Hamburg. Das neue Album des Hamburger Pop-Exports hat seine Momente. Und zwischen Bergedorf und Pinneberg steppt der Bär.
Das ist immer noch Party irgendwie, dieses neue Album vom Exzessgeschwader Deichkind. „Alle raven von Malle bis Bottrop“, heißt es einmal. Und dann in „Mehr davon“, dem Song gewordenen Ausgeh-Befehl, gibt es die Ansage von König Boris: „Von Pinneberg bis Bergedorf heißt es party all night long“. Ja, Fettes Brot sind bei „Neues vom Dauerzustand“ dabei, obwohl sie erklärtermaßen nicht „Mehr davon“ wollen. Die Deichkind-Unterstützung ist Teil der Abschiedshandlungen. Zu denen gehört auch das gerade erschienene Best-of-Album.
Deichkind machen dagegen einfach weiter. Pimpen den Zeitgeist wieder mit schlauen Wortsetzungen. Auf dem neuen Album nennt Hamburgs wichtigster Popexport zum Beispiel Selbsterschlauung durch Instant-Internet-Inanspruchnahme „Gefährliches Halbgoogeln“.
Deichkind und die Kurzstrecken der Wissensgesellschaft
Das wird nun umstandslos in den rhetorischen Alltag integriert. Kann schon sein, dass bereits jemand vorher auf den Clou kam, die Kurzstrecken der Wissensgesellschaft als halbes Googeln zu bezeichnen. Mit Deichkind wird’s nun unvermeidlich allgemeiner Sprachgebrauch. So wie, klar, „Leider geil“ vorher.
Deichkind sind seit einem Vierteljahrhundert die mit dem Megafon für memorable Lines in der Hand, die Kultur- und Sprachkritiker für jedes Fest. Wäre der gute, alte Karl Kraus, der böhmische Sprachkrieger mit Messerschärfe, in die Disco gegangen, er wäre fraglos zu Deichkind durchgedreht.
Deichkind: „Neues vom Dauerzustand“
Zeitgeist-Prägen mit deutlich hedonistischem Einschlag, dabei immer in der fröhlichen Ironiehölle unterwegs – Willkommen bei der Gaga-Guerilla gilt immer noch. Auf dem achten Album „Neues vom Ausnahmezustand“ funktioniert das Programm der einst in Bergedorf gegründeten HipHop-Elektro-Vereinigung erstaunlicherweise so, als wären Philipp Grütering (Bühnenname: Kryptik Joe), Henning Besser (DJ Phono, La Perla) und Sebastian „Porky“ Dürre nicht die bald 50-Jährigen, die sie sind.
Gibt es eigentlich eine Pop-Unternehmung, bei der man gespannter darauf ist, wie die Transformation zur wahren Altersreife vonstatten gehen wird? Bis wann kann man eigentlich noch Tierkostüme auf der Bühne tragen? Und wie groß wäre die Enttäuschung, täten Deichkind es bei ihren speziellen Shows nicht mehr?
Deichkind: Konzert am 26. August auf der Trabrennbahn
Die Betrachtung der 2023er-Version von Deichkind muss einstweilen, ehe das Trio unter anderem am 26. August auf der Trabrennbahn zum Giganten-Open-Air antritt, vollumfänglich den neuen Songs gelten. Erdacht und komponiert wurden sie in pandemischen Zuständen. Die Formation nutzte die erzwungene Totalpause, um den Nachfolger des 2019 erschienenen Werks „Wer sagt denn das?“ anzuschieben. Und die Promophase fürs jetzt ganz frische Album zur Installation eines neuen Band-Mythos. Eine „Themensammlungsreise“ ins Elbsandsteingebirge hat es laut Deichkind also gegeben, als der Lockdown tote Kulturveranstaltungshose war.
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Was sich dort zu einem typischen Deichkind-Werk verdichtete, illustrierte bereits die vor Monaten veröffentlichte Single „In der Natur“. Dort gerät der Hipster in die Disteln, ein gefundenes Assoziationsfutter für Selbstbeobachter und Chronisten der eigenen soziologischen Bezugsgruppe. Auf was man halt so kommt, wenn man sich zur Klausur in die Sächsische Schweiz zurückgezogen hat: „In der Natur/Alles voll Gekrabbel und Gestrüpp/In der Natur/Da friert es dir am Steiß, wenn du dich bückst/In der Natur/Wirst du ganz langsam verrückt/Und plötzlich wünscht du dich so sehr zum Hermannplatz zurück“.
Deichkind: Agenten im Reich zwischen Reflexion und Blödsinn
Das ist, mal wieder, wahnsinnig komisch, und es entspricht der Logik des Deichkind-Schaffens, dass hier kein ganz brandheißes Thema angefasst wird. Gesellschaftsbetrachtung und Satire, die soziale Typologie der Gegenwart: Da sind Deichkind immer verspult genug, um nicht stumpf mit Moral zu kommen. Aber gezielt wunde Punkte treffen? Geht leicht: „Kinosterben beklagen, aber dann schön Netflix gucken“ und „Autokorso gegen zu hohe Spritpreise“, das ist ganz schön nah an der Realität und nie Satire.
„Merkste selber“ ist das Stück über die inneren Widersprüche des modernen Menschen, „Kids in meinem Alter“ das über, ja: wen eigentlich? Wahllos herauspickte Lines für Lebensentwürfe, sie alle haben etwas mit Vermeiden von Erwachsensein zu tun und klingen doch ganz schön nach Adult-Neurosen: „Kids in meinem Alter gucken nach atemberaubenden Gartenlauben/Kids in meinem Alter haben in eurem Alter eine Wohnung für 500 Euro bekommen/Kiffen mit Cis-Männern/Suchen die Challenge/Wählen grün. GOG,GOG,GOG!/Denken sie sind eine ganz besondere Blume in Gottes Garten/Rasieren durch Aldi“.
Wo ist die Wahrheit im Nonsense versteckt
Deichkind ist eine Spaßangelegenheit, bei der man sich konstant fragt, wo die Wahrheit im Nonsense steckt. Sie gönnt sich als Zwischenspiele des großen Spiels mit Realität, HipHop, Beat und derben Synthesizern Slacker-Laber-Flashs wie „Kein Bock“ und bringt dabei das Kunststück fertig, das eigentlich Gemeinte immer so unheimlich angenehm zu verrätseln. Kein Bock ist ein Gefühl, keine Wissenschaft. Als Agenten im Reich zwischen Oberfläche, Tiefgang, Reflexion und Blödsinn bleiben Deichkind sowieso unabkömmlich.