Hamburg. Mit dem Buch „Gomorrha“ wurde Roberto Saviano weltberühmt. Jetzt widmet sich der Mann, der unter Polizeischutz steht, den Mafiajägern.

Als die Todesnachricht am 23. Mai 1992 um die Welt ging, war niemand überrascht. Schon gar nicht in dem Teil der Welt, in dem Todesnachrichten dieser Art an der Tagesordnung waren. Am 23. Mai 1992 explodierten 500 Kilogramm Sprengstoff unter einer Autobahn in Sizilien. Fünf Menschen starben. Der Jurist und Mafiajäger Giovanni Falcone, seine Frau Francesca und drei Leibwächter. Falcone gilt seitdem als Ikone des Kampfs gegen das Verbrechen, ja: als Märtyrer.

Und ist da längst nicht der Einzige. Die Mafia mordete einerseits im Inner Circle, weil Verbrecher einander gerne umbringen, wenn es ums Geschäft geht. Wenn der Staat gegen sie zu Felde zieht, geht es für die Gangster andererseits aber darum, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen, nicht den Gang ins Gefängnis antreten zu müssen. Im Italien der 80er- und 90er-Jahre kannte der Überlebenswille der Mafia keine Grenze, überzogen Mafiosi das Land mit Gewalt und Terror. Wer ihnen in die Quere kam, ob Politiker, Staatsanwalt oder Polizist, lebte in ständiger Todesgefahr.

„Falcone“ von Roberto Saviano: Eine Hommage an die Helden des Kampfes gegen die Mafia

Von dieser Zeit, vom Kampf gegen das organisierte Verbrechen erzählt nun der Schriftsteller Roberto Saviano in seinem neuen Buch „Falcone“. Es ist eine ins Allgemeine gewendete Hommage an das Eintreten für das Recht, für die Gesetze. Für den Glauben daran, das Böse besiegen zu können. „Falcone“ ist eine Heldengeschichte. Mit dem prominentesten Mordopfer der Mafia erzählt Saviano gleichzeitig von allen anderen Toten. Und von sich, dem unter ständigem Polizeischutz lebenden Autor, der nie lange an einem Ort lebt, seit 2006 „Gomorrha“ erschien, sein Buch über die Camorra in Neapel.

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Denn die permanente persönliche Gefahr eint den 1979 in Neapel geborenen Saviano mit den Männern, die er nun in „Falcone“ porträtiert. Männer wie Paolo Borsellino, einen Jugendfreund Falcones, der nur zwei Monate nach diesem ermordet wurde. Als Lesender ist man oft nah dran an den Anti-Mafia-Akteuren, also auch an diesem Juristen-Gespann, das gemeinsam dem Verbrechen auf der Spur war. Weil „Falcone“ wieder nach der Saviano-Erfolgsformel geschrieben ist, jenem mit „Gomorrha“ (zehn Millionen verkaufte Exemplare, Film, Serie) etablierten romanhaften Doku-Stil.

Roberto Saviano wurde 2006 mit „Gomorrha“ weltberühmt.
Roberto Saviano wurde 2006 mit „Gomorrha“ weltberühmt. © picture alliance / Kontrolab | Salvatore Laporta / ipa-agency.n

Heißt: In „Falcone“, dem Zeitzeugnis europäischer Kriminal- und Justizgeschichte, werden die historischen Informationen und Vorgänge, die der Rechercheur Saviano in Archiven gefunden hat, mit den frei erfundenen Szenen, die der Romancier imaginiert hat, zu oft brillanter True-Crime-Fiction verwebt. In diesem Buch ist das meiste ausgedacht und doch alles wahr.

Roberto Savianos neues Buch „Falcone“: Im Fadenkreuz der Mafiakiller

Dabei übt sich Saviano, der auch auf einen Fundus von bereits Falcone gewidmeten Filmen und Büchern zurückgreifen konnte, in der Kunst der literarischen Einfühlung. Weite Strecken des 540 Seiten langen Werks drehen sich um den juristischen Apparat, in dem Falcone Karriere machte. In vielen Kapiteln geht es um die Machtkämpfe, hinter denen sich auch ein Kuschen vor den Clans verbarg. Die Wirtschaft in Süditalien war eng mit der Mafia verflochten, was für manche Staatsbediensteten ein hinreichendes Argument war, die Paten und ihre Geschäfte nicht anzutasten.

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Noch mehr allerdings war es die Angst, ins Fadenkreuz der Mafia-Killer zu geraten. Auch die Morde werden in „Falcone“ szenisch beschrieben, es sind die Thriller-Anteile der Handlung. Man hat diese todbringende „Action“ als Lesender so vor Augen, als schaue man „Gomorrha“ oder „Suburra“: Motorräder, die neben dem Auto anhalten, Schüsse, berstendes Glas, Tod. Die Escorte aus Sicherheitskräften, die die obersten Ermittler gegen die Mafia stets umgab, nutzte diesen nichts.

Im Gegenteil, sie brachte ihnen teilweise eher Kritik ein. Man warf Falcone und den Seinen oft vor, geltungssüchtig zu sein. Die Prominenz machte sie auch ihren Nachbarn verdächtig. Aus Sorge, bei einem Anschlag zum Kollateralschaden zu werden. Savianos Interesse an der menschlichen Seite Falcones ist groß: Wie mochte der aus Palermo gebürtige Mann privat mit der Rolle, die er für die Öffentlichkeit spielen musste, mit der Skepsis, die ihm eben auch begegnete, umgegangen sein?

„Falcone“ von Roberto Saviano: Die Mafia hatte keinerlei Scheu vor Gewalt

Savianos Buch zeichnet das Bild einer buchstäblich explosiven Episode der Geschichte seines Landes. Dabei richtet er seinen Blick auch auf die andere Seite, diejenige, die in den erwähnten TV-Serien und natürlich im „Paten“ romantisiert wird. Einmal etwa lauscht man einem Dialog des in Südamerika untergekommenen Mafiosos Tommaso Buscetta, den seine Gegner in Italien nicht erwischten (dafür brachten sie weite Teile seiner Familie um) mit seiner Frau. Buscetta wird später in großen Prozessen als Kronzeuge auftreten. Jetzt erzählt er seiner Frau erst einmal von den harten Sitten daheim, der Ruchlosigkeit des mächtigen Toto Riina; einer Mafia-Generation, die keinerlei Scheu vor Gewalt mehr kennt.

Der Jurist und prominenteste Mafia-Jäger Italiens, Giovanni Falcone (undatierte Aufnahme), wird in Roberto Savianos neuem Buch porträtiert.
Der Jurist und prominenteste Mafia-Jäger Italiens, Giovanni Falcone (undatierte Aufnahme), wird in Roberto Savianos neuem Buch porträtiert. © picture-alliance / dpa | picture alliance

Das ist der Trick Savianos: Er erzählt mit den Menschen von der Mafia. Er stellt sie in Szenen und Kulissen auf, er vergegenwärtigt das Geschehen mit den Mitteln eines Schriftstellers. Was nichts daran ändert, dass die Dialoge gerade dann, wenn es um die Vorgänge in den Behörden geht, um den von Falcone betriebenen Aufbau der Anti-Mafia-Einheit, oft auch überfrachtet sind von diesem Behördengeschehen. Savianos Panorama hauptsächlich der 80er-Jahre operiert in Zeitsprüngen und fokussiert dabei auf unzählige Verbrechensbekämpfer; und auch auf viele, viele Verbrecher. Es geht Saviano ersichtlich darum, allen Ermittlern gegen die Mafia eine Art Denkmal zu setzen. Das größte bekommt Falcone selbst.

Literarisches Material ist dabei, wie kann es anders sein, auch das Milieu der Mafia selbst. Toto Riina, genannt „der Kurze“ oder „der Boss der Bosse“, taucht gleich in der ersten Szene von „Falcone“ auf. Da explodiert, es sind die Jahre des Zweiten Weltkriegs, das Projektil eines Ami-Blindgängers, das Riinas Vater zu Geld machen wollte. Dieser war immer auf der Suche nach Bomben. Er stirbt, zwei seiner Söhne auch. Nur Toto nicht. Wer Augenzeuge einer solchen Katastrophe wird, der ist später im Leben hart und kennt keinerlei Grenzen, das ist die Aussage, die Saviano hier trifft. Toto Riina gab 1992 den Auftrag, Giovanni Falcone zu ermorden. Mit dem Schlüsselereignis von Riinas Leben dieses Buch zu beginnen, ist also gleichsam eine dramaturgische Entscheidung. Das Buch endet mit Falcones Tod.

Giovanni Falcone: Trotz allem ein Einzelkämpfer

Dass dieser Falcone trotz vieler Weggefährten ein Einzelgänger blieb, wird in diesem Buch schmerzhaft deutlich. Er war nie unumstritten, wie überhaupt der Kampf gegen die Mafia immer von merkwürdiger und doch bezeichnender Uneinigkeit geprägt war. Der Text stellt einige Male den Zynismus und die grausame Staatsverachtung der Mafia heraus. Vor allem handelt er immer wieder von der Glocke aus düsterer Ahnung und Todesgewissheit, die über den Mafiajägern hing. Sie wussten, dass sie früher oder später sterben würden. Falcone hatte keine Kinder, er wollte, so sagt es dieser Text sehr deutlich, niemanden zum Waisen oder Halbwaisen machen.

Der Oberstaatsanwalt Antonino Scopelliti wurde 1991 umgebracht. Saviano zeigt ihn, bevor er tatsächlich in seinem BMW erschossen wird, als „Verrückten“ am Strand. Er rennt durch den Sand, will alle anderen Badenden wegschicken; in einer Tüte vermutet er eine Bombe, die ihm gilt. Dieses eine Mal noch sieht er lediglich Gespenster, die Menschen amüsieren sich über ihn.

Das Buchcover von Roberto Savianos „Falcone“, übersetzt aus dem Italienischen von Annette Kopetzki, Hanser, 540 S., 32 Euro.
Das Buchcover von Roberto Savianos „Falcone“, übersetzt aus dem Italienischen von Annette Kopetzki, Hanser, 540 S., 32 Euro. © Hanser | Hanser

Roberto Saviano: „Falcone“ ist ein Buch über die Angst

Roberto Saviano, der in Interviews unumwunden zugibt, dass er bereut, seinen Welterfolg „Gomorrha“ geschrieben zu haben („Das Buch hat mein Leben zerstört“) erzählt in „Falcone“ über sich selbst, die ganze Zeit eigentlich. „Falcone“ ist ein Buch über die Angst. Die Angst spielt nicht, schreibt Saviano: „Sie steigt wie die Flut und überschwemmt das Gehirn mit einer dunklen, ätzenden Flüssigkeit. Sie frisst an den Zellen, korrodiert die Nervenknoten, zermürbt ihren Wirt, bis er neutralisiert ist.

Sie ernährt sich von glücklichen Momenten, wie einem Tag am Meer in Badehose und Latschen.“ Gierig sei die Angst aber nicht: „Sie weiß, wie sie vorgehen muss. Sie weiß, wie sie stärkere Gegner besiegen kann: Sie lässt sich von Gesten fröhlicher Ausgelassenheit verspotten, wartet ab, bis diese Momente der Sorglosigkeit aus der Deckung kommen, stolz und siegesgewiss herumlaufen, um ihnen Hiebe gegen die Beine zu verpassen.“