Der Sänger der Hamburger Band Lord of the Lost über die Entstehung des Finalsongs „Blood & Glitter“ und ein mögliches Desaster.

  • Lord of the Lost aus Hamburg treten für Deutschland beim ESC-Finale 2023 an
  • Sänger Chris Harms spricht im Interview über den Finalsong „Blood & Glitter“
  • Auch das mögliche Outfit für Liverpool verrät der charismatische Frontmann
  • Außerdem erstellt Harms eine Prognose für die Platzierung am 13. Mai

Hamburg. Versteckt unter einer Dialysestation in Dulsberg befindet sich eines der legendärsten Hamburger Tonstudios: In den „Chameleon Recording Studios“, 1961 als „Windrose Studios“ eröffnet, verliefen sich bereits Tina Turner, Udo Lindenberg, Mireille Mathieu, Eric Burdon, Dionne Warwick und die halbe deutsche Schlagerszene in den gemütlichen wie unübersichtlichen Gängen. Studios, Abmisch­räume, Wände voller Gold- und Platinscheiben: alles da.

Die Hamburger Band Lord of the Lost, Deutschlands Kandidat beim Eurovision Song Contest 2023 am 13. Mai in Liverpool, hat hier ein Hauptquartier – auch wenn der Song „Blood & Glitter“ wie das namensgleiche Album, im Dezember 2022 nach bereits drei Top-Ten-Platten das erste Nummer-eins-Album der Band, hauptsächlich in den Sonic Pump Studios in Helsinki aufgenommen wurde.

Chris Harms, Frontmann und Produzent von Lord of the Lost, gibt erst eine ausführliche Studiotour, bis er auf der Couch flankiert von Vintage-Gitarren und -Bässen noch mal die Vorgeschichte erzählt. Denn eigentlich ist die Band sonst eher dort anzutreffen, wo Schwarz statt Glitter dominiert: beim Wacken Open Air, beim M’Era Luna Festival oder im Vorprogramm der Metal-Titanen Iron Maiden.

Hamburger Abendblatt: Als ich Lord of the Lost 2010 beim Wacken Open Air erlebt habe, hätte ich im Leben nicht gedacht, den zukünftigen deutschen ESC-Kandidaten zu sehen. Was ist da schiefgelaufen?

Chris Harms: Wir haben uns schon seit vielen Jahren beworben, aus reiner Neugierde und dem spielerischen Wettbewerbsgedanken: Wir wollten schauen, wie weit wir kommen würden. Der Ehrgeiz dabei wurde durch Kindheitserinnerungen geweckt: Wir haben alle als Kind mit unseren Familien den ESC geschaut. Das waren die wenigen Abende im Jahr, an denen man länger wach bleiben durfte: „Wetten, dass ..?“, Fußball-Weltmeisterschaft, Eurovision Song Contest. Und wir saßen dann vor dem Gerät und haben uns vorgestellt, auf so einer Bühne zu stehen, auch wenn das niemals auch nur annähernd realistisch war für uns.

Lord of the Lost will den ESC am buntesten machen

Ihr erstes Konzert war 2009, und in den Jahren danach war Lord of the Lost noch nicht gerade ESC-tauglich, weder optisch noch musikalisch. Knüppelsuppe satt.

Harms: Wir haben es für 2023 wieder versucht, weil wir tatsächlich zufällig mit „Blood & Glitter“ perfekt in die ESC-Welt passen. Wir wollen als härteste und dunkelste Band den ESC am buntesten machen. Wir sind ja sonst wesentlich düsterer unterwegs, haben uns aber für das Album visuell dem frühen Glam-Rock verschrieben.

Da muss ich gleich fragen, wie Sie auf diesen irre hohen Stiefeln im offiziellen „Blood & Glitter“-Musikvideo laufen können?

Harms: Ganz gut eigentlich. Beim Vorentscheid hatte ich zwar Boxstiefel an, aber ich glaube in Liverpool werde ich es mit High Heels versuchen.

„Blood & Glitter“, sowohl das Album als auch die Single, erschienen bereits im Dezember 2022. Wurde der Song damals mit dem Blick auf den Eurovision Song Contest geschrieben?

Harms: Als ich den Song zusammen mit Rupert Keplinger, dem Bassisten von Eisbrecher, geschrieben habe, haben wir uns wirklich versucht vorzustellen, wie ein Lied in drei Minuten einem Publikum wie dem beim ESC die ganze Bandbreite der Band präsentieren könnte.

Chris Harms: „Für manche sind wir eben Szeneverräter“

Dynamik, Härte, Romantik und ein bisschen Popoklaps.

Harms: Genau, dazu ein bisschen 80er-Jahre, ein bisschen sexy, ein bisschen Party, trotzdem ein ernstes Thema. Sogar die Lichtshow und die Bühnenaction hatten wir schon vor dem inneren Auge. Das heißt, wir hatten einen ESC-Song geschrieben noch ohne die Idee, den überhaupt jemals einzureichen.

Deutschlands Bilanz bei ESC ist seit zehn Jahren – mit der Ausnahme Michael Schulte 2018 – ein absolutes Desaster. Ist Ihnen das gleichgültig?

