Hamburg. Der norwegische Autor ist zum Star geworden. Jetzt erscheint der letzte Band. Abendblatt-Redakeure und ihre Erfahrungen mit ihm.
„Ich bin ein Ingenieur der Seele“, sagt Karl Ove Knausgård einmal zu seinem Freund Geir. Eben hat er, der große Selbstentblößer, dem Leser mitgeteilt, wie er über das Geländer seines Balkons gerotzt hat. Schon das wurde von Geir, der auch Schriftsteller ist, ironisch kommentiert. Und jetzt erklärt er, den Gefährten foppend, dass Knausgårds Selbstbeschreibung „das Selbstgefälligste“ ist, was er seit Langem gehört habe – „du bist ein Müllmann der Seele“. Wir springen Knausgård, dem so radikalen wie geliebten Top-Autor der Gegenwart, zur Seite und erklären ihn tatsächlich: zu einem Kenner der Seele.
Zuvorderst der eigenen, denn sein autobiografisches Projekt, das nun mit dem jetzt erscheinenden sechsten Band „Kämpfen“ auch auf Deutsch vollständig vorliegt, handelt ja vor allem von ihm selbst, vom gewaltigsten Literatur-Ego der Gegenwart. Auf Tausenden von Seiten haben die Leser mit den Leiden des jungen und nicht mehr so jungen K. gefühlt. Haben jeden Schritt seiner mentalen Deformierung durch den Vater nachvollzogen und seine Schriftstellerwerdung, haben halbwegs verstanden, wie kompliziert Ehe- und Familienleben sind. Knausgård-Lesen ist auch eine permanente Selbstbefragung.
400 Seiten Hitler
Der letzte Band ist ein Stück totaler Literatur: Von den mehr als 1200 Seiten entfallen alleine 400 auf ein Essay über Hitler, mit dem uns Knausgård zwar nichts Neues erzählt, aber als bemerkenswerter Sachtext-Stilist gegenübertritt. In den üppig bemessenen Reflexionen widmet sich der Schriftsteller, der zuletzt auch für den Literaturnobelpreis im Gespräch gewesen ist, Fragen der Identität, der Wechselwirkung von Erinnerung und Schreiben und seiner Lektüre etwa von Paul Celan, Kafka und James Joyce.
Aber der bei ihm berühmt gewordene Sog des Banalen und Alltäglichen, der entfaltet sich erst, wenn es um ihn geht, um den Sohn, den Familienvater und Ehemann („Das Himmlische verging, und alles andere begann“). Und man liest gebannt, was sich um die Veröffentlichung der „Min kamp“-Bücher abspielte, wie sehr gerade am Anfang alles auf der Kippe stand, als Knausgårds Onkel, tief gekränkt, mit einer Klage vor Gericht drohte. Mit einem Teil der Verwandtschaft verscherzte er es sich. Der Preis, der zu zahlen war für Weltliteratur. Schreiben heiße, erläutert Knausgård, „sich selbst zu verlieren oder sein Selbst“. Danke, Karl Ove, für alles, war anstrengend, aber auch schön mit dir.
Das meint die Abendblatt-Redaktion zum neuen Knausgård
Frauen dieser Welt, schaut auf diesen Mann
Vor allem mit „Sterben“, dem ersten Band, haben sich viele Frauen, die ich kenne, schwergetan. „Das ist eher was für Männer“, sagte beispielsweise meine Mutter. Die könnten dieses Vater-Sohn-Ding besser nachvollziehen. Ich hingegen konnte zwar diesen Einwand nachvollziehen, persönlich sehe ich es aber anders: Mehr als 4500 Seiten aus erster Hand über die männliche Gedanken- und Gefühlswelt – wo sonst kann man als Frau einem Mann einmal so intensiv in den Kopf gucken? Darum habe ich auch nicht wie viele Frauen mit „Lieben“, in dem es um seine Frau und Kinder geht, einen Lieblingsband. Ich mag es, Knausgård in allen Facetten kennenzulernen, über ihn zu staunen (oft), mich über ihn zu ärgern (öfter) und mit ihm zu leiden (ständig). Ich bin fasziniert von diesem Mann, seiner Schreibe und, seit einer Lesung, seiner Stimme (sein Aussehen erwähnen interessanterweise meist Männer). Am schönsten ist aber die Erkenntnis, dass die Männer, die ich im wahren Leben kenne, ganz anders sind als er. Jule Bleyer
Man will wissen, wie es mit ihm weitergeht
Was soll man machen, wenn man zum Geburtstag gleich zwei Bände von diesem Schriftsteller bekommt, von dem viele sagen, er sei ein wenig schwierig. Man fängt halt an zu lesen. Und liest sich gleich fest im ersten Band „Sterben“. Diese Kindheit in der Pampa mit all den Unsicherheiten – das Ständig-mehr-Wollen, als man aufgrund seines Alters darf, das unglückliche Verliebtsein, das ständige Streben nach dem Coolsein, kommt einem sehr bekannt vor. Und Knausgårds schwieriges Verhältnis zum Vater – das haben Mädchen auch mit Müttern. Aber ganz ehrlich: So richtig sympathisch kommt dieser Norweger wirklich nicht rüber. Trotzdem will ich wissen, wie es weitergeht, wie er sein Leben geregelt kriegt. Und wie wenig er das Familienleben in „Lieben“ beschönigt, beeindruckt mich. Band drei liegt schon bereit. Elisabeth Jessen
Reden über Knausgård: Den! Musst! Du! Lesen!
Über Knausgårds Bücher reden ist wie zu Architektur tanzen, oder so. Oder aber so (die möglichen Zwischen-Antworten in diesem Monolog einfach nach Belieben mitdenken): Lies den mal. Ist toll. Wirklich. Passsiert nichts, eigentlich, aber dann doch. Der Wahnsinn. Dass das Buch so dick ist, merkt man gar nicht. Das atmet man so ein, im Stück. Literatur-Crack. Nach 30 Seiten bist du druff. Mehr sag ich nicht. Musst du lesen, wirst du merken. Über Knausgards Beichten kann man reden, über Knausgårds Detailwahn als Befindlichkeitsbiograf gibt es viel zu sagen. Man muss aber gar nicht. Lesen genügt. Denn sein lakonischer, angstbefreiter Schreibstil, diese manische Offenheit, mit der er sich und andere so entblößt, dass man es kaum glauben kann? Bewundernswert. Beneidenswert. (Joachim Mischke)
Pflichtlektüre für Ottenser
„Knausomanie“, ein wirklich unelegantes Wort. Aber dass man auch hierzulande wie verrückt ist nach einem „Roman“-Zyklus, der (im Original) ausgerechnet „Mein Kampf“ heißt, tja, wer hätte das gedacht. Die Folge: „Binge-Reading“, alles am Stück, Serien-Süchtige kennen das. Einstiegsdroge für alle, die mit kleinen Kindern in gentrifizierten Vierteln wohnen: die detailgenaue Beschreibung eines total durchschnittlichen Kindergeburtstags in „Lieben“. Schonungsloser kann man nicht verständlich machen, was Eltern-Sein heute bedeutet, in Malmö wie in Ottensen. Banale Unendlichkeit des Alltags, andere Eltern, die Vaterrolle. Seitenweise geht das so, man könnte jetzt nicht mal eine Pointe zitieren. Knausgård lebt und schreibt das auf. Nichts ist daran cool, nichts überhöht, es ist nicht mal besonders verdichtet. Nur randvoll mit bitterkomischer Wahrheit. Maike Schiller
Wenn das Herz bis zum Hals schlägt
Das eigene Leben nachlesen, jedenfalls einen Teil davon, das geht für alle, die im Deutschland der 60er geboren wurden, mit den akribisch recherchierten, lakonisch aufgeschriebenen Zeitreisen von Gerhard Henschel. Doch wenn das Herz auch mal bis zum Halse schlagen soll, weil plötzlich das Gefühl von damals wieder da ist, weil es genau so war, dann muss es Karl Ove Knausgård sein. Die verzweifelte Verliebtheit in Hanne, die leider beste Freundin bleiben wird, die Begeisterung für Musik, die jede Krone Taschengeld aufzehrt, das Hin-und-her-gerissen-Sein zwischen der Liebe zu den eigenen Kindern und einem schlicht unbezwingbaren Freiheitsdrang: Knausgård schreibt auf, was andere kaum zu denken wagen. Ohne Rücksicht auf Verluste, gnadenlos auch gegen sich selbst. (Holger True)
Literaturposterboy und Starautor unserer Zeit
Ist Karl Ove Knausgård ein Autor für die Massen? In Norwegen vielleicht, seiner Heimat. Und in Schweden, wo er lebt. Aber eigentlich auch nicht wirklich: Knausgård, der notorisch Suchende und Unsichere, ist ein Autor für das (Bildungs-)Bürgertum. Aber da wird er gelesen wie verrückt. In Oslo, Kopenhagen, New York, Berlin, München und Hamburg, bei uns manchmal ebenso notorisch Suchenden und Unsicheren. Und weil Knausgård nicht nur von uns allen schreibt, sondern für einen Schriftsteller auch verwegen aussieht, weil seine Bücher sogar skandalträchtig sind, ist er wohl das, was man einen Literaturstar nennt – einen Mann mit Charisma, eine Erscheinung, ein echtes Ereignis. Er könnte auch Frontmann einer Band sein. Ich mag den Hype um ihn, seine hohen Kurse an der Aufmerksamkeitsbörse. Die stille, leise Literatur braucht so was manchmal, und das Erfolgsgeheimnis ihres neuen Bannerträgers ist die Geheimnislosigkeit. Thomas Andre
Der Knausgård-Trick: Nicht auf Jon Fosse hören
Als Knausgård noch nicht der berühmteste norwegische Schriftsteller war, hat er natürlich auch schon geschrieben. Den Lesern in Deutschland stellte er sich 2007 mit „Alles hat seine Zeit“ vor, einem Buch über Engel. Schon damals beherrschte er den Knausgård-Trick: Man kam von seinem Text nicht wieder los, ohne genau zu wissen, warum. „Weltliteratur“, behauptete der Norwegische Rundfunk schon damals. Knausgårds Vorgänger als berühmtester norwegischer Autor war zugleich sein Lehrer: Jon Fosse. Er habe seinen Schülern beigebracht, auf keinen Fall auf eigene Erfahrungen zurückzugreifen, wenn man schreibe, erzählte er. „Karl Ove hat genau das Gegenteil von dem getan, was sein Lehrer ihm gesagt hat. Er war also irgendwie auch ein guter Schüler“, so Fosse. Volker Behrens
Knausgårds Leben
„Kämpfen“ heißt der letzte Band des autobiografischen Zyklus, der in Norwegen 2009 (drei Bände), 2010 (zwei Bände) und 2011 erschien. Karl Ove Knausgård katapultierte sich mit den zwischen dem Trivialen, der Entschleunigung und der mehr oder minder kompletten Offenlegung seiner Gefühlswelt handelnden Titeln in die Weltliteratur. Er wurde in 30 Sprachen übersetzt. „Kämpfen“ (übers. von Paul Berf und Ulrich Sonnenberg, Luchterhand, 29 Euro) ist mit 1280 Seiten der dickste Band der Ego-Saga.