebt so halb vom Flaschenpfand“.

Bus 3 ist ’ne Party: Dirk von Lowtzow von Tocotronic 2023 im Stadtpark.
Bus 3 ist ’ne Party: Dirk von Lowtzow von Tocotronic 2023 im Stadtpark. © picture alliance/dpa | Georg Wendt

Tocotronic: „Nach Bahrenfeld im Bus“ – mit dem Bier zu mir

Melancholie galore an Schlurfrock. Und ein Gitarrengewitter zum Finale. Dirk von Lowtzow zockelt mit seiner Band Tocotronic in „Nach Bahrenfeld im Bus“ 1997 gen Schlafstadt im Westen. Prestige-Projekte wie die Science City waren in der Endzeitstimmung des ausgehenden Millenniums ferne Zukunftsmusik. Bahrenfeld war der von der A7 zerfurchte Stadtteil, den es folgendermaßen zu durchqueren galt: „Halt mich fest. Ich glaub‘ ich brauch‘ das jetzt. Kauf‘ mir ein Bier, ich trink‘ es dann bei mir. Ich steige ein, und bin dann gern allein.“

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Lotto King Karl: „Mitten in Barmbek“ – ein Hamburg-Song mit Andy Brehme

„Ja, ich war auffer ganzen Welt, New York, Paris, Rio, Akielpulco, El Arenal auch, aber jeder Mensch brauch ein Zuhause und meins is hier: mitten in Barmbek“, sang – oder besser schnatterte – Lotto King Karl 1996 im mittlerweile abgelegten breiten Proll-Slang auf seinem Debütalbum „Weiß’ Bescheid?!“. Die Albumversion ist vielleicht nicht die gelungenste Verbeugung vor Bruce Springsteens „Streets of Philadelphia“, aber live bei seinen Konzerten ist „Mitten in Barmbek“ neben „Hamburg, meine Perle“ und „Fliegen“ einer der ewigen Klassiker und natürlich die Hymne von BU, dem HSV Barmbek-Uhlenhorst: „Keine Heimat, für die ich mich schäme, denn aus Barmbek kommt auch Andy Brehme.“

Born for Korn in Bergedorf: Deichkind.
Born for Korn in Bergedorf: Deichkind. © picture alliance/dpa | Sven Hoppe

Deichkind: „Fachjargon“ – Hamburgs Lyrik-Styler dürfen nicht fehlen

„Hamburg dies, Hamburg das, Hamburg Fachjargon. Nicht so wischi waschi wie im Waschsalon“, stellte sich Deichkind 2000 auf „Bitte ziehen Sie durch“ vor. Damals aus Malte, Buddy und Phil bestehend, machte die heute wohl größte Hip-Hop-Elektro-Bumms-Truppe Deutschlands die ersten musikalischen Schritte noch in Bergedorf. Entsprechend niedrig waren die Ziele gesetzt: mal in einer Friesenkneipe auftreten oder in einem Tiroler Festsaal, Hauptsache Großes erreichen: „Wir machen Schlagzeilen, wie die Bergedorfer Zeitung.“ Aber Ein Vierteljahrhundert später haben sie es wirklich geschafft, wie Deichkind 2023 zusammen mit Fettes Brot in „Mehr davon“ rappten: „Das Licht geht aus, Musik geht an, es schreit das ganze Stadion. Von Pinneberg bis Bergedorf heißt es: Party all night long!“ Genau so!

Gottlieb Wendehals: „Polonäse Blankenese“ – bei diesem Hamburg-Song geht’s um den Reim

Werner Böhm (1941–2020) war ein Jazzpianist mit Ambitionen. Und 1981 auf Platz eins der deutschen Charts – als Stimmungskönig Gottlieb Wendehals mit „Polonäse Blankenese“. Ist das Hamburg pur? Aber ja, hamburgischer kann man nicht singen. Und natürlich trotzdem auch: nein. Das Wort „Blankenese“ ist in diesem Avant-la-lettre-Ballermann-Hit lediglich aus lautmalerischer Absicht. „Polonäse Blankenese“ ist ein Party-Klassiker, und zwar nicht allein von Othmarschen bis Rissen. Sondern von Flensburg bis Freiburg, dank zeitloser Nonsense-Lyrik: „Hier fliegen gleich die Löcher aus dem Käse, denn nun geht sie los, unsere Polonäse, von Blankenese bis hinter Wuppertal. Am Kamener Kreuz rechts ab“. Mitsamt des besten angetäuschten Reims der Musikgeschichte: „Wir ziehen los, mit ganz großen Schritten, und Erwin fasst der Heidi von hinten an die ... Schulter.“ Und wem das zu albern ist: Hier noch ein Geheimtipp aus Hamburgs Indie-Szene: Die Punkies und Paula Carolina mit „Blankenese“.