Majestät wünschen viel Glück: König Charles III. und Lord Of The Lost bei dem von der britischen Botschaft ausgerichteten feierlichen Empfang im Hamburger Schuppen 52.
Majestät wünschen viel Glück: König Charles III. und Lord Of The Lost bei dem von der britischen Botschaft ausgerichteten feierlichen Empfang im Hamburger Schuppen 52. © dpa | Jonas Walzberg

Harms: Es muss uns völlig gleichgültig sein, denn die Masse an Hatern, an den typischen Meckerdeutschen, wird riesig sein. Und wenn man als Band polarisiert, wenn man aus einem Subgenre kommt mit einem Aussehen, das auffällt, dann wird die Menge der Hater immer größer sein als die der Fans, selbst wenn wir gut abschneiden. Das muss einem am Arsch vorbeigehen, aber das kann man lernen.

Lord of the Lost polarisiert ja auch seit Anbeginn im eigenem Subgenre. Aber die Vergangenheit hat gezeigt, dass Europas Rock-, Goth- und Metalfans – und nicht nur die - beim ESC gern ihre Scheuklappen ablegen und sich hinter Bands wie Lordi oder
Måneskin vereinen.

Harms: Das war schön zu sehen, ja. Deshalb sagen wir auch immer: Wir machen grob gesagt Alternative Music. Wir sind nicht typisch Metal, wir sind nicht typisch Gothic, und für manche sind wir eben Szeneverräter, weil wir nie richtig reingepasst haben. Aber ich spüre, dass sich jetzt viele Subgenre-Fans zusammenschließen und mitfiebern.

Chris Harms: „Ich sehe Farben in Tönen oder Harmonien“

Sie haben eine enorme Bandbreite als Sänger, Gitarrist, Cellist, Songschreiber und Produzent und überhaupt keine Berührungsängste bei Zusammenarbeiten, von Powerwolf über Joachim Witt und Ferris bis zu Nino de Angelo. Sie treten innerhalb von drei Monaten beim ESC und beim Wacken Open Air auf. Sind sie ein Synästhetiker, können Sie Musik, ganz egal welche, in Farben sehen oder schmecken?

Harms: Das bin ich tatsächlich. Ich sehe Farben in Tönen oder Harmonien, aber das beeinflusst meine Bandbreite nicht. Ich bin mit Popmusik und Klassik aufgewachsen und generell immer aufgeschlossen gewesen und bewerte einen Song nie nach seinem Genre oder Interpreten, oder danach, ob er „kommerziell“ oder „underground“ ist, sondern was er mir für ein Gefühl gibt.

Aber mit „Blood & Glitter“ das erste Mal an der Spitze der Albumcharts zu landen, das ist schon etwas Besonderes, oder?

Harms: Ja, das ist es. Unter dem Strich waren wir nur eine Woche bei den Verkäufen die erfolgreichste Band Deutschlands, aber trotzdem ist man da schon stolz drauf.

Hamburg hat ja auch im Düsterklang eine Geschichte seit dem legendären Auftritt der Sisters of Mercy 1983 im Kir. Hat die Stadt als Inspirationsquelle Einfluss auf Sie?

Harms: Überhaupt nicht. Ich glaube nicht, dass wir in einer ganz speziellen Hamburger Musikkultur und -Geschichte leben, die uns schöpferische Kraft für Songs gibt. Es macht zwar Spaß, sich vorzustellen, wie die Beatles nach Hamburg kamen und wir jetzt nach Liverpool fahren, aber deshalb habe ich noch keinen Song geschrieben. Wobei: Das kann noch passieren, es ist ja ein großes Abenteuer, das vor uns liegt.

Lord of the Lost: „Unser Ziel ist, mindestens Letzter zu werden“

Was fällt Ihnen auf Anhieb ein zu: ABBA?

Harms: „Waterloo“ und die Plattensammlung meiner Eltern. ABBA war neben den Beatles und Stones die erste Musik, die ich als Kind gehört habe.

Céline Dion?

Harms: Paris. Kurz vor meinem Abitur war ich dort, um Französisch zu lernen, und
habe im Kino „Titanic“ gesehen. „Je suis
le maître du monde!“

Nicole?

Harms: „Forrest Gump“. Ich weiß nicht warum, aber bei „Ein bisschen Frieden“ muss ich immer an die Hippiezeit-Szenen in „Forrest Gump“ denken.

Lordi?

Harms: 2013 waren wir mit Lordi und Subway to Sally auf Tour. Als ich mich für die erste Show geschminkt habe, stand neben mir ein kleiner Mann mit finnischem Akzent und fragte mich nach meiner Make-up-Marke. Dann verschwand er und kam dann 30 Zentimeter höher und in voller Monstermontur zurück: Mr. Lordi.

Lena?

Harms: Wir nehmen nach diesem Interview hier für die Eurovision-Kanäle eine Coverversion von „Satellite“ auf, mit Klavier und Akustikgitarre. Ich mag den Song sehr, nicht in der damaligen Umsetzung, die war mir zu schnell, zu hoppelig, aber im Kern ist der wirklich toll.

Und wie ist die Prognose für Lord of the Lost in Liverpool?

Harms: Unser Ziel ist, mindestens Letzter zu werden, und ich glaube, das schaffen wir.