Hamburg. Said Etris Hashemi überlebte den Anschlag – anders als sein Bruder. In Hamburger Verlag erscheint sein Bericht über die Zeit danach.
Da war diese Sache mit dem Notausgang der Arena Bar in Hanau. Er war verschlossen, als am 19. Februar 2020 ein 43-jähriger Mann mit rechtsradikalem Weltbild fünf Menschen in dieser Bar tötete. Insgesamt starben in der Nacht neun Menschen mit Migrationshintergrund.
Wer die Berichterstattung verfolgte, dem ist bekannt, dass es Streit und Gutachten um diesen Notausgang gab. Er war wohl verschlossen, schon länger, möglicherweise hatte mal ein Polizist den Betreiber des Lokals dazu angehalten. Die Polizei führte in der Arena Bar regelmäßig Razzien durch.
Hanau-Anschlag: Opfer Said Etris Hashemi bringt Buch über Zeit nach Nazi-Attentat heraus
Letztgültig geklärt wurde der Tatbestand nie. Aber es ist wichtig, dass die Opfer und die Opferangehörigen zunächst für einen Untersuchungsausschuss und in diesem dann für die Klärung der Umstände des Anschlags kämpften. Und es ist wichtig, dass der Hanauer Said Etris Hashemi nun ein Buch auch über genau diesen Untersuchungsausschuss geschrieben hat und damit über das, was nicht allein die Opferfamilien als Versäumnisse sehen, die viel über die Vorurteile gegenüber Deutschen mit Migrationshintergrund verraten.
„Der Tag, an dem ich sterben sollte: Wie der Terror in Hanau mein Leben für immer verändert hat“ heißt Hashemis eindringlicher und erschütternder Bericht, es erscheint im Hamburger Verlag Hoffmann und Campe. Es ist, wie der Aufstieg der AfD in Deutschland das in Teilen rechtsextreme Weltbild der Partei und die zivilbürgerliche Reaktion in den vergangenen Wochen zeigen: ein Buch der Stunde.
Said Etris Hashemis „Der Tag, an dem ich sterben sollte“: Ein schmerzhafter Bericht aus Dunkeldeutschland
Fragwürdige Zustände und Entscheidungen in der Tatnacht, was die Polizei und die Behörden angeht, werden von Hashemi in seinem Buch mit Nachdruck angesprochen: Es sind die Fehler, an denen man sich als Betroffener festhalten und aus guten Gründen festbeißen kann. Auch um künftigen Schaden abzuwenden. Genauso bedeutsam sind in Said Etris Hashemis persönlichem, stellenweise zornigem Bericht die moralischen Unzulänglichkeiten der Behörden. Hashemi überlebte den Anschlag schwer verletzt, sein Bruder Said Esar starb wie etliche seiner Freunde.
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Hinter dem mindestens unsensiblen, ungeschickten Verhalten der Behörden vermutet Hashemi wie die Opferfamilien tief sitzendere Probleme. Die Kleidung eines Todesopfers, die den falschen Angehörigen übereignet werden, die Nicht-Rückgabe des Handys eines Ermordeten, eine Gefährderansprache an die Überlebenden und Hinterbliebenen, als der weltanschaulich kompromittierte Vater des Täters in sein Wohnhaus zurückkehrt und nicht etwa umgekehrt: Hashemi argumentiert mit der klaren Intention, hinter dem Verhalten am Ende auch versteckten Alltagsrassismus zu brandmarken.
Said Etris Hashemi: Sein Bruder starb bei dem Attentat von Hanau
„Wir leben unter einer Schicht von Vorurteilen der anderen“, schreibt Hashemi einmal. Sein Buch ist das Zeugnis eines Mannes, der mit vier Geschwistern im migrantisch geprägten Hanauer Stadtteil Kesselstadt aufwuchs und äußerlich immer schon die „dunklere“ Version eines Mitbürgers war; und für manche deswegen eben kein Deutscher.
Geboren wurde er 1996 als Sohn afghanischer Geflüchteter. Aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen, von den drei größeren Geschwistern schläft immer eines auf einer Matratze auf dem Boden. Der Vater arbeitet hart; Said Etris Hashemi betrachtet nach dem Tag, der sein Leben tatsächlich für immer veränderte, auch die Weltsicht dieses Vaters anders als vorher. Aber sein Vorwurf zielt dennoch nie auf diesen Vater, der sich spätestens nach dem Tod des einen Sohns und dem Beinahtod des anderen nun von „anderen Ausländern“ abgrenzen will. Als der Hanauer Oberbürgermeister seine Familie besucht, teilt der Vater diesem mit, er habe 40 Jahre verlässlich gearbeitet, sei nie krank gewesen.
Dieser Bericht ist schmerzhaft, wenn er von der Tatnacht erzählt, vom Angriff auf das Leben des im übrigen wortmächtigen Autors, der den Geschehnissen und seinen Gedanken plastisch Ausdruck verleiht. Wenn er davon erzählt, wie sein Leben gerade in die richtige Richtung steuerte, als er erfolgreich eine Ausbildung bei einer Versicherung absolvierte – und dann ein rechtsextremer Mann alles zunichtemachte. Wenn er mitteilt, dass sein ermordeter Bruder sich gerade eine neue Tätowierung hatte stechen lassen, die Postleitzahl seiner Heimat Hanau. Wenn er schildert, wie er selbst sich von der Intensivstation ins Leben zurückkämpfen musste, auch rein körperlich, aber vor allem mental.
Er ist aber, für uns als Mehrheitsgesellschaft, besonders schmerzhaft, wenn er die lebenslangen Nöte seiner Clique schildert: „Was wir in den Augen der Deutschen sahen, wenn uns etwa eine alte Dame auf der Straße entgegenkam und sofort hektische Gedanken durch unsere schwarzhaarigen Köpfe jagten. ‚Scheiße, was mach ich jetzt? Soll ich grüßen? Oder macht ihr genau das Angst? Was soll ich machen, damit sie nicht denkt, dass ich ein krimineller Asi bin?‘“ Eine Kindheitsgeschichte vergaß Hashemi nie: Ein von ihm in den Kindergarten mitgebrachtes Spielzeug durfte er nicht wieder mit nach Hause nehmen, man glaubte ihm nicht, dass es seins war.
Seine Sensoren für Benachteiligung waren also früh aktiviert. Die Sensoren sprangen auch im Untersuchungsausschuss an, an dessen Sitzungen Hashemi regelmäßig teilnahm. Der hessische Innenminister schaute bei seinem Auftritt nicht einmal in Richtung der Opfer und Opferfamilien. Wer so unmittelbar betroffen ist von dem Verbrechen des 19. Februar 2020 wie Hashemi, dem fällt so etwas auf. „Immer ein ‚ihr‘, nie Teil des ‚wir‘“, so sei das mit ihm und anderen Migranten, schreibt Hashemi.
Der Text lebt von der Unmittelbarkeit des Erlebens, so dramatisch es sich darstellte und darstellt, und so beklommen es einen auch macht. Und von der Direktheit seiners Autors, den der Gedanke an die Vermeidbarkeit der Mordnacht plagt: „Ich checke das einfach nicht, wie irgendwelche Öko-Kids, die sich für das Klima einsetzen, in Präventivhaft genommen werden können, aber der Typ unterm Radar durchfliegen konnte. Monatelang. Eigentlich jahrelang. Der eigenständig auf diese Behörden zuging, denen seinen Wahnsinn auf dem Silbertablett servierte, und wo es am Ende nur hieß: uninteressant, weitergehen. Nur leider haben die entscheidenden Personen mal wieder irgendwie verpasst, richtig hinzuhören und hinzusehen, haben nicht erkannt, was gar nicht so unklar vor ihnen lag. Sie hatten ihre Antennen gekappt, als dieser Mast sendete und sendete und sendete.“
„Der Tag, an dem ich sterben sollte“: Ein Buch der Hoffnung
Said Etris Hashemis „Der Tag, an dem ich sterben sollte“ zeigt die dunkelsten Seiten unserer Gesellschaft. Gleichzeitig ist es ein Buch der Hoffnung und das leuchtende Dokument eines Mannes, der den Glauben daran, dass die Welt eine bessere werden kann, nicht aufgegeben hat. Hashemi berichtet auch von seinem Leben als Überlebender und Botschafter gegen Rassismus und Diskriminierung, der mit Politgrößen wie Frank-Walter Steinmeier spricht und die Handynummer von Innenministerin Nancy Faeser hat.
„Wenn ich später mal neue Leute kennenlernte, würde das immer Teil meiner Geschichte sein. Wie konnte ich jemals wieder über mein Leben sprechen, ohne auch darüber zu sprechen? Aber wie sollte ich darüber sprechen?“, fragt sich Said Etris Hashemi. Was Letzteres angeht – nun, warum nicht wie in diesem bemerkenswerten Buch.