Abschlach!: „Mädchen aus Bramfeld“ – Hamburger Stadtteilsong mit Girl Nummer eins

Klar, der Lieblingsort der Gröl-Punkrocker Abschlach! ist das Volksparkstadion, wo ihr Lied „Mein Hamburg lieb ich sehr“ seit vielen Jahren zum festen Musikinventar gehört. Die Wurzeln der Band liegen aber Mitte der 90er-Jahre in einem Proberaum in Bramfeld, und offensichtlich hat der damalige Sänger Henning Trolsen dort auch sein Herz verloren, wie er 2005 auf dem Album „Runter ans Ufer“ in „Mädchen aus Bramfeld“ sang: „Komm doch nach Haus‘, wo willst du hin? Ohne dich ist’s scheiße hier, auch wenn ich oft ein Arschloch bin: Mädchen aus Bramfeld, bleib bei mir.“ Hach! Auf demselben Album gibt es auch noch die „Ode an Ohlsdorf“, wo man bitte begraben werden möge, aber „Richtung Bramfelder See“.

„Das ist nicht der Himmel, sondern Dulsberg“, singt Saskia Lavaux (2. v. l.) von Schrottgrenze.
„Das ist nicht der Himmel, sondern Dulsberg“, singt Saskia Lavaux (2. v. l.) von Schrottgrenze. © tapete records | CHANTAL WEBER

Schrottgrenze: „Dulsberg“ – hier leben Mäuse, keine Stars

Seit Barmbeks Aufteilung 1951 in –Nord, –Süd und Dulsberg wird der kleinste der drei Schwesterstadtteile gern mal übersehen. Aber dort gibt es auch seit 1961 die „Chameleon Recording Studios“ mit langen Referenzen von Tina Turner über Udo Lindenberg bis Lord Of The Lost. Und dort lebt auch Saskia Lavaux, die dem Viertel mit ihrer Indie-Punk-Band Schrottgrenze und dem Song „Dulsberg“ 2017 eine tolle Hymne widmete: „Unter ihren Schuhen kleben Altöl, Kot und Glas. Sie sagt, in dieser Straße leben keine Stars“, sondern „Kaninchen und Mäuse zwischen den Backsteinhäusern“. Mit dem Song kann man schön über die Rollerbahn an der Linne-Kampfbahn düsen oder im Osterbek-Park nach oben schauen: „Das ist nicht der Himmel, sondern Dulsberg“.

Samy Deluxe wuchs in Eppendorf auf, „zwischen den ganzen reichen Kids“, wie er im Track „Eppendorf“ rappt.
Samy Deluxe wuchs in Eppendorf auf, „zwischen den ganzen reichen Kids“, wie er im Track „Eppendorf“ rappt. © picture alliance/dpa | Georg Wendt

Samy Deluxe: „Eppendorf“ – ein Stadtteil-Song voller Wut auf die Privilegierten

Wo ist die fetteste Kohle in Hamburg zu Hause? An Alster oder Elbe? Winterhude, Hochkamp, Blankenese? Oder doch in den Altbauten an der U3? Die Story des Underdogs, der sich gegen die Rich Kids behaupten muss, ist so oder so und immer gut. Samy Deluxe erzählt sie gleich auf seinem Debütalbum im Jahr 2001, auf dem Hamburger Rap-Klassiker „Eppendorf“. Eine Ode ans Nichtshaben, weil nur das Nichtshaben einem Dampf macht. Der „Stranger aus der Nachbarschaft“, „von dem ihr wusstet, dass er nie sein‘ Abschluss schafft“, ist in dieser Selbstermächtigungsgeschichte der, der jetzt die Eppendorfer High Society dank seines Erfolgs nur noch im Rückspiegel sieht. „Egal, wo ihr noch hinwollt, wir waren schon dort. Denn wir hatten Ziele, und ihr habt in der Nase gebohrt. Denn ihr hattet Cash, und uns hat der Magen geknurrt. Und was wir noch nicht gemacht haben, das haben wir vor“. Eine Feier der Deklassierung, und ein ganz großer Eppendorf-Diss zusammen mit Bernd Begemanns „Die Slums von Eppendorf“.

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Findus: „HafenCity“ – geht es in diesem Hamburg-Song etwa um den Elbtower?

„Ein goldener Turm, der große Schatten wirft“, proklamiert die Band Findus zu kantigen Gitarren. Wurde da im Jahr 2011 etwa bereits der Elbtower herbeiimaginiert? Wohl kaum. Vielmehr scheint die glatte Würfelarchitektur der HafenCity in dieser Punkrock-Nummer zur Metapher zu werden für ein Leben ohne Reibung. Die Punchline: „Lass uns über alles reden, nur nicht den Verlust“. Lyrisch kryptisch und im Sound brachial fegt Findus durch die Assoziationen wie der Wind durch blanke Häuserschluchten.

Matula: „Hammerbrook“ – wenn es wehtut, bist du genau hier

Eine Wüste aus angelaufenem Beton und porösem Asphalt, brutalistische S-Bahn-Viadukte wie von Tito persönlich würfelgehustet, aber auch Glitzerfassaden an stillen Kanälen: Hammerbrooklyn scheint aus einem ewigen Schlaf zu erwachen. Mit einem mörderischen Kater. Dazu passt das Punk-Geschrabbel von Matula mit „Hammerbrook“ aus dem Jahr 2010. „In der Kneipe brüllt Musik, das Date kannst du vergessen. Es ist hier so verraucht, zünde ruhig die Kerze an“ singt Thorben Lange-Loos so zerknittert wie die von Claus Theo Gärtner gespielte Krimifigur Matula aus „Ein Fall für zwei“, um dann alle Hoffnung fahren zu lassen: „Wenn du kaputt bist, wenn du einpennst, wenn es wehtut, wenn es keinen Sinn macht: Dann ist es Hammerbrook“.

Jason & Die Argonauten: „Harburg City After Dark“ – Hamburger Schule ohne Beatlemania

Der Sprung über die Elbe, er gelingt auch Hamburgs Pop-Dichterinnen und -Denkern vergleichsweise selten wie in Peter Schuldts „Harburg-Song“. Dabei wurde in Harburg vielleicht die moderne Popmusik geboren, als die Beatles 1961 mit Tony Sheridan in der Friedrich-Ebert-Halle ihre erste Platte aufnahmen, die zum Kontakt mit Brian Epstein und damit zum Beginn der Beatlemania führte. Und doch wollen sich Harburger Musiker lieber eine Flasche warmes Plastikflaschenbier bei Lidl schnappen und schwarz mit der S-Bahn Richtung Stade fliehen, wenn man Jason & Die Argonauten und ihren an frühe Hamburger Schule erinnernden, schön-melancholischen Song „Harburg City After Dark“ zum Maßstab nimmt: „Ganz langsam wird es dunkler, jeden Tag“.

Mag Mädchen aus Jenfeld: Jochen Distelmeyer.
Mag Mädchen aus Jenfeld: Jochen Distelmeyer. © picture alliance/dpa | Britta Pedersen

Jochen Distelmeyer: „Jenfeld Mädchen“ – Hamburger Stadtteilsong mit Girl Nummer zwei

Auf seinem Solo-Debüt „Heavy“ war Blumfeld-Mann Jochen Distelmeyer hart und schwer unterwegs, siehe und höre „Wohin mit dem Hass“. Das schönste Stück der Platte ist aber einem Hamburger Stadtteil gewidmet. Einem Quartier, in dem die „Platte“ zu Hause ist, der Plattenbau. Ja, Jenfeld ist auf ganz eigentümliche Weise reizvoll, vielleicht liegt dieser ja tatsächlich in der Beschaffenheit seiner weiblichen Geschöpfe. „Jenfeld Mädchen“ also, ein Liebes- als Abschiedslied? „Der Herbst ist in der Stadt“, und „ich fühl’ mich so allein hier“. Es wärmt der Gedanke an sie, das lyrische Ich hat Sehnsucht: „Jenfeld Mädchen, vergiss die schwere Zeit und komm mit mir. Lass uns gehen, fort von Jenfelds Ebenen. Ich reich‘ dir meine Hand, und geh‘ den ganzen Weg mit dir“ – Distelmeyer als Ritter, der die Holde vom Stadtrand rettet? „Der ganze Weg“ könnte die Liebenden nach Berlin führen, nach da, wo der Musiker gerade gezogen war.

Niels Frevert ist Hamburgs bester Songwriter.
Niels Frevert ist Hamburgs bester Songwriter. © picture alliance/dpa | Christian Charisius

Niels Frevert: „Niendorfer Gehege“ – eine alte Freundschaft, anschwellende Streicher

Hamburgs versiertester Songwriter Niels Frevert wuchs am Stadtrand auf. Und schenkte dem 2008 mit dem nostalgisch-wehmütigen „Niendorfer Gehege“ den Song, den er verdient. Ein meisterhaftes Lied über eine alte Freundschaft, über die unweigerlich vergangene Kindheit, über ein Wiedersehen. „Und ich nehm noch ein Getränk, bevor ich die letzte U-Bahn krieg‘. Und vielleicht, auf dem Weg auf die Wiese im Gehege“, anschwellende Streicher, der Song nimmt noch mal Anlauf, herrlich. Ein Lied über die Rückkehr, in dem Person und Ort verschmelzen. „Es tut so gut, dich wiederzusehen, bisschen komisch, in den Arm zu neh‘m, mein Freund, ich geb‘ einen aus, was willst du trinken“, singt Frevert, und das ist natürlich alles allgemeingültig, aber in Hamburg hört man den Song noch einmal anders.

Kettcars bekanntester Song heißt „Landungsbrücken raus“, ein anderer „Zurück aus Ohlsdorf“.
Kettcars bekanntester Song heißt „Landungsbrücken raus“, ein anderer „Zurück aus Ohlsdorf“. © HA | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Kettcar: „Zurück aus Ohlsdorf“ – der größte Friedhof in einem großen Stadtteilsong

Der Riesenfriedhof in Hamburg als Metapher für die Vergänglichkeit: „Zurück aus Ohlsdorf“ ist ein trauriges Lied über eine traurige Gewissheit. Wir alle müssen sterben, wir alle müssen Abschied nehmen. Manchmal hat man den Eindruck, die abgrundtiefe Einsamkeit, die aus diesem Abschiedsstück leise tönt, offenbart sich gar nicht jedem. Ein Mann wird beerdigt, die Trauerfeier ist nicht sonderlich gut besucht, der Erzähler hat überlegt, ob er überhaupt kommen soll. Ist lange her, dass man gemeinsam um die Häuser gezogen ist. „Seine Mutter sagte später, dass er häufig von mir sprach“, berichtet das lyrische Ich. Anzunehmen, dass es selbst kaum an den jetzt Toten dachte. „Er sagte, als wir durch die Straßen gingen, dass er gerne mal nach Roskilde will, aber alleine macht’s keinen Spaß und keinen Sinn“: „Zurück aus Ohlsdorf“ handelt davon, dass jeder für sich allein stirbt, der eine aber alleiner als der andere. Ein Stadtteilsong? Aber nein, eigentlich gar nicht. Einer zum Liegenbleiben.

Wareika: „Teufelsbrück“ – Alsterwasser am Elbufer von modernen Kraftwerk-Erben

Auch Elektro bewegt die Musikstadt Hamburg, da darf der instrumentale Track „Teufelsbrück“ von Wareika hier nicht fehlen. Mit ihrem sowohl analogen als auch digitalen, experimentierfreudigen Sound etablierten sich Henrik Raabe, Florian Schirmacher und Jakob Seidensticker von 2008 an als moderne Erben von Kraftwerk. Mit „Teufelsbrück“ zeichnet das Hamburg-Berliner Trio sowohl geschäftiges Industrietreiben an den Terminals, rauschende Bugwellen, Alsterwasser am Elbufer, melodiöse Eleganz und arrogante Dissonanz kombiniert als sechs Minuten lange, treibend puckernde Elektro-Komposition. Ein akustischer Spagat, der im Titel genau auf der Grenze zwischen Othmarschen und Nienstedten tanzt.

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Captain Planet: „Rissen“ – kurz vor der Stadtgrenze gibt’s Emopunk

Captain Planet, seit 20 Jahren die erste Hamburger Emopunk-Adresse, die 2023 mit „Come On, Cat“ denkbar knapp an den Top Ten der Albumcharts vorbeischrammte, ist derart eng mit der Band Matula verbunden, dass beide nicht nur oft zusammen tourten und mehrere gemeinsame Split-Singles aufnahmen, sondern sich auch von Stadtteilen inspirieren ließen. Matula nahm „Hammerbrook“ und Captain Planet ging 2018 zum Hamburger Westende für „Rissen“: „Die Stelle auf dem Stadtplan, kurz vor der Grenze“. Dort will man alles loswerden, mal sagen, was man denkt. Wo man still steht und doch schon eine Runde weiter ist. Geht gut nach vorne, das Ding. Aber Vorsicht, nur ein Schritt zu viel und man ist in Wedel. Wedel!

Jayjay393: „Sasel“ – Underground-Rap mit Einzelhaus und fettem Konto

Ein Durchfahrtsstadtteil der Pendler mit endlosen, rechteckig angelegten Straßen, Einzel- und Doppelhäusern und einem Einkommen weit über dem Hamburger Durchschnitt: Das ist Sasel, nicht gerade eine Gegend, um sich als noch weitgehend unbekannter Underground-Straßenrapper entsprechend in Szene zu setzen. Aber JayJay393 steht zu seiner Hood, 50-mal erwähnt er „Sasel“ im gleichnamigen Track. „Jeder Bulle hier kennt mich, bin der einzige Schwarze hier, männlich, das ist doch wirklich bedenklich“, bilanziert er und stellt im Video den Hummer auf der Aral-Tankstelle am Volksdorfer Weg ab. Das kann man gern plakativ finden, aber Ohrwurm-Qualität hat „Sasel“ auf jeden Fall. Im Nachbar-Stadtteil Lemsahl-Mellingstedt wäre das schwieriger geworden.

„Auf St. Pauli brennt noch Licht, da ist noch lange noch nicht Schicht“: Jan Delay.
„Auf St. Pauli brennt noch Licht, da ist noch lange noch nicht Schicht“: Jan Delay. © picture alliance / Jens Niering | Jens Niering

Jan Delay: „St. Pauli“ – einer von vielen, vielen Songs über den berühmtesten Stadtteil Hamburgs

Lieder über St. Pauli, da findet man keinen Anfang und kein Ende, von Hans Albers und Freddy Quinn bis zu Die Sterne („Wenn dir St. Pauli auf den Geist fällt“), Bernd Begemann („Oh, St. Pauli ...“) oder Neonschwarz („St. Pauli“). Udo Lindenberg widmete der „Reeperbahn“ gleich zwei Lieder, und allein der lokale Fußballverein konnte 2010 auf der Fünf-CD-Box „St. Pauli Einhundert“ hundert Lieder von hundert Bands zusammentrommeln. Daher ist Jan Delays „St. Pauli“ hier auch nur stellvertretend genannt für die ganze musikalische Kiez-Bagage, „schlechte Zähne, gute Laune. Oberweite, Unterwelt. Rotes Licht und ’n blaues Auge.“ Und auch als kleines Trostpflaster, schließlich war „St. Pauli“ das einzige auffällige Lied auf dem Album „Hammer & Michel“ (2014), der „Rockplatte, auf die keiner Bock hatte“, wie Jan Delay später rappte.

Heinz Rudolf Kunze: „Hamburg um vier“ – nach Wandsbek mit Kalaschnikow

Tief im Osten, wenn die Grenzen zwischen Nacht und Tag verschwimmen, geht Heinz Rudolf in die Kneipe. Wandsbek, offenbar raues Pflaster. Wie ein deutscher Huey Lewis fetzt sein poppiger Rock’n‘Roll. Ein Typ macht Anstalten, sich auszuziehen. Königin der Nacht oder verkappter Exhibitionist? Das bleibt vage. So konkret wie ein Schlag in die Fresse hingegen der Refrain: „Hamburg um vier, Stunde aus Asphalt, Stunde der Gefügigkeit. Stunde der Gewalt, vier Uhr früh und kein Bier auf Hawaii, in Wandsbek hat man immer die Kalaschnikow dabei“. Weiß‘ Bescheid?

Dirk Darmstaedter, hier mit The Jeremy Days in Hannover.
Dirk Darmstaedter, hier mit The Jeremy Days in Hannover. © picture alliance / Geisler-Fotopress | Clemens Niehaus/Geisler-Fotopress

Hamburger Stadtteilsongs: Dirk Darmstaedter besingt Wilhelmsburg – die Welt zu Gast jenseits der Elbe

Der Hamburger ist, die Hamburgerin ist, Hafenstadt und so, global und weltläufig und international gepolt. Dirk Darmstaedter zum Beispiel, reiner Weltmann. Lebte als Kind eine Zeit in New Jersey. Machte viel später mit den Jeremy Days englischsprachigen Meisterpop. 2019 veröffentlichte er als gut gealterter Solokünstler ein Lied aus dem Transit: „Sivan from Brooklyn is staring at her space grey iPhone/looking for the Rua da Glória/while Josh is in an Uber heading downtown/he‘s gonna meet her at the airb‘n‘b/and it‘s raining in Lisbon“.

Da steckt viel Welt drin. Aber der Mann, der da singt (und im Musikvideo durch schmucklose, herzwärmende Straßen streunt), will das Unterwegssein beenden und nach Hause. Und deshalb heißt dieser hervorragende Song „Wilhelmsburg“ und geht so: „It‘s a normal Thursday evening in a tourist town,/but I‘m going back, I‘m going home to Wilhelmsburg/so put the kettle on and meet me at the front door, love/cause I‘m heading out I‘m diggin‘ deep down inside/I‘ve had enough of the global travellers“. Wilhelmsburg, das ist deine Heimweh-Hymne.