Hamburg. Vigdis Hjorth ist in Norwegen längst ein Star. Ihr wichtigstes Buch „Ein falsches Wort“ soll auch hier nun endlich ein Hit werden.
Für Selbstentblößung und familiäre Offenlegungen ist die norwegische Literatur seit Karl Ove Knausgård bekannt. Es gibt mit Vigdis Hjorth, geboren 1959 in Oslo, eine Autorin, die es mit dem extremen „Min kamp“-Autor aber schon lange aufnehmen kann. Mehr als zwei Dutzend Romane hat Hjorth geschrieben, sie handeln oft von familiären Konflikten. Es sind ihre eigenen familiären Konflikte. Hjorths Romane sind so radikal, weil sie autobiografisch sind. Jetzt soll die Autorin auch hierzulande endlich im großen Stil entdeckt werden. Was für eine kleine Kuriosität sorgt: Der große S. Fischer-Verlag veröffentlicht jetzt mit „Ein falsches Wort“ (im Original 2016) einen Roman erneut, der erst 2019 erstmals auf Deutsch unter dem Titel „Bergljots Familie“ herausgebracht wurde – im kleinen Hamburger Osburg-Verlag.
Bei Fischer ist überdies erst vor wenigen Monaten „Die Wahrheiten meiner Mutter“ (im Original 2020) erschienen, ein Roman, den Hjorth damals auf der Langen Nacht der Literatur in Hamburg vorstellte. Er handelt von der Rückkehr einer Frau nach Hause und der von ihr erwünschten, schwierigen Wiederannäherung an ihre Mutter: Eine selbst schon alte Frau sucht eine Form von familiär-historischer Gerechtigkeit. Für den eigenen Seelenfrieden. Es gab ein fatales Erlebnis in der Kindheit der Erzählerin, der Vater ist tot jetzt, die Mutter bald vermutlich auch.
Skandinavische Literatur: Wie weit darf autobiografisches Schreiben gehen?
„Ein falsches Wort“ ist nun der Zwilling, der noch lauter tönende Resonanzraum jenes anderen Buchs. In Norwegen erschien „Ein falsches Wort“, der hierzulande jetzt nach „Die Wahrheiten meiner Mutter“ veröffentlichte Roman, übrigens vor diesem. Würde man eine bestimmte Lektüre-Reihenfolge empfehlen? Eigentlich nicht. Aber „Ein falsches Wort“ ist wohl der wichtigere der beiden Romane. Auch weil er es war, der das Thema „Literarisiertes Familiendrama aus der Realwelt“ nach dem Knausgård-Skandal in Skandinavien erneut groß in die Öffentlichkeit brachte und für neuerlichen Wirbel sorgte. Denn Helga Hjorth, die jüngere Schwester von Vigdis Horth, eine Juristin, schrieb mit „Freier Wille“ tatsächlich einen Gegenroman zu „Ein falsches Wort“. Wie schon bei Knausgård war die Frage, wie weit autobiografisches Schreiben gehen darf, ein bestimmendes Thema der allgemeinen Debatte.
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Dieser reale, wahre oder wahrhaftige Stoff – Vigdis Hjorth bedient sich in ihrem Werk gerne in der eigenen Biografie – ist zunächst einmal eine fesselnde Lektüre. In „Ein falsches Wort“ berichtet Vigdis Hjorths Ich-Erzählerin am Anfang von einem nicht ganz untypischen Erbschaftsstreit. Die zwei Hütten am Fjord, die der Familie gehören, sollen laut Testament an die beiden jüngeren Töchter gehen. Der Sohn Bård und Bergljot, die Erzählerin, werden übergangen. Bård hat ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater; vor allem aber ist es Bergljot, die aus ihrer Kindheit ein schweres Trauma davongetragen hat.
Neues Buch: Stell dir vor, alle in der Familie sagen, du lügst sowieso
Sie hat sich deswegen über Jahrzehnte von ihren Eltern ferngehalten. Nun ist aber der Vater gestorben, und die Wunden von einst brechen neu auf. Eine Psychoanalyse hob einst die Geheimnisse der Kindheit vom Grund des Vergessens; Bergljots Bericht über ein sich jahrzehntelang erstreckendes Familiendrama kommt immer wieder auf psychologische und seelische Vorgänge zurück. Bergljot analysiert das Verhalten ihrer Eltern und Geschwister. Dieser einstweilen rationale Zugang zu den Vorgängen in der Familie ist eine Art Schritt ans rettende Ufer.
Denn Bergljot droht in dem Meer aus Missbrauch, Selbsterkenntnis, Distanzierung und Verleugnung unterzugehen. Stell dir vor, alle in der Familie sagen, du lügst sowieso, da war nie was, das bildest du dir ein: Die Erzählerin kämpft permanent um Anerkennung ihres Leids. Die Heile-Familie-Narrative sowohl von der Mutter als auch den jüngeren Schwestern Astrid und Åsa würden allerdings durch den späten Glauben an das von Bergljot erlittene Leid zerstört werden. Mutter und Tochter führen auch in „Ein falsches Wort“ einen Stellungskrieg, es ist alles ein großes Drama.
Skandinavische Literatur: Vieles erinnert an Thomas Vinterbergs Film „Das Fest“
Dieses Drama, erweitert noch um den ausweglos geführten Konflikt zwischen den Schwestern Bergljot und Astrid, nimmt fast 400 Seiten ein. Der Kampf um die Wahrheit wird dabei quasi auf jeder Seite neu ausgefochten; der Roman referiert Dialoge, E-Mails, Aufeinandertreffen der im Grunde verfeindeten Parteien. „Ein falsches Wort“ ist Penetranz-Literatur, ein intensives Kreisen, eine Selbsttherapie in vielen Sätzen. Als Lesender wird man Zeuge des doppelten Scheiterns einer Familie, in der nach dem Verbrechen des Vaters das Verschweigen durch die Mutter kommt.
Thomas Vinterbergs Film „Das Fest“ erwähnt Vigdis Hjorth übrigens mehrere Male. Die Verwandtschaft der Stoffe ist leicht erkennbar. Was Hjorths Roman unter anderem vom „Dogma“-Werk des Dänen Winterberg unterscheidet, ist die autofiktionale Erzählweise von Ersterem. Dass sie sich und ihre Familie so unverstellt zu Literatur macht, mag Vigdis Hjorth zu einer umstrittenen Autorin gemacht haben. Ihre Literatur erhält dadurch indes auch einige Zusätze, die sie vor allem eines machen: interessanter, größer auf eine Art, komplizierter